Kompaß richten; gingen wir aber weiter nordwärts, so liefen wir bei jedem Schritt Gefahr, an den Rand der ungeheuren Felswand zu gelangen, die fast senkrecht 1950 m hoch zum Meere abfällt. Wir mußten Halt machen; und wie so die Wolken um uns her über den Boden wegzogen, fingen wir an zu zweifeln, ob wir vor Einbruch der Nacht auf die öst- liche Spitze gelangen könnten. Glücklicherweise waren in- zwischen die Neger, die das Wasser und den Mundvorrat trugen, eingetroffen, und wir beschlossen, etwas zu uns zu nehmen; aber unsere Mahlzeit dauerte nicht lange. Sei es nun, daß der Pater Kapuziner nicht an unsere vielen Begleiter gedacht, oder daß die Sklaven sich über den Vorrat hergemacht hatten, wir fanden nichts als Oliven und fast kein Brot. Das Mahl, dessen Lob Horaz in seinem Tibur singt,1 war nicht leichter und frugaler; an Oliven mochte sich aber immer- hin ein stillsitzender, studierender Poet sättigen, für Berg- steiger waren sie eine kärgliche Kost. Wir hatten die ver- gangene Nacht fast ganz durchwacht, und waren jetzt seit neun Stunden auf den Beinen, ohne Wasser angetroffen zu haben. Unsere Führer hatten den Mut verloren, sie wollten durchaus umkehren, und Bonpland und ich hielten sie nur mit Mühe zurück.
Mitten im Nebel machte ich den Versuch mit dem Volta- schen Elektrometer. Obgleich ich ganz nahe an den dicht ge- drängten Helikonien stand, erhielt ich deutliche Spuren von Luftelektrizität. Sie wechselte oft zwischen negativ und positiv und ihre Intensität war jeden Augenblick anders. Diese Schwankungen und mehrere kleine entgegengesetzte Luftströ- mungen, die den Nebel zerteilten und zu scharf begrenzten Wolken ballten, schienen mir untrügliche Zeichen, daß das Wetter sich ändern wollte. Es war erst 2 Uhr Nachmittag. Wir hofften immer noch vor Sonnenuntergang auf die östliche Spitze der Silla gelangen und wieder in das Thal zwischen beiden Gipfeln herabkommen zu können. Hier wollten wir von den Negern aus den breiten dünnen Blättern der Heli- konia eine Hütte bauen lassen, ein großes Feuer anzünden und die Nacht zubringen. Wir schickten die Hälfte unserer Leute fort, mit der Weisung, uns am anderen Morgen nicht mit Oliven, sondern mit gesalzenem Fleische entgegen- zukommen.
1 Oden, Buch I, 31.
Kompaß richten; gingen wir aber weiter nordwärts, ſo liefen wir bei jedem Schritt Gefahr, an den Rand der ungeheuren Felswand zu gelangen, die faſt ſenkrecht 1950 m hoch zum Meere abfällt. Wir mußten Halt machen; und wie ſo die Wolken um uns her über den Boden wegzogen, fingen wir an zu zweifeln, ob wir vor Einbruch der Nacht auf die öſt- liche Spitze gelangen könnten. Glücklicherweiſe waren in- zwiſchen die Neger, die das Waſſer und den Mundvorrat trugen, eingetroffen, und wir beſchloſſen, etwas zu uns zu nehmen; aber unſere Mahlzeit dauerte nicht lange. Sei es nun, daß der Pater Kapuziner nicht an unſere vielen Begleiter gedacht, oder daß die Sklaven ſich über den Vorrat hergemacht hatten, wir fanden nichts als Oliven und faſt kein Brot. Das Mahl, deſſen Lob Horaz in ſeinem Tibur ſingt,1 war nicht leichter und frugaler; an Oliven mochte ſich aber immer- hin ein ſtillſitzender, ſtudierender Poet ſättigen, für Berg- ſteiger waren ſie eine kärgliche Koſt. Wir hatten die ver- gangene Nacht faſt ganz durchwacht, und waren jetzt ſeit neun Stunden auf den Beinen, ohne Waſſer angetroffen zu haben. Unſere Führer hatten den Mut verloren, ſie wollten durchaus umkehren, und Bonpland und ich hielten ſie nur mit Mühe zurück.
