Nachdem wir die Salinen besehen und unsere geodätischen Arbeiten beendigt hatten, brachen wir gegen Abend auf, um einige Meilen weiterhin in einer indianischen Hütte bei den Trümmern des Schlosses von Araya die Nacht zuzubringen. Unsere Instrumente und unseren Mundvorrat schickten wir voraus; denn wenn wir von der großen Hitze und der Re- verberation des Bodens erschöpft waren, spürten wir in diesen Ländern nur abends und in der Morgenkühle Eßlust. Wir wandten uns nach Süd und gingen zuerst über die kahle mit Salzthon bedeckte Ebene, und dann über zwei aus Sandstein bestehende Hügelketten, zwischen denen die Lagune liegt. Die Nacht überraschte uns, während wir einen schmalen Pfad ver- folgten, der einerseits vom Meer, andererseits von senkrechten Felswänden begrenzt ist. Die Flut war im raschen Steigen und engte unseren Weg mit jedem Schritt mehr ein. Am Fuße des alten Schlosses von Araya angelangt, lag ein Natur- bild mit einem melancholischen, romantischen Anstrich vor uns, und doch wurde weder durch die Kühle eines finsteren Forstes, noch durch die Großartigkeit der Pflanzengestalten die Schön- heit der Trümmer gehoben. Sie liegen auf einem kahlen, dürren Berge, mit Agaven, Säulenkaktus und Mimosen be- wachsen, und gleichen nicht sowohl einem Werke von Menschen- hand, als vielmehr Felsmassen, die in den ältesten Umwälzun- gen des Erdballes zertrümmert worden.
Wir wollten Halt machen, um des großartigen Schau- spieles zu genießen und den Untergang der Venus zu beob- achten, deren Scheibe von Zeit zu Zeit zwischen dem Gemäuer des Schlosses erschien; aber der Mulatte, der uns als Führer diente, wollte verdursten und drang lebhaft in uns, umzu- kehren. Er hatte längst gemerkt, daß wir uns verirrt hatten, und da er hoffte, durch die Furcht auf uns zu wirken, sprach er beständig von Tigern und Klapperschlangen. Giftige Rep- tilien sind allerdings beim Schlosse Araya sehr häufig, und erst vor kurzem waren beim Eingang des Dorfes Maniquarez zwei Jaguare erlegt worden. Nach den aufbehaltenen Fellen waren sie nicht viel kleiner als die ostindischen Tiger. Ver- geblich führten wir unserem Führer zu Gemüt, daß diese Tiere an einer Küste, wo die Ziegen ihnen reichliche Nahrung bieten, keinen Menschen anfallen; wir mußten nachgeben und hingehen, woher wir gekommen waren. Nachdem wir drei Viertelstunden über einen von der steigenden Flut bedeckten Strand gegangen, stieß der Neger zu uns, der unseren Mund-
Nachdem wir die Salinen beſehen und unſere geodätiſchen Arbeiten beendigt hatten, brachen wir gegen Abend auf, um einige Meilen weiterhin in einer indianiſchen Hütte bei den Trümmern des Schloſſes von Araya die Nacht zuzubringen. Unſere Inſtrumente und unſeren Mundvorrat ſchickten wir voraus; denn wenn wir von der großen Hitze und der Re- verberation des Bodens erſchöpft waren, ſpürten wir in dieſen Ländern nur abends und in der Morgenkühle Eßluſt. Wir wandten uns nach Süd und gingen zuerſt über die kahle mit Salzthon bedeckte Ebene, und dann über zwei aus Sandſtein beſtehende Hügelketten, zwiſchen denen die Lagune liegt. Die Nacht überraſchte uns, während wir einen ſchmalen Pfad ver- folgten, der einerſeits vom Meer, andererſeits von ſenkrechten Felswänden begrenzt iſt. Die Flut war im raſchen Steigen und engte unſeren Weg mit jedem Schritt mehr ein. Am Fuße des alten Schloſſes von Araya angelangt, lag ein Natur- bild mit einem melancholiſchen, romantiſchen Anſtrich vor uns, und doch wurde weder durch die Kühle eines finſteren Forſtes, noch durch die Großartigkeit der Pflanzengeſtalten die Schön- heit der Trümmer gehoben. Sie liegen auf einem kahlen, dürren Berge, mit Agaven, Säulenkaktus und Mimoſen be- wachſen, und gleichen nicht ſowohl einem Werke von Menſchen- hand, als vielmehr Felsmaſſen, die in den älteſten Umwälzun- gen des Erdballes zertrümmert worden.
