bare Gewächse, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen, obgleich sie den Menschen seit uralter Zeit auf seinen Wan- derungen begleitet haben.
Wenn ein eben aus Europa angekommener Reisender zum erstenmal die Wälder Südamerikas betritt, so hat er ein ganz unerwartetes Naturbild vor sich. Alles, was er sieht, erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte Schriftsteller an den Ufern des Mississippi, in Florida und in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er sich nicht an den Grenzen der heißen Zone befindet, sondern mitten darin, nicht auf einer der Antillischen Inseln, sondern auf einem gewaltigen Kontinent, wo alles riesenhaft ist, Berge, Ströme und Pflanzen- massen. Hat er Sinn für landschaftliche Schönheit, so weiß er sich von seinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen- schaft zu geben. Er weiß nicht zu sagen, was mehr sein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einsamkeit, oder die Schönheit der einzelnen Gestalten und ihre Kontraste, oder die Kraft und Fülle des vegetabilischen Lebens. Es ist als hätte der mit Gewächsen überladene Boden gar nicht Raum genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verstecken sich die Baum- stämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen Heuschreckenbaum oder amerikanischen Feigenbaum 1 wachsen, sorgsam verpflanzen, so würde ein ganzes Stück Land damit bedeckt. Durch diese wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich der organischen Natur. -- Dieselben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und schwingen sich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt es, daß, da die Schmarotzergewächse sich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verschiedenen Arten angehören, zu verwechseln.
Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieser Wöl- bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen Himmel sieht. Er schien mir um so tiefer indigoblau, da das Grün der tropischen Gewächse meist einen sehr kräftigen, ins Bräunliche spielenden Ton hat. Zerstreute Felsmassen waren mit einem großen Baumfarn bewachsen, der sich vom Poly- podium arboreum der Antillen wesentlich unterscheidet. Hier
1Ficus gigantea.
A. v. Humboldt, Reise. I. 15
bare Gewächſe, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen, obgleich ſie den Menſchen ſeit uralter Zeit auf ſeinen Wan- derungen begleitet haben.
Wenn ein eben aus Europa angekommener Reiſender zum erſtenmal die Wälder Südamerikas betritt, ſo hat er ein ganz unerwartetes Naturbild vor ſich. Alles, was er ſieht, erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte Schriftſteller an den Ufern des Miſſiſſippi, in Florida und in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er ſich nicht an den Grenzen der heißen Zone befindet, ſondern mitten darin, nicht auf einer der Antilliſchen Inſeln, ſondern auf einem gewaltigen Kontinent, wo alles rieſenhaft iſt, Berge, Ströme und Pflanzen- maſſen. Hat er Sinn für landſchaftliche Schönheit, ſo weiß er ſich von ſeinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen- ſchaft zu geben. Er weiß nicht zu ſagen, was mehr ſein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einſamkeit, oder die Schönheit der einzelnen Geſtalten und ihre Kontraſte, oder die Kraft und Fülle des vegetabiliſchen Lebens. Es iſt als hätte der mit Gewächſen überladene Boden gar nicht Raum genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verſtecken ſich die Baum- ſtämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen Heuſchreckenbaum oder amerikaniſchen Feigenbaum 1 wachſen, ſorgſam verpflanzen, ſo würde ein ganzes Stück Land damit bedeckt. Durch dieſe wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich der organiſchen Natur. — Dieſelben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und ſchwingen ſich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt es, daß, da die Schmarotzergewächſe ſich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verſchiedenen Arten angehören, zu verwechſeln.
Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieſer Wöl- bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen Himmel ſieht. Er ſchien mir um ſo tiefer indigoblau, da das Grün der tropiſchen Gewächſe meiſt einen ſehr kräftigen, ins Bräunliche ſpielenden Ton hat. Zerſtreute Felsmaſſen waren mit einem großen Baumfarn bewachſen, der ſich vom Poly- podium arboreum der Antillen weſentlich unterſcheidet. Hier
1Ficus gigantea.
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 15
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bare Gewächſe, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen,
obgleich ſie den Menſchen ſeit uralter Zeit auf ſeinen Wan-
derungen begleitet haben.
Wenn ein eben aus Europa angekommener Reiſender
zum erſtenmal die Wälder Südamerikas betritt, ſo hat er ein
ganz unerwartetes Naturbild vor ſich. Alles, was er ſieht,
erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte
Schriftſteller an den Ufern des Miſſiſſippi, in Florida und
in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen
haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er ſich nicht an den
Grenzen der heißen Zone befindet, ſondern mitten darin, nicht
auf einer der Antilliſchen Inſeln, ſondern auf einem gewaltigen
Kontinent, wo alles rieſenhaft iſt, Berge, Ströme und Pflanzen-
maſſen. Hat er Sinn für landſchaftliche Schönheit, ſo weiß
er ſich von ſeinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen-
ſchaft zu geben. Er weiß nicht zu ſagen, was mehr ſein
Staunen erregt, die feierliche Stille der Einſamkeit, oder
die Schönheit der einzelnen Geſtalten und ihre Kontraſte, oder
die Kraft und Fülle des vegetabiliſchen Lebens. Es iſt als
hätte der mit Gewächſen überladene Boden gar nicht Raum
genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verſtecken ſich die Baum-
ſtämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die
Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen
Heuſchreckenbaum oder amerikaniſchen Feigenbaum 1 wachſen,
ſorgſam verpflanzen, ſo würde ein ganzes Stück Land damit
bedeckt. Durch dieſe wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern
die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich
der organiſchen Natur. — Dieſelben Lianen, die am Boden
kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und ſchwingen
ſich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt
es, daß, da die Schmarotzergewächſe ſich überall durcheinander
wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub,
die verſchiedenen Arten angehören, zu verwechſeln.
Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieſer Wöl-
bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen
Himmel ſieht. Er ſchien mir um ſo tiefer indigoblau, da das
Grün der tropiſchen Gewächſe meiſt einen ſehr kräftigen, ins
Bräunliche ſpielenden Ton hat. Zerſtreute Felsmaſſen waren
mit einem großen Baumfarn bewachſen, der ſich vom Poly-
podium arboreum der Antillen weſentlich unterſcheidet. Hier
1 Ficus gigantea.
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 15
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/241>, abgerufen am 16.02.2025.
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