Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

bare Gewächse, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen,
obgleich sie den Menschen seit uralter Zeit auf seinen Wan-
derungen begleitet haben.

Wenn ein eben aus Europa angekommener Reisender
zum erstenmal die Wälder Südamerikas betritt, so hat er ein
ganz unerwartetes Naturbild vor sich. Alles, was er sieht,
erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte
Schriftsteller an den Ufern des Mississippi, in Florida und
in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen
haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er sich nicht an den
Grenzen der heißen Zone befindet, sondern mitten darin, nicht
auf einer der Antillischen Inseln, sondern auf einem gewaltigen
Kontinent, wo alles riesenhaft ist, Berge, Ströme und Pflanzen-
massen. Hat er Sinn für landschaftliche Schönheit, so weiß
er sich von seinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen-
schaft zu geben. Er weiß nicht zu sagen, was mehr sein
Staunen erregt, die feierliche Stille der Einsamkeit, oder
die Schönheit der einzelnen Gestalten und ihre Kontraste, oder
die Kraft und Fülle des vegetabilischen Lebens. Es ist als
hätte der mit Gewächsen überladene Boden gar nicht Raum
genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verstecken sich die Baum-
stämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die
Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen
Heuschreckenbaum oder amerikanischen Feigenbaum 1 wachsen,
sorgsam verpflanzen, so würde ein ganzes Stück Land damit
bedeckt. Durch diese wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern
die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich
der organischen Natur. -- Dieselben Lianen, die am Boden
kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und schwingen
sich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt
es, daß, da die Schmarotzergewächse sich überall durcheinander
wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub,
die verschiedenen Arten angehören, zu verwechseln.

Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieser Wöl-
bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen
Himmel sieht. Er schien mir um so tiefer indigoblau, da das
Grün der tropischen Gewächse meist einen sehr kräftigen, ins
Bräunliche spielenden Ton hat. Zerstreute Felsmassen waren
mit einem großen Baumfarn bewachsen, der sich vom Poly-
podium arboreum
der Antillen wesentlich unterscheidet. Hier

1 Ficus gigantea.
A. v. Humboldt, Reise. I. 15

bare Gewächſe, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen,
obgleich ſie den Menſchen ſeit uralter Zeit auf ſeinen Wan-
derungen begleitet haben.

Wenn ein eben aus Europa angekommener Reiſender
zum erſtenmal die Wälder Südamerikas betritt, ſo hat er ein
ganz unerwartetes Naturbild vor ſich. Alles, was er ſieht,
erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte
Schriftſteller an den Ufern des Miſſiſſippi, in Florida und
in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen
haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er ſich nicht an den
Grenzen der heißen Zone befindet, ſondern mitten darin, nicht
auf einer der Antilliſchen Inſeln, ſondern auf einem gewaltigen
Kontinent, wo alles rieſenhaft iſt, Berge, Ströme und Pflanzen-
maſſen. Hat er Sinn für landſchaftliche Schönheit, ſo weiß
er ſich von ſeinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen-
ſchaft zu geben. Er weiß nicht zu ſagen, was mehr ſein
Staunen erregt, die feierliche Stille der Einſamkeit, oder
die Schönheit der einzelnen Geſtalten und ihre Kontraſte, oder
die Kraft und Fülle des vegetabiliſchen Lebens. Es iſt als
hätte der mit Gewächſen überladene Boden gar nicht Raum
genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verſtecken ſich die Baum-
ſtämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die
Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen
Heuſchreckenbaum oder amerikaniſchen Feigenbaum 1 wachſen,
ſorgſam verpflanzen, ſo würde ein ganzes Stück Land damit
bedeckt. Durch dieſe wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern
die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich
der organiſchen Natur. — Dieſelben Lianen, die am Boden
kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und ſchwingen
ſich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt
es, daß, da die Schmarotzergewächſe ſich überall durcheinander
wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub,
die verſchiedenen Arten angehören, zu verwechſeln.

Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieſer Wöl-
bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen
Himmel ſieht. Er ſchien mir um ſo tiefer indigoblau, da das
Grün der tropiſchen Gewächſe meiſt einen ſehr kräftigen, ins
Bräunliche ſpielenden Ton hat. Zerſtreute Felsmaſſen waren
mit einem großen Baumfarn bewachſen, der ſich vom Poly-
podium arboreum
der Antillen weſentlich unterſcheidet. Hier

