Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Einwohner von Maniquarez eine Ziege abhanden gekommen,
und daß wahrscheinlich eine Familie in der Nachbarschaft sich
gütlich damit gethan habe. Dergleichen Züge, die für große
Sittenreinheit beim gemeinen Volke sprechen, kommen häufig
auch in Neumexiko, in Kanada und in den Ländern westlich
von den Alleghanies vor.

Unter den Farbigen, deren Hütten um den Salzsee stehen,
befand sich ein Schuhmacher von kastilianischem Blute. Er
nahm uns mit dem Ernst und der Selbstgefälligkeit auf, die
unter diesen Himmelsstrichen fast allen Leuten eigen sind, die
sich für besonders begabt halten. Er war eben daran, die
Sehne seines Bogens zu spannen und Pfeile zu spitzen, um
Vögel zu schießen. Sein Gewerbe als Schuster konnte in
einem Lande, wo die meisten Leute barfuß gehen, nicht viel
eintragen; er beschwerte sich auch, daß das europäische Pulver
so teuer sei und ein Mann wie er zu denselben Waffen greifen
müsse wie die Indianer. Der Mann war das gelehrte Orakel
des Dorfes; er wußte, wie sich das Salz durch den Einfluß
der Sonne und des Vollmondes bildet, er kannte die Vor-
zeichen der Erdbeben, die Merkmale, wo sich Gold und Silber
im Boden finden, und die Arzneipflanzen, die er, wie alle
Kolonisten von Chile bis Kalifornien, in heiße und kalte 1
einteilte. Er hatte die geschichtlichen Ueberlieferungen des
Landes gesammelt, und gab uns interessante Notizen über die
Perlen von Cubagua, welchen Luxusartikel er höchst weg-
werfend behandelte. Um uns zu zeigen, wie bewandert er in
der heiligen Schrift sei, führte er wohlgefällig den Spruch
Hiobs an, daß Weisheit höher zu wägen ist, denn Perlen.
Seine Philosophie ging nicht über den engen Kreis der Lebens-
bedürfnisse hinaus. Ein derber Esel, der eine tüchtige Ladung
Bananen an den Landungsplatz tragen könnte, war das höchste
Ziel seiner Wünsche.

Nach einer langen Rede über die Eitelkeit menschlicher
Herrlichkeit zog er aus einer Ledertasche sehr kleine und trübe
Perlen und drang uns dieselben auf. Zugleich hieß er uns,
es in unsere Schreibtafel aufzuzeichnen, daß ein armer Schuster
von Araya, aber ein weißer Mann und von edlem kastilischem
Blute, uns etwas habe schenken können, das drüben über dem
Meer für eine große Kostbarkeit gelte. Ich komme dem Ver-

1 Reizende und schwächende, sthenische oder asthenische nach
Browns System.

Einwohner von Maniquarez eine Ziege abhanden gekommen,
und daß wahrſcheinlich eine Familie in der Nachbarſchaft ſich
gütlich damit gethan habe. Dergleichen Züge, die für große
Sittenreinheit beim gemeinen Volke ſprechen, kommen häufig
auch in Neumexiko, in Kanada und in den Ländern weſtlich
von den Alleghanies vor.

Unter den Farbigen, deren Hütten um den Salzſee ſtehen,
befand ſich ein Schuhmacher von kaſtilianiſchem Blute. Er
nahm uns mit dem Ernſt und der Selbſtgefälligkeit auf, die
unter dieſen Himmelsſtrichen faſt allen Leuten eigen ſind, die
ſich für beſonders begabt halten. Er war eben daran, die
Sehne ſeines Bogens zu ſpannen und Pfeile zu ſpitzen, um
Vögel zu ſchießen. Sein Gewerbe als Schuſter konnte in
einem Lande, wo die meiſten Leute barfuß gehen, nicht viel
eintragen; er beſchwerte ſich auch, daß das europäiſche Pulver
ſo teuer ſei und ein Mann wie er zu denſelben Waffen greifen
müſſe wie die Indianer. Der Mann war das gelehrte Orakel
des Dorfes; er wußte, wie ſich das Salz durch den Einfluß
der Sonne und des Vollmondes bildet, er kannte die Vor-
zeichen der Erdbeben, die Merkmale, wo ſich Gold und Silber
im Boden finden, und die Arzneipflanzen, die er, wie alle
Koloniſten von Chile bis Kalifornien, in heiße und kalte 1
einteilte. Er hatte die geſchichtlichen Ueberlieferungen des
Landes geſammelt, und gab uns intereſſante Notizen über die
Perlen von Cubagua, welchen Luxusartikel er höchſt weg-
werfend behandelte. Um uns zu zeigen, wie bewandert er in
der heiligen Schrift ſei, führte er wohlgefällig den Spruch
Hiobs an, daß Weisheit höher zu wägen iſt, denn Perlen.
Seine Philoſophie ging nicht über den engen Kreis der Lebens-
bedürfniſſe hinaus. Ein derber Eſel, der eine tüchtige Ladung
Bananen an den Landungsplatz tragen könnte, war das höchſte
Ziel ſeiner Wünſche.

