Sieben Briefe
über
engliſches Revival
und
deutſche Erweckung
von
V. A. H.
Frankfurt a. M.
Verlag von Heyder & Zimmer.
1862.
Vorwort.
„Die Erweckung im methodiſtiſchen Sinn liegt dem grund-
„deutſchen Weſen des Referenten fern und bei aller Hochachtung
„gegen das Gute der engliſchen Nation und ihre chriſtlichen Be-
„ſtrebungen fühlen wir uns keineswegs berufen, die Ueberfluthung
„unſeres Vaterlands mit engliſchen Anſichten und Unternehmungen
„zu fördern, ſind vielmehr im Gegentheil geneigt, eine wachſame
„Vorſicht zu empfehlen, damit unſere urſprüngliche kernhaft deutſch-
„evangeliſche Produktionskraft, die der HErr uns verliehen, nicht
„unter Einführung fertiger engliſcher Fabrikate leide und wir nur
„zu geſchäftigen Nachahmern werden. — — — — Jndeßen iſt ja
„nicht unſere Aufgabe, eine Methode der ſeelſorgeriſchen Thätigkeit
„an uns, an unſern vaterländiſchen Gefühlen, an unſern Sympa-
„thieen oder Antipathieen zu meßen, ſondern wir ſind darauf ge-
„wieſen, den untrüglichen Maaßſtab der Heiligen Schrift anzulegen,
„um unſer Urtheil dadurch zu berichtigen und feſtzuſtellen.‟ Referat über die Erweckung im methodiſtiſchen Sinne u. ſ. w. auf der
Berliner Paſtoralconferenz 1861 von Dr. W