1 Ficus gigantea.
A. v. Humboldt, Reiſe. I. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0241" n="225"/>
bare Gewäch&#x017F;e, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen,<lb/>
obgleich &#x017F;ie den Men&#x017F;chen &#x017F;eit uralter Zeit auf &#x017F;einen Wan-<lb/>
derungen begleitet haben.</p><lb/>
          <p>Wenn ein eben aus Europa angekommener Rei&#x017F;ender<lb/>
zum er&#x017F;tenmal die Wälder Südamerikas betritt, &#x017F;o hat er ein<lb/>
ganz unerwartetes Naturbild vor &#x017F;ich. Alles, was er &#x017F;ieht,<lb/>
erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte<lb/>
Schrift&#x017F;teller an den Ufern des Mi&#x017F;&#x017F;i&#x017F;&#x017F;ippi, in Florida und<lb/>
in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen<lb/>
haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er &#x017F;ich nicht an den<lb/>
Grenzen der heißen Zone befindet, &#x017F;ondern mitten darin, nicht<lb/>
auf einer der Antilli&#x017F;chen In&#x017F;eln, &#x017F;ondern auf einem gewaltigen<lb/>
Kontinent, wo alles rie&#x017F;enhaft i&#x017F;t, Berge, Ströme und Pflanzen-<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;en. Hat er Sinn für land&#x017F;chaftliche Schönheit, &#x017F;o weiß<lb/>
er &#x017F;ich von &#x017F;einen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen-<lb/>
&#x017F;chaft zu geben. Er weiß nicht zu &#x017F;agen, was mehr &#x017F;ein<lb/>
Staunen erregt, die feierliche Stille der Ein&#x017F;amkeit, oder<lb/>
die Schönheit der einzelnen Ge&#x017F;talten und ihre Kontra&#x017F;te, oder<lb/>
die Kraft und Fülle des vegetabili&#x017F;chen Lebens. Es i&#x017F;t als<lb/>
hätte der mit Gewäch&#x017F;en überladene Boden gar nicht Raum<lb/>
genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall ver&#x017F;tecken &#x017F;ich die Baum-<lb/>
&#x017F;tämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die<lb/>
Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen<lb/>
Heu&#x017F;chreckenbaum oder amerikani&#x017F;chen Feigenbaum <note place="foot" n="1"><hi rendition="#aq">Ficus gigantea.</hi></note> wach&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;org&#x017F;am verpflanzen, &#x017F;o würde ein ganzes Stück Land damit<lb/>
bedeckt. Durch die&#x017F;e wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern<lb/>
die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich<lb/>
der organi&#x017F;chen Natur. &#x2014; Die&#x017F;elben Lianen, die am Boden<lb/>
kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und &#x017F;chwingen<lb/>
&#x017F;ich, mehr als 30 <hi rendition="#aq">m</hi> hoch, vom einen zum anderen. So kommt<lb/>
es, daß, da die Schmarotzergewäch&#x017F;e &#x017F;ich überall durcheinander<lb/>
wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub,<lb/>
die ver&#x017F;chiedenen Arten angehören, zu verwech&#x017F;eln.</p><lb/>
          <p>Wir wanderten einige Stunden im Schatten die&#x017F;er Wöl-<lb/>
bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen<lb/>
Himmel &#x017F;ieht. Er &#x017F;chien mir um &#x017F;o tiefer indigoblau, da das<lb/>
Grün der tropi&#x017F;chen Gewäch&#x017F;e mei&#x017F;t einen &#x017F;ehr kräftigen, ins<lb/>
Bräunliche &#x017F;pielenden Ton hat. Zer&#x017F;treute Felsma&#x017F;&#x017F;en waren<lb/>
mit einem großen Baumfarn bewach&#x017F;en, der &#x017F;ich vom <hi rendition="#aq">Poly-<lb/>
podium arboreum</hi> der Antillen we&#x017F;entlich unter&#x017F;cheidet. Hier<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A. v. <hi rendition="#g">Humboldt</hi>, Rei&#x017F;e. <hi rendition="#aq">I.</hi> 15</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0241] bare Gewächſe, deren eigentliche Heimat wir nicht kennen, obgleich ſie den Menſchen ſeit uralter Zeit auf ſeinen Wan- derungen begleitet haben. Wenn ein eben aus Europa angekommener Reiſender zum erſtenmal die Wälder Südamerikas betritt, ſo hat er ein ganz unerwartetes Naturbild vor ſich. Alles, was er ſieht, erinnert nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte Schriftſteller an den Ufern des Miſſiſſippi, in Florida und in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen haben. Bei jedem Schritte fühlt er, daß er ſich nicht an den Grenzen der heißen Zone befindet, ſondern mitten darin, nicht auf einer der Antilliſchen Inſeln, ſondern auf einem gewaltigen Kontinent, wo alles rieſenhaft iſt, Berge, Ströme und Pflanzen- maſſen. Hat er Sinn für landſchaftliche Schönheit, ſo weiß er ſich von ſeinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechen- ſchaft zu geben. Er weiß nicht zu ſagen, was mehr ſein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einſamkeit, oder die Schönheit der einzelnen Geſtalten und ihre Kontraſte, oder die Kraft und Fülle des vegetabiliſchen Lebens. Es iſt als hätte der mit Gewächſen überladene Boden gar nicht Raum genug zu ihrer Entwickelung. Ueberall verſtecken ſich die Baum- ſtämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen Heuſchreckenbaum oder amerikaniſchen Feigenbaum 1 wachſen, ſorgſam verpflanzen, ſo würde ein ganzes Stück Land damit bedeckt. Durch dieſe wunderliche Aufeinanderhäufung erweitern die Wälder, wie die Fels- und Gebirgswände, das Bereich der organiſchen Natur. — Dieſelben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und ſchwingen ſich, mehr als 30 m hoch, vom einen zum anderen. So kommt es, daß, da die Schmarotzergewächſe ſich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verſchiedenen Arten angehören, zu verwechſeln. Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieſer Wöl- bungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen Himmel ſieht. Er ſchien mir um ſo tiefer indigoblau, da das Grün der tropiſchen Gewächſe meiſt einen ſehr kräftigen, ins Bräunliche ſpielenden Ton hat. Zerſtreute Felsmaſſen waren mit einem großen Baumfarn bewachſen, der ſich vom Poly- podium arboreum der Antillen weſentlich unterſcheidet. Hier 1 Ficus gigantea. A. v. Humboldt, Reiſe. I. 15

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/241
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/241>, abgerufen am 18.04.2024.