Nach einer langen Rede über die Eitelkeit menſchlicher
Herrlichkeit zog er aus einer Ledertaſche ſehr kleine und trübe
Perlen und drang uns dieſelben auf. Zugleich hieß er uns,
es in unſere Schreibtafel aufzuzeichnen, daß ein armer Schuſter
von Araya, aber ein weißer Mann und von edlem kaſtiliſchem
Blute, uns etwas habe ſchenken können, das drüben über dem
Meer für eine große Koſtbarkeit gelte. Ich komme dem Ver-

1 Reizende und ſchwächende, ſtheniſche oder aſtheniſche nach
Browns Syſtem.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0215" n="199"/>
Einwohner von Maniquarez eine Ziege abhanden gekommen,<lb/>
und daß wahr&#x017F;cheinlich eine Familie in der Nachbar&#x017F;chaft &#x017F;ich<lb/>
gütlich damit gethan habe. Dergleichen Züge, die für große<lb/>
Sittenreinheit beim gemeinen Volke &#x017F;prechen, kommen häufig<lb/>
auch in Neumexiko, in Kanada und in den Ländern we&#x017F;tlich<lb/>
von den Alleghanies vor.</p><lb/>
          <p>Unter den Farbigen, deren Hütten um den Salz&#x017F;ee &#x017F;tehen,<lb/>
befand &#x017F;ich ein Schuhmacher von ka&#x017F;tiliani&#x017F;chem Blute. Er<lb/>
nahm uns mit dem Ern&#x017F;t und der Selb&#x017F;tgefälligkeit auf, die<lb/>
unter die&#x017F;en Himmels&#x017F;trichen fa&#x017F;t allen Leuten eigen &#x017F;ind, die<lb/>
&#x017F;ich für be&#x017F;onders begabt halten. Er war eben daran, die<lb/>
Sehne &#x017F;eines Bogens zu &#x017F;pannen und Pfeile zu &#x017F;pitzen, um<lb/>
Vögel zu &#x017F;chießen. Sein Gewerbe als Schu&#x017F;ter konnte in<lb/>
einem Lande, wo die mei&#x017F;ten Leute barfuß gehen, nicht viel<lb/>
eintragen; er be&#x017F;chwerte &#x017F;ich auch, daß das europäi&#x017F;che Pulver<lb/>
&#x017F;o teuer &#x017F;ei und ein Mann wie er zu den&#x017F;elben Waffen greifen<lb/>&#x017F;&#x017F;e wie die Indianer. Der Mann war das gelehrte Orakel<lb/>
des Dorfes; er wußte, wie &#x017F;ich das Salz durch den Einfluß<lb/>
der Sonne und des Vollmondes bildet, er kannte die Vor-<lb/>
zeichen der Erdbeben, die Merkmale, wo &#x017F;ich Gold und Silber<lb/>
im Boden finden, und die Arzneipflanzen, die er, wie alle<lb/>
Koloni&#x017F;ten von Chile bis Kalifornien, in <hi rendition="#g">heiße</hi> und <hi rendition="#g">kalte</hi> <note place="foot" n="1">Reizende und &#x017F;chwächende, &#x017F;theni&#x017F;che oder a&#x017F;theni&#x017F;che nach<lb/>
Browns Sy&#x017F;tem.</note><lb/>
einteilte. Er hatte die ge&#x017F;chichtlichen Ueberlieferungen des<lb/>
Landes ge&#x017F;ammelt, und gab uns intere&#x017F;&#x017F;ante Notizen über die<lb/>
Perlen von Cubagua, welchen Luxusartikel er höch&#x017F;t weg-<lb/>
werfend behandelte. Um uns zu zeigen, wie bewandert er in<lb/>
der heiligen Schrift &#x017F;ei, führte er wohlgefällig den Spruch<lb/>
Hiobs an, daß Weisheit höher zu wägen i&#x017F;t, denn Perlen.<lb/>
Seine Philo&#x017F;ophie ging nicht über den engen Kreis der Lebens-<lb/>
bedürfni&#x017F;&#x017F;e hinaus. Ein derber E&#x017F;el, der eine tüchtige Ladung<lb/>
Bananen an den Landungsplatz tragen könnte, war das höch&#x017F;te<lb/>
