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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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jetzt als Wirkungen der Brechung des Sternlichtes angesehen
hat. Ich war bei Sonnenaufgang und die ganze Nacht in
4092 m Höhe auf dem Rücken der Anden, in Antisana,
konnte aber nichts gewahr werden, was mit jenem Phänomen
übereingekommen wäre.

Ich wünschte in so bedeutender Höhe wie die, welche wir
am Pik von Tenerifa erreicht hatten, den Moment des Sonnen-
aufganges genau zu beobachten. Kein mit Instrumenten ver-
sehener Reisender hatte noch eine solche Beobachtung angestellt.
Ich hatte ein Fernrohr und ein Chronometer, dessen Gang
mir sehr genau bekannt war. Der Himmelsstrich, wo die
Sonnenscheibe erscheinen sollte, war dunstfrei. Wir sahen
den obersten Rand um 4 Uhr 48' 55" wahrer Zeit, und,
was ziemlich auffallend ist, der erste Lichtpunkt der Scheibe
berührte unmittelbar die Grenze des Horizontes; wir sahen
demnach den wahren Horizont, das heißt einen Strich Meers
auf mehr als 152,5 km Entfernung. Die Rechnung ergibt,
daß unter dieser Breite in der Ebene die Sonne um 5 Uhr
1 Minute 50 Sekunden, oder 11 Minuten 51,3 Sekunden
später als auf dem Pik hätte anfangen sollen aufzugehen.
Der beobachtete Unterschied betrug 12 Minuten 55 Sekunden,
und dies kommt ohne Zweifel von der Ungewißheit hinsichtlich
der Refraktionsverhältnisse für einen Abstand vom Zenith,
wofür keine Beobachtungen vorliegen. 1

Wir wunderten uns, wie ungemein langsam der untere
Rand der Sonne sich vom Horizont zu lösen schien. Dieser
Rand wurde erst um 4 Uhr 56 Minuten 56 Sekunden sichtbar.
Die stark abgeplattete Sonnenscheibe war scharf begrenzt; es
zeigte sich während des Aufganges weder ein doppeltes Bild
noch eine Verlängerung des unteren Randes. Der Sonnen-
aufgang dauerte dreimal länger, als wir in dieser Breite

1 In der Rechnung wurden für 91° 54' scheinbaren Abstandes
vom Zenith 57' 7" Refraktion angenommen. Die Sonne erscheint
bei ihrem Aufgang auf dem Pik von Tenerifa um so viel früher,
als sie braucht, um einen Bogen von 0° 54' zurückzulegen. Für
den Gipfel des Chimborazo nimmt dieser Bogen nur um 41' zu.
Die Alten hatten so übertriebene Vorstellungen von der Beschleuni-
gung des Sonnenaufganges auf dem Gipfel hoher Berge, daß sie
behaupteten, die Sonne sei auf dem Berg Athos 3 Stunden früher
sichtbar, als am Ufer des Aegeischen Meeres. (Strabo, Buch VII.)
Und doch ist der Athos nach Delambre nur 1390 m hoch.

jetzt als Wirkungen der Brechung des Sternlichtes angeſehen
hat. Ich war bei Sonnenaufgang und die ganze Nacht in
4092 m Höhe auf dem Rücken der Anden, in Antiſana,
konnte aber nichts gewahr werden, was mit jenem Phänomen
übereingekommen wäre.

Ich wünſchte in ſo bedeutender Höhe wie die, welche wir
am Pik von Tenerifa erreicht hatten, den Moment des Sonnen-
aufganges genau zu beobachten. Kein mit Inſtrumenten ver-
ſehener Reiſender hatte noch eine ſolche Beobachtung angeſtellt.
Ich hatte ein Fernrohr und ein Chronometer, deſſen Gang
mir ſehr genau bekannt war. Der Himmelsſtrich, wo die
Sonnenſcheibe erſcheinen ſollte, war dunſtfrei. Wir ſahen
den oberſten Rand um 4 Uhr 48′ 55″ wahrer Zeit, und,
was ziemlich auffallend iſt, der erſte Lichtpunkt der Scheibe
berührte unmittelbar die Grenze des Horizontes; wir ſahen
demnach den wahren Horizont, das heißt einen Strich Meers
auf mehr als 152,5 km Entfernung. Die Rechnung ergibt,
daß unter dieſer Breite in der Ebene die Sonne um 5 Uhr
1 Minute 50 Sekunden, oder 11 Minuten 51,3 Sekunden
ſpäter als auf dem Pik hätte anfangen ſollen aufzugehen.
Der beobachtete Unterſchied betrug 12 Minuten 55 Sekunden,
und dies kommt ohne Zweifel von der Ungewißheit hinſichtlich
der Refraktionsverhältniſſe für einen Abſtand vom Zenith,
wofür keine Beobachtungen vorliegen. 1

