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Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862.

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schweren geistlichen Nothstände, die tausende von todten Gemeinen,
die zehn- und hundertausende von todten oder zum Tode kranken
und wunden Glieder unserer Kirche zwingen uns unbeweislich, die
Frage noch als eine ganz offene anzuerkennen: ob jene Jdiosyn-
krasieen wirklich in dem eigentlichen innersten Kern und Wesen der
lutherischen Kirche und den darin wurzelnden als unbedingt fest anzu-
sehenden Lehren und Ordnungen ihre Berechtigung finden, oder nur
in einer gewißen mehr oder weniger oder zum Theil gar nicht berech-
tigten Praxis und Routine? Wie aber dann, wenn sich die erste Vor-
aussetzung wirklich erweisen ließe und es fände sich, daß diese Ordnungen
unter den hier in Frage stehenden Umständen mit dem Wort Gottes
in Widerspruch treten? Heben wir einen bestimmten Punkt heraus!
Es hat Diener der lutherischen Kirche, lutherische Theologen und Rechts-
gelehrte gegeben und gibt solche noch heut' zu Tage -- das wißen
Sie so gut, wie ich -- die behaupten, die lutherische Kirche, d. h.
der lutherische Pastor habe keinen Beruf noch Pflicht, noch Recht,
den entfremdeten, verlorenen oder extravagirenden Schafen der ihm
anvertrauten Heerde mit seiner Seelsorge nachzugehen, sie aufzu-
suchen
u. s. w. Die Kirche steht ihnen zu gesetzten Zeiten, das
Pastorat nach Bequemlichkeit offen, dahin sollen sie kommen, wenn
die Seelennoth sie treibt, oder sie sollen den Hirten rufen laßen.
Wer das nicht thun mag, der spricht sich selbst sein Urtheil -- sein
Blut ist auf seinem Haupte!
-- Jst das nun wirklich lutherische
Ordnung, so gibt es kaum einen schreiendern Widerspruch, als
zwischen dieser sichtbar kirchlichen Ordnung und dem Gebot der
unsichtbaren Kirche in Gottes Wort und in dem Munde ihres
unsichtbaren Hauptes und großen Oberhirten, wie denn jedes
Kind aus seinem Katechismus den "guten Hirten" kennt, der
die verirrten Schafe in der Wüste aufsucht und wieder zur Heerde
bringt, wie die Mutter ein verirrtes Kindlein. Sie werden, ge-
ehrtester Freund, sagen: das sind aber keine allgemein anerkannte
Ordnungen unserer Kirche, sondern extrem einseitige Richtungen,
getragen und vertreten von wahlverwandten Jndividualitäten. Da-
bei können Sie sich auf schlagende Beispiele im entgegengesetzten
Sinn, auf Kirchenordnungen und landesbischöfliche Reskripte aus
der besten "alten Zeit", der Blüthe der lutherischen Orthodoxie und
Correktheit und noch viel mehr auf die, Gottlob, fast allgemeine