Ziel &#x017F;einer Wün&#x017F;che.</p><lb/>
          <p>Nach einer langen Rede über die Eitelkeit men&#x017F;chlicher<lb/>
Herrlichkeit zog er aus einer Lederta&#x017F;che &#x017F;ehr kleine und trübe<lb/>
Perlen und drang uns die&#x017F;elben auf. Zugleich hieß er uns,<lb/>
es in un&#x017F;ere Schreibtafel aufzuzeichnen, daß ein armer Schu&#x017F;ter<lb/>
von Araya, aber ein weißer Mann und von edlem ka&#x017F;tili&#x017F;chem<lb/>
Blute, uns etwas habe &#x017F;chenken können, das drüben über dem<lb/>
Meer für eine große Ko&#x017F;tbarkeit gelte. Ich komme dem Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0215] Einwohner von Maniquarez eine Ziege abhanden gekommen, und daß wahrſcheinlich eine Familie in der Nachbarſchaft ſich gütlich damit gethan habe. Dergleichen Züge, die für große Sittenreinheit beim gemeinen Volke ſprechen, kommen häufig auch in Neumexiko, in Kanada und in den Ländern weſtlich von den Alleghanies vor. Unter den Farbigen, deren Hütten um den Salzſee ſtehen, befand ſich ein Schuhmacher von kaſtilianiſchem Blute. Er nahm uns mit dem Ernſt und der Selbſtgefälligkeit auf, die unter dieſen Himmelsſtrichen faſt allen Leuten eigen ſind, die ſich für beſonders begabt halten. Er war eben daran, die Sehne ſeines Bogens zu ſpannen und Pfeile zu ſpitzen, um Vögel zu ſchießen. Sein Gewerbe als Schuſter konnte in einem Lande, wo die meiſten Leute barfuß gehen, nicht viel eintragen; er beſchwerte ſich auch, daß das europäiſche Pulver ſo teuer ſei und ein Mann wie er zu denſelben Waffen greifen müſſe wie die Indianer. Der Mann war das gelehrte Orakel des Dorfes; er wußte, wie ſich das Salz durch den Einfluß der Sonne und des Vollmondes bildet, er kannte die Vor- zeichen der Erdbeben, die Merkmale, wo ſich Gold und Silber im Boden finden, und die Arzneipflanzen, die er, wie alle Koloniſten von Chile bis Kalifornien, in heiße und kalte 1 einteilte. Er hatte die geſchichtlichen Ueberlieferungen des Landes geſammelt, und gab uns intereſſante Notizen über die Perlen von Cubagua, welchen Luxusartikel er höchſt weg- werfend behandelte. Um uns zu zeigen, wie bewandert er in der heiligen Schrift ſei, führte er wohlgefällig den Spruch Hiobs an, daß Weisheit höher zu wägen iſt, denn Perlen. Seine Philoſophie ging nicht über den engen Kreis der Lebens- bedürfniſſe hinaus. Ein derber Eſel, der eine tüchtige Ladung Bananen an den Landungsplatz tragen könnte, war das höchſte Ziel ſeiner Wünſche. Nach einer langen Rede über die Eitelkeit menſchlicher Herrlichkeit zog er aus einer Ledertaſche ſehr kleine und trübe Perlen und drang uns dieſelben auf. Zugleich hieß er uns, es in unſere Schreibtafel aufzuzeichnen, daß ein armer Schuſter von Araya, aber ein weißer Mann und von edlem kaſtiliſchem Blute, uns etwas habe ſchenken können, das drüben über dem Meer für eine große Koſtbarkeit gelte. Ich komme dem Ver- 1 Reizende und ſchwächende, ſtheniſche oder aſtheniſche nach Browns Syſtem.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/215
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/215>, abgerufen am 18.04.2024.