Wir wunderten uns, wie ungemein langſam der untere
Rand der Sonne ſich vom Horizont zu löſen ſchien. Dieſer
Rand wurde erſt um 4 Uhr 56 Minuten 56 Sekunden ſichtbar.
Die ſtark abgeplattete Sonnenſcheibe war ſcharf begrenzt; es
zeigte ſich während des Aufganges weder ein doppeltes Bild
noch eine Verlängerung des unteren Randes. Der Sonnen-
aufgang dauerte dreimal länger, als wir in dieſer Breite

1 In der Rechnung wurden für 91° 54′ ſcheinbaren Abſtandes
vom Zenith 57′ 7″ Refraktion angenommen. Die Sonne erſcheint
bei ihrem Aufgang auf dem Pik von Tenerifa um ſo viel früher,
als ſie braucht, um einen Bogen von 0° 54′ zurückzulegen. Für
den Gipfel des Chimborazo nimmt dieſer Bogen nur um 41′ zu.
Die Alten hatten ſo übertriebene Vorſtellungen von der Beſchleuni-
gung des Sonnenaufganges auf dem Gipfel hoher Berge, daß ſie
behaupteten, die Sonne ſei auf dem Berg Athos 3 Stunden früher
ſichtbar, als am Ufer des Aegeiſchen Meeres. (Strabo, Buch VII.)
Und doch iſt der Athos nach Delambre nur 1390 m hoch.
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[83/0099] jetzt als Wirkungen der Brechung des Sternlichtes angeſehen hat. Ich war bei Sonnenaufgang und die ganze Nacht in 4092 m Höhe auf dem Rücken der Anden, in Antiſana, konnte aber nichts gewahr werden, was mit jenem Phänomen übereingekommen wäre. Ich wünſchte in ſo bedeutender Höhe wie die, welche wir am Pik von Tenerifa erreicht hatten, den Moment des Sonnen- aufganges genau zu beobachten. Kein mit Inſtrumenten ver- ſehener Reiſender hatte noch eine ſolche Beobachtung angeſtellt. Ich hatte ein Fernrohr und ein Chronometer, deſſen Gang mir ſehr genau bekannt war. Der Himmelsſtrich, wo die Sonnenſcheibe erſcheinen ſollte, war dunſtfrei. Wir ſahen den oberſten Rand um 4 Uhr 48′ 55″ wahrer Zeit, und, was ziemlich auffallend iſt, der erſte Lichtpunkt der Scheibe berührte unmittelbar die Grenze des Horizontes; wir ſahen demnach den wahren Horizont, das heißt einen Strich Meers auf mehr als 152,5 km Entfernung. Die Rechnung ergibt, daß unter dieſer Breite in der Ebene die Sonne um 5 Uhr 1 Minute 50 Sekunden, oder 11 Minuten 51,3 Sekunden ſpäter als auf dem Pik hätte anfangen ſollen aufzugehen. Der beobachtete Unterſchied betrug 12 Minuten 55 Sekunden, und dies kommt ohne Zweifel von der Ungewißheit hinſichtlich der Refraktionsverhältniſſe für einen Abſtand vom Zenith, wofür keine Beobachtungen vorliegen. 1 Wir wunderten uns, wie ungemein langſam der untere Rand der Sonne ſich vom Horizont zu löſen ſchien. Dieſer Rand wurde erſt um 4 Uhr 56 Minuten 56 Sekunden ſichtbar. Die ſtark abgeplattete Sonnenſcheibe war ſcharf begrenzt; es zeigte ſich während des Aufganges weder ein doppeltes Bild noch eine Verlängerung des unteren Randes. Der Sonnen- aufgang dauerte dreimal länger, als wir in dieſer Breite 1 In der Rechnung wurden für 91° 54′ ſcheinbaren Abſtandes vom Zenith 57′ 7″ Refraktion angenommen. Die Sonne erſcheint bei ihrem Aufgang auf dem Pik von Tenerifa um ſo viel früher, als ſie braucht, um einen Bogen von 0° 54′ zurückzulegen. Für den Gipfel des Chimborazo nimmt dieſer Bogen nur um 41′ zu. Die Alten hatten ſo übertriebene Vorſtellungen von der Beſchleuni- gung des Sonnenaufganges auf dem Gipfel hoher Berge, daß ſie behaupteten, die Sonne ſei auf dem Berg Athos 3 Stunden früher ſichtbar, als am Ufer des Aegeiſchen Meeres. (Strabo, Buch VII.) Und doch iſt der Athos nach Delambre nur 1390 m hoch.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/99>, abgerufen am 29.03.2024.