treffliche Weide bieten, sind völlig ohne Baum und Busch- werk. Es ist dies das eigentliche Bereich der Monokotyledo- nen, denn aus dem Grase erhebt sich nur da und dort eine Agave1 (Maguey), deren Blütenschaft über 8,5 m hoch wird. Auf der Hochebene von Guardia sahen wir uns wie auf einen alten, vom langen Aufenthalt des Wassers wagerecht geebneten Seeboden versetzt. Man meint noch die Krümmungen des alten Ufers zu erkennen, die vorspringenden Landzungen, die steilen Klippen, welche Eilande gebildet. Auf diesen früheren Zustand scheint selbst die Verteilung der Gewächse hinzu- deuten. Der Boden des Beckens ist eine Savanne, während die Ränder mit hochstämmigen Bäumen bewachsen sind. Es ist wahrscheinlich das höchst gelegene Thal in den Provinzen Cumana und Venezuela. Man kann bedauern, daß ein Land- strich, wo man eines gemäßigten Klimas genießt, und der sich ohne Zweifel zum Getreidebau eignete, völlig unbewohnt ist.
Von dieser Ebene geht es fortwährend abwärts bis zum indianischen Dorfe Santa Cruz. Man kommt zuerst über einen jähen glatten Abhang, den die Missionäre seltsamerweise das Fegefeuer nennen. Er besteht aus verwittertem, mit Thon bedecktem Schiefersandstein und die Böschung scheint furcht- bar steil; denn infolge einer sehr gewöhnlichen optischen Täuschung scheint der Weg, wenn man oben auf der Anhöhe hinuntersieht, unter einem Winkel von mehr als 60° geneigt. Beim Hinabsteigen nähern die Maultiere die Hinterbeine den Vorderbeinen, senken das Kreuz und rutschen aufs Geratewohl hinab. Der Reiter hat nichts zu befahren, wenn er nur den Zügel fahren läßt und dem Tiere keinerlei Zwang anthut. An diesem Punkte sieht man zur Linken die große Pyramide des Guacharo. Dieser Kalksteinkegel nimmt sich sehr malerisch aus, man verliert ihn aber bald wieder aus dem Gesicht, wenn man den dicken Wald betritt, der unter dem Namen Mon- tanna de Santa Maria bekannt ist. Es geht nun sieben Stunden lang in einem fort abwärts, und kaum kann man sich einen entsetzlicheren Weg denken; es ist ein eigentlicher "chemin des echelles", eine Art Schlucht, in der während der Regenzeit die wilden Wasser von Fels zu Fels abwärts stürzen. Die Stufen sind 0,6 bis 1 m hoch, und die armen Lasttiere messen erst den Raum ab, der erforderlich ist, um die Ladung zwischen den Baumstämmen durchzubringen, und
1Agave americana.
treffliche Weide bieten, ſind völlig ohne Baum und Buſch- werk. Es iſt dies das eigentliche Bereich der Monokotyledo- nen, denn aus dem Graſe erhebt ſich nur da und dort eine Agave1 (Maguey), deren Blütenſchaft über 8,5 m hoch wird. Auf der Hochebene von Guardia ſahen wir uns wie auf einen alten, vom langen Aufenthalt des Waſſers wagerecht geebneten Seeboden verſetzt. Man meint noch die Krümmungen des alten Ufers zu erkennen, die vorſpringenden Landzungen, die ſteilen Klippen, welche Eilande gebildet. Auf dieſen früheren Zuſtand ſcheint ſelbſt die Verteilung der Gewächſe hinzu- deuten. Der Boden des Beckens iſt eine Savanne, während die Ränder mit hochſtämmigen Bäumen bewachſen ſind. Es iſt wahrſcheinlich das höchſt gelegene Thal in den Provinzen Cumana und Venezuela. Man kann bedauern, daß ein Land- ſtrich, wo man eines gemäßigten Klimas genießt, und der ſich ohne Zweifel zum Getreidebau eignete, völlig unbewohnt iſt.