Wir wollten Halt machen, um des großartigen Schau- ſpieles zu genießen und den Untergang der Venus zu beob- achten, deren Scheibe von Zeit zu Zeit zwiſchen dem Gemäuer des Schloſſes erſchien; aber der Mulatte, der uns als Führer diente, wollte verdurſten und drang lebhaft in uns, umzu- kehren. Er hatte längſt gemerkt, daß wir uns verirrt hatten, und da er hoffte, durch die Furcht auf uns zu wirken, ſprach er beſtändig von Tigern und Klapperſchlangen. Giftige Rep- tilien ſind allerdings beim Schloſſe Araya ſehr häufig, und erſt vor kurzem waren beim Eingang des Dorfes Maniquarez zwei Jaguare erlegt worden. Nach den aufbehaltenen Fellen waren ſie nicht viel kleiner als die oſtindiſchen Tiger. Ver- geblich führten wir unſerem Führer zu Gemüt, daß dieſe Tiere an einer Küſte, wo die Ziegen ihnen reichliche Nahrung bieten, keinen Menſchen anfallen; wir mußten nachgeben und hingehen, woher wir gekommen waren. Nachdem wir drei Viertelſtunden über einen von der ſteigenden Flut bedeckten Strand gegangen, ſtieß der Neger zu uns, der unſeren Mund-
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Nachdem wir die Salinen beſehen und unſere geodätiſchen
Arbeiten beendigt hatten, brachen wir gegen Abend auf, um
einige Meilen weiterhin in einer indianiſchen Hütte bei den
Trümmern des Schloſſes von Araya die Nacht zuzubringen.
Unſere Inſtrumente und unſeren Mundvorrat ſchickten wir
voraus; denn wenn wir von der großen Hitze und der Re-
verberation des Bodens erſchöpft waren, ſpürten wir in dieſen
Ländern nur abends und in der Morgenkühle Eßluſt. Wir
wandten uns nach Süd und gingen zuerſt über die kahle mit
Salzthon bedeckte Ebene, und dann über zwei aus Sandſtein
beſtehende Hügelketten, zwiſchen denen die Lagune liegt. Die
Nacht überraſchte uns, während wir einen ſchmalen Pfad ver-
folgten, der einerſeits vom Meer, andererſeits von ſenkrechten
Felswänden begrenzt iſt. Die Flut war im raſchen Steigen
und engte unſeren Weg mit jedem Schritt mehr ein. Am
Fuße des alten Schloſſes von Araya angelangt, lag ein Natur-
bild mit einem melancholiſchen, romantiſchen Anſtrich vor uns,
und doch wurde weder durch die Kühle eines finſteren Forſtes,
noch durch die Großartigkeit der Pflanzengeſtalten die Schön-
heit der Trümmer gehoben. Sie liegen auf einem kahlen,
dürren Berge, mit Agaven, Säulenkaktus und Mimoſen be-
wachſen, und gleichen nicht ſowohl einem Werke von Menſchen-
hand, als vielmehr Felsmaſſen, die in den älteſten Umwälzun-
gen des Erdballes zertrümmert worden.
Wir wollten Halt machen, um des großartigen Schau-
ſpieles zu genießen und den Untergang der Venus zu beob-
achten, deren Scheibe von Zeit zu Zeit zwiſchen dem Gemäuer
des Schloſſes erſchien; aber der Mulatte, der uns als Führer
diente, wollte verdurſten und drang lebhaft in uns, umzu-
kehren. Er hatte längſt gemerkt, daß wir uns verirrt hatten,
und da er hoffte, durch die Furcht auf uns zu wirken, ſprach
er beſtändig von Tigern und Klapperſchlangen. Giftige Rep-
tilien ſind allerdings beim Schloſſe Araya ſehr häufig, und
erſt vor kurzem waren beim Eingang des Dorfes Maniquarez
zwei Jaguare erlegt worden. Nach den aufbehaltenen Fellen
waren ſie nicht viel kleiner als die oſtindiſchen Tiger. Ver-
geblich führten wir unſerem Führer zu Gemüt, daß dieſe
Tiere an einer Küſte, wo die Ziegen ihnen reichliche Nahrung
bieten, keinen Menſchen anfallen; wir mußten nachgeben und
hingehen, woher wir gekommen waren. Nachdem wir drei
Viertelſtunden über einen von der ſteigenden Flut bedeckten
Strand gegangen, ſtieß der Neger zu uns, der unſeren Mund-
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/213>, abgerufen am 08.05.2024.
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