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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Seligen, die man anfangs im Norden, jenseits der Riphäischen
Gebirge bei den Hyperboreern, 1 später südwärts von Cyre-
naica gesucht hatte, wurden nach Westen verlegt, dahin, wo
die den Alten bekannte Welt ein Ende hatte. Was man
glückselige Inseln nannte, war lange ein schwankender Begriff,
wie der Name Dorado bei den ersten Eroberern Amerikas.
Man versetzte das Glück an das Ende der Welt, wie man
den lebhaftesten Geistesgenuß in einer idealen Welt jenseits
der Grenzen der Wirklichkeit sucht.

Es ist nicht zu verwundern, daß vor Aristoteles die
griechischen Geographen keine genaue Kenntnis von den Kana-
rischen Inseln und ihren Vulkanen hatten. Das einzige Volk,
das weit nach West und Nord die See befuhr, die Karthager,
fanden ihren Vorteil dabei, wenn sie diese entlegenen Landstriche
in den Schleier des Geheimnisses hüllten. Der karthagische
Senat duldete keine Auswanderung einzelner und ersah diese
Inseln als Zufluchtsort in Zeiten der Unruhe und politischen
Unfälle; sie sollten für die Karthager sein, was der freie
Boden von Amerika für die Europäer bei ihren bürgerlichen
und religiösen Zwistigkeiten geworden ist.

Die Römer wurden erst achtzig Jahre vor Octavians
Regierung näher mit den Kanarischen Inseln bekannt. Ein
bloßer Privatmann wollte den Gedanken verwirklichen, den
der karthagische Senat in weiser Vorsicht gefaßt. Nach seiner
Niederlage durch Sylla sucht Sertorius, müde des Waffen-
lärms, eine sichere, ruhige Zufluchtsstätte. Er wählt die
glückseligen Inseln, von denen man ihm an den Küsten von
Bätika eine reizende Schilderung entwirft. Er sammelt sorg-
fältig, was ihm von Reisenden an Nachrichten zukommt; aber
in den wenigen Stücken dieser Nachrichten, die auf uns ge-
kommen sind, und in den umständlicheren Beschreibungen des
Sebosus und des Juba ist niemals von Vulkanen und vul-
kanischen Ausbrüchen die Rede. Kaum erkennt man die Insel

auf einer der hesperischen Inseln, wie Abbe Viera und nach ihm
verschiedene Reisende annehmen, die den Pik von Tenerifa be-
schreiben. Die folgenden Stellen lassen keinen Zweifel hierüber:
Herodot IV, 184; Strabo XVII; Mela III, 10; Plinius V, 1;
Solinus I, 24, sogar Diodor von Sizilien III.
1 Die Vorstellung vom Glück, der hohen Kultur und dem
Reichtum der Bewohner des Nordens hatten die Griechen, die indi-
schen Völker und die Mexikaner miteinander gemein.

Seligen, die man anfangs im Norden, jenſeits der Riphäiſchen
Gebirge bei den Hyperboreern, 1 ſpäter ſüdwärts von Cyre-
naica geſucht hatte, wurden nach Weſten verlegt, dahin, wo
die den Alten bekannte Welt ein Ende hatte. Was man
glückſelige Inſeln nannte, war lange ein ſchwankender Begriff,
wie der Name Dorado bei den erſten Eroberern Amerikas.
Man verſetzte das Glück an das Ende der Welt, wie man
den lebhafteſten Geiſtesgenuß in einer idealen Welt jenſeits
der Grenzen der Wirklichkeit ſucht.

Es iſt nicht zu verwundern, daß vor Ariſtoteles die
griechiſchen Geographen keine genaue Kenntnis von den Kana-
riſchen Inſeln und ihren Vulkanen hatten. Das einzige Volk,
das weit nach Weſt und Nord die See befuhr, die Karthager,
fanden ihren Vorteil dabei, wenn ſie dieſe entlegenen Landſtriche
in den Schleier des Geheimniſſes hüllten. Der karthagiſche
Senat duldete keine Auswanderung einzelner und erſah dieſe
Inſeln als Zufluchtsort in Zeiten der Unruhe und politiſchen
Unfälle; ſie ſollten für die Karthager ſein, was der freie
Boden von Amerika für die Europäer bei ihren bürgerlichen
und religiöſen Zwiſtigkeiten geworden iſt.