Mitten im Nebel machte ich den Verſuch mit dem Volta- ſchen Elektrometer. Obgleich ich ganz nahe an den dicht ge- drängten Helikonien ſtand, erhielt ich deutliche Spuren von Luftelektrizität. Sie wechſelte oft zwiſchen negativ und poſitiv und ihre Intenſität war jeden Augenblick anders. Dieſe Schwankungen und mehrere kleine entgegengeſetzte Luftſtrö- mungen, die den Nebel zerteilten und zu ſcharf begrenzten Wolken ballten, ſchienen mir untrügliche Zeichen, daß das Wetter ſich ändern wollte. Es war erſt 2 Uhr Nachmittag. Wir hofften immer noch vor Sonnenuntergang auf die öſtliche Spitze der Silla gelangen und wieder in das Thal zwiſchen beiden Gipfeln herabkommen zu können. Hier wollten wir von den Negern aus den breiten dünnen Blättern der Heli- konia eine Hütte bauen laſſen, ein großes Feuer anzünden und die Nacht zubringen. Wir ſchickten die Hälfte unſerer Leute fort, mit der Weiſung, uns am anderen Morgen nicht mit Oliven, ſondern mit geſalzenem Fleiſche entgegen- zukommen.
1 Oden, Buch I, 31.
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Kompaß richten; gingen wir aber weiter nordwärts, ſo liefen
wir bei jedem Schritt Gefahr, an den Rand der ungeheuren
Felswand zu gelangen, die faſt ſenkrecht 1950 m hoch zum
Meere abfällt. Wir mußten Halt machen; und wie ſo die
Wolken um uns her über den Boden wegzogen, fingen wir
an zu zweifeln, ob wir vor Einbruch der Nacht auf die öſt-
liche Spitze gelangen könnten. Glücklicherweiſe waren in-
zwiſchen die Neger, die das Waſſer und den Mundvorrat
trugen, eingetroffen, und wir beſchloſſen, etwas zu uns zu
nehmen; aber unſere Mahlzeit dauerte nicht lange. Sei es
nun, daß der Pater Kapuziner nicht an unſere vielen Begleiter
gedacht, oder daß die Sklaven ſich über den Vorrat hergemacht
hatten, wir fanden nichts als Oliven und faſt kein Brot.
Das Mahl, deſſen Lob Horaz in ſeinem Tibur ſingt, 1 war
nicht leichter und frugaler; an Oliven mochte ſich aber immer-
hin ein ſtillſitzender, ſtudierender Poet ſättigen, für Berg-
ſteiger waren ſie eine kärgliche Koſt. Wir hatten die ver-
gangene Nacht faſt ganz durchwacht, und waren jetzt ſeit
neun Stunden auf den Beinen, ohne Waſſer angetroffen zu
haben. Unſere Führer hatten den Mut verloren, ſie wollten
durchaus umkehren, und Bonpland und ich hielten ſie nur
mit Mühe zurück.
Mitten im Nebel machte ich den Verſuch mit dem Volta-
ſchen Elektrometer. Obgleich ich ganz nahe an den dicht ge-
drängten Helikonien ſtand, erhielt ich deutliche Spuren von
Luftelektrizität. Sie wechſelte oft zwiſchen negativ und poſitiv
und ihre Intenſität war jeden Augenblick anders. Dieſe
Schwankungen und mehrere kleine entgegengeſetzte Luftſtrö-
mungen, die den Nebel zerteilten und zu ſcharf begrenzten
Wolken ballten, ſchienen mir untrügliche Zeichen, daß das
Wetter ſich ändern wollte. Es war erſt 2 Uhr Nachmittag.
Wir hofften immer noch vor Sonnenuntergang auf die öſtliche
Spitze der Silla gelangen und wieder in das Thal zwiſchen
beiden Gipfeln herabkommen zu können. Hier wollten wir
von den Negern aus den breiten dünnen Blättern der Heli-
konia eine Hütte bauen laſſen, ein großes Feuer anzünden
und die Nacht zubringen. Wir ſchickten die Hälfte unſerer
Leute fort, mit der Weiſung, uns am anderen Morgen
nicht mit Oliven, ſondern mit geſalzenem Fleiſche entgegen-
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1 Oden, Buch I, 31.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/145>, abgerufen am 15.08.2024.
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