Von dieſer Ebene geht es fortwährend abwärts bis zum indianiſchen Dorfe Santa Cruz. Man kommt zuerſt über einen jähen glatten Abhang, den die Miſſionäre ſeltſamerweiſe das Fegefeuer nennen. Er beſteht aus verwittertem, mit Thon bedecktem Schieferſandſtein und die Böſchung ſcheint furcht- bar ſteil; denn infolge einer ſehr gewöhnlichen optiſchen Täuſchung ſcheint der Weg, wenn man oben auf der Anhöhe hinunterſieht, unter einem Winkel von mehr als 60° geneigt. Beim Hinabſteigen nähern die Maultiere die Hinterbeine den Vorderbeinen, ſenken das Kreuz und rutſchen aufs Geratewohl hinab. Der Reiter hat nichts zu befahren, wenn er nur den Zügel fahren läßt und dem Tiere keinerlei Zwang anthut. An dieſem Punkte ſieht man zur Linken die große Pyramide des Guacharo. Dieſer Kalkſteinkegel nimmt ſich ſehr maleriſch aus, man verliert ihn aber bald wieder aus dem Geſicht, wenn man den dicken Wald betritt, der unter dem Namen Mon- taña de Santa Maria bekannt iſt. Es geht nun ſieben Stunden lang in einem fort abwärts, und kaum kann man ſich einen entſetzlicheren Weg denken; es iſt ein eigentlicher „chemin des échelles“, eine Art Schlucht, in der während der Regenzeit die wilden Waſſer von Fels zu Fels abwärts ſtürzen. Die Stufen ſind 0,6 bis 1 m hoch, und die armen Laſttiere meſſen erſt den Raum ab, der erforderlich iſt, um die Ladung zwiſchen den Baumſtämmen durchzubringen, und
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nen, denn aus dem Graſe erhebt ſich nur da und dort eine
Agave 1 (Maguey), deren Blütenſchaft über 8,5 m hoch wird.
Auf der Hochebene von Guardia ſahen wir uns wie auf einen
alten, vom langen Aufenthalt des Waſſers wagerecht geebneten
Seeboden verſetzt. Man meint noch die Krümmungen des
alten Ufers zu erkennen, die vorſpringenden Landzungen, die
ſteilen Klippen, welche Eilande gebildet. Auf dieſen früheren
Zuſtand ſcheint ſelbſt die Verteilung der Gewächſe hinzu-
deuten. Der Boden des Beckens iſt eine Savanne, während
die Ränder mit hochſtämmigen Bäumen bewachſen ſind. Es
iſt wahrſcheinlich das höchſt gelegene Thal in den Provinzen
Cumana und Venezuela. Man kann bedauern, daß ein Land-
ſtrich, wo man eines gemäßigten Klimas genießt, und der ſich
ohne Zweifel zum Getreidebau eignete, völlig unbewohnt iſt.
Von dieſer Ebene geht es fortwährend abwärts bis zum
indianiſchen Dorfe Santa Cruz. Man kommt zuerſt über einen
jähen glatten Abhang, den die Miſſionäre ſeltſamerweiſe das
Fegefeuer nennen. Er beſteht aus verwittertem, mit Thon
bedecktem Schieferſandſtein und die Böſchung ſcheint furcht-
bar ſteil; denn infolge einer ſehr gewöhnlichen optiſchen
Täuſchung ſcheint der Weg, wenn man oben auf der Anhöhe
hinunterſieht, unter einem Winkel von mehr als 60° geneigt.
Beim Hinabſteigen nähern die Maultiere die Hinterbeine den
Vorderbeinen, ſenken das Kreuz und rutſchen aufs Geratewohl
hinab. Der Reiter hat nichts zu befahren, wenn er nur den
Zügel fahren läßt und dem Tiere keinerlei Zwang anthut.
An dieſem Punkte ſieht man zur Linken die große Pyramide
des Guacharo. Dieſer Kalkſteinkegel nimmt ſich ſehr maleriſch
aus, man verliert ihn aber bald wieder aus dem Geſicht, wenn
man den dicken Wald betritt, der unter dem Namen Mon-
taña de Santa Maria bekannt iſt. Es geht nun ſieben
Stunden lang in einem fort abwärts, und kaum kann man
ſich einen entſetzlicheren Weg denken; es iſt ein eigentlicher
„chemin des échelles“, eine Art Schlucht, in der während
der Regenzeit die wilden Waſſer von Fels zu Fels abwärts
ſtürzen. Die Stufen ſind 0,6 bis 1 m hoch, und die armen
Laſttiere meſſen erſt den Raum ab, der erforderlich iſt, um
die Ladung zwiſchen den Baumſtämmen durchzubringen, und
1 Agave americana.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/294>, abgerufen am 22.07.2024.
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