Die Römer wurden erſt achtzig Jahre vor Octavians
Regierung näher mit den Kanariſchen Inſeln bekannt. Ein
bloßer Privatmann wollte den Gedanken verwirklichen, den
der karthagiſche Senat in weiſer Vorſicht gefaßt. Nach ſeiner
Niederlage durch Sylla ſucht Sertorius, müde des Waffen-
lärms, eine ſichere, ruhige Zufluchtsſtätte. Er wählt die
glückſeligen Inſeln, von denen man ihm an den Küſten von
Bätika eine reizende Schilderung entwirft. Er ſammelt ſorg-
fältig, was ihm von Reiſenden an Nachrichten zukommt; aber
in den wenigen Stücken dieſer Nachrichten, die auf uns ge-
kommen ſind, und in den umſtändlicheren Beſchreibungen des
Seboſus und des Juba iſt niemals von Vulkanen und vul-
kaniſchen Ausbrüchen die Rede. Kaum erkennt man die Inſel

auf einer der heſperiſchen Inſeln, wie Abbé Viera und nach ihm
verſchiedene Reiſende annehmen, die den Pik von Tenerifa be-
ſchreiben. Die folgenden Stellen laſſen keinen Zweifel hierüber:
Herodot IV, 184; Strabo XVII; Mela III, 10; Plinius V, 1;
Solinus I, 24, ſogar Diodor von Sizilien III.
1 Die Vorſtellung vom Glück, der hohen Kultur und dem
Reichtum der Bewohner des Nordens hatten die Griechen, die indi-
ſchen Völker und die Mexikaner miteinander gemein.
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[102/0118] Seligen, die man anfangs im Norden, jenſeits der Riphäiſchen Gebirge bei den Hyperboreern, 1 ſpäter ſüdwärts von Cyre- naica geſucht hatte, wurden nach Weſten verlegt, dahin, wo die den Alten bekannte Welt ein Ende hatte. Was man glückſelige Inſeln nannte, war lange ein ſchwankender Begriff, wie der Name Dorado bei den erſten Eroberern Amerikas. Man verſetzte das Glück an das Ende der Welt, wie man den lebhafteſten Geiſtesgenuß in einer idealen Welt jenſeits der Grenzen der Wirklichkeit ſucht. Es iſt nicht zu verwundern, daß vor Ariſtoteles die griechiſchen Geographen keine genaue Kenntnis von den Kana- riſchen Inſeln und ihren Vulkanen hatten. Das einzige Volk, das weit nach Weſt und Nord die See befuhr, die Karthager, fanden ihren Vorteil dabei, wenn ſie dieſe entlegenen Landſtriche in den Schleier des Geheimniſſes hüllten. Der karthagiſche Senat duldete keine Auswanderung einzelner und erſah dieſe Inſeln als Zufluchtsort in Zeiten der Unruhe und politiſchen Unfälle; ſie ſollten für die Karthager ſein, was der freie Boden von Amerika für die Europäer bei ihren bürgerlichen und religiöſen Zwiſtigkeiten geworden iſt. Die Römer wurden erſt achtzig Jahre vor Octavians Regierung näher mit den Kanariſchen Inſeln bekannt. Ein bloßer Privatmann wollte den Gedanken verwirklichen, den der karthagiſche Senat in weiſer Vorſicht gefaßt. Nach ſeiner Niederlage durch Sylla ſucht Sertorius, müde des Waffen- lärms, eine ſichere, ruhige Zufluchtsſtätte. Er wählt die glückſeligen Inſeln, von denen man ihm an den Küſten von Bätika eine reizende Schilderung entwirft. Er ſammelt ſorg- fältig, was ihm von Reiſenden an Nachrichten zukommt; aber in den wenigen Stücken dieſer Nachrichten, die auf uns ge- kommen ſind, und in den umſtändlicheren Beſchreibungen des Seboſus und des Juba iſt niemals von Vulkanen und vul- kaniſchen Ausbrüchen die Rede. Kaum erkennt man die Inſel 3 1 Die Vorſtellung vom Glück, der hohen Kultur und dem Reichtum der Bewohner des Nordens hatten die Griechen, die indi- ſchen Völker und die Mexikaner miteinander gemein. 3 auf einer der heſperiſchen Inſeln, wie Abbé Viera und nach ihm verſchiedene Reiſende annehmen, die den Pik von Tenerifa be- ſchreiben. Die folgenden Stellen laſſen keinen Zweifel hierüber: Herodot IV, 184; Strabo XVII; Mela III, 10; Plinius V, 1; Solinus I, 24, ſogar Diodor von Sizilien III.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/118>, abgerufen am 29.03.2024.