ſchweren geiſtlichen Nothſtände, die tauſende von todten Gemeinen,
die zehn- und hundertauſende von todten oder zum Tode kranken
und wunden Glieder unſerer Kirche zwingen uns unbeweislich, die
Frage noch als eine ganz offene anzuerkennen: ob jene Jdioſyn-
kraſieen wirklich in dem eigentlichen innerſten Kern und Weſen der
lutheriſchen Kirche und den darin wurzelnden als unbedingt feſt anzu-
ſehenden Lehren und Ordnungen ihre Berechtigung finden, oder nur
in einer gewißen mehr oder weniger oder zum Theil gar nicht berech-
tigten Praxis und Routine? Wie aber dann, wenn ſich die erſte Vor-
ausſetzung wirklich erweiſen ließe und es fände ſich, daß dieſe Ordnungen
unter den hier in Frage ſtehenden Umſtänden mit dem Wort Gottes
in Widerſpruch treten? Heben wir einen beſtimmten Punkt heraus!
Es hat Diener der lutheriſchen Kirche, lutheriſche Theologen und Rechts-
gelehrte gegeben und gibt ſolche noch heut’ zu Tage — das wißen
Sie ſo gut, wie ich — die behaupten, die lutheriſche Kirche, d. h.
der lutheriſche Paſtor habe keinen Beruf noch Pflicht, noch Recht,
den entfremdeten, verlorenen oder extravagirenden Schafen der ihm
anvertrauten Heerde mit ſeiner Seelſorge nachzugehen, ſie aufzu-
ſuchen
u. ſ. w. Die Kirche ſteht ihnen zu geſetzten Zeiten, das
Paſtorat nach Bequemlichkeit offen, dahin ſollen ſie kommen, wenn
die Seelennoth ſie treibt, oder ſie ſollen den Hirten rufen laßen.
Wer das nicht thun mag, der ſpricht ſich ſelbſt ſein Urtheil — ſein
Blut iſt auf ſeinem Haupte!
— Jſt das nun wirklich lutheriſche
Ordnung, ſo gibt es kaum einen ſchreiendern Widerſpruch, als
zwiſchen dieſer ſichtbar kirchlichen Ordnung und dem Gebot der
unſichtbaren Kirche in Gottes Wort und in dem Munde ihres
unſichtbaren Hauptes und großen Oberhirten, wie denn jedes
Kind aus ſeinem Katechismus den „guten Hirten‟ kennt, der
die verirrten Schafe in der Wüſte aufſucht und wieder zur Heerde
bringt, wie die Mutter ein verirrtes Kindlein. Sie werden, ge-
ehrteſter Freund, ſagen: das ſind aber keine allgemein anerkannte
Ordnungen unſerer Kirche, ſondern extrem einſeitige Richtungen,
getragen und vertreten von wahlverwandten Jndividualitäten. Da-
bei können Sie ſich auf ſchlagende Beiſpiele im entgegengeſetzten
Sinn, auf Kirchenordnungen und landesbiſchöfliche Reſkripte aus
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[59/0065] ſchweren geiſtlichen Nothſtände, die tauſende von todten Gemeinen, die zehn- und hundertauſende von todten oder zum Tode kranken und wunden Glieder unſerer Kirche zwingen uns unbeweislich, die Frage noch als eine ganz offene anzuerkennen: ob jene Jdioſyn- kraſieen wirklich in dem eigentlichen innerſten Kern und Weſen der lutheriſchen Kirche und den darin wurzelnden als unbedingt feſt anzu- ſehenden Lehren und Ordnungen ihre Berechtigung finden, oder nur in einer gewißen mehr oder weniger oder zum Theil gar nicht berech- tigten Praxis und Routine? Wie aber dann, wenn ſich die erſte Vor- ausſetzung wirklich erweiſen ließe und es fände ſich, daß dieſe Ordnungen unter den hier in Frage ſtehenden Umſtänden mit dem Wort Gottes in Widerſpruch treten? Heben wir einen beſtimmten Punkt heraus! Es hat Diener der lutheriſchen Kirche, lutheriſche Theologen und Rechts- gelehrte gegeben und gibt ſolche noch heut’ zu Tage — das wißen Sie ſo gut, wie ich — die behaupten, die lutheriſche Kirche, d. h. der lutheriſche Paſtor habe keinen Beruf noch Pflicht, noch Recht, den entfremdeten, verlorenen oder extravagirenden Schafen der ihm anvertrauten Heerde mit ſeiner Seelſorge nachzugehen, ſie aufzu- ſuchen u. ſ. w. Die Kirche ſteht ihnen zu geſetzten Zeiten, das Paſtorat nach Bequemlichkeit offen, dahin ſollen ſie kommen, wenn die Seelennoth ſie treibt, oder ſie ſollen den Hirten rufen laßen. Wer das nicht thun mag, der ſpricht ſich ſelbſt ſein Urtheil — ſein Blut iſt auf ſeinem Haupte! — Jſt das nun wirklich lutheriſche Ordnung, ſo gibt es kaum einen ſchreiendern Widerſpruch, als zwiſchen dieſer ſichtbar kirchlichen Ordnung und dem Gebot der unſichtbaren Kirche in Gottes Wort und in dem Munde ihres unſichtbaren Hauptes und großen Oberhirten, wie denn jedes Kind aus ſeinem Katechismus den „guten Hirten‟ kennt, der die verirrten Schafe in der Wüſte aufſucht und wieder zur Heerde bringt, wie die Mutter ein verirrtes Kindlein. Sie werden, ge- ehrteſter Freund, ſagen: das ſind aber keine allgemein anerkannte Ordnungen unſerer Kirche, ſondern extrem einſeitige Richtungen, getragen und vertreten von wahlverwandten Jndividualitäten. Da- bei können Sie ſich auf ſchlagende Beiſpiele im entgegengeſetzten Sinn, auf Kirchenordnungen und landesbiſchöfliche Reſkripte aus der beſten „alten Zeit‟, der Blüthe der lutheriſchen Orthodoxie und Correktheit und noch viel mehr auf die, Gottlob, faſt allgemeine

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Zitationshilfe: Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_revival_1862/65>, abgerufen am 07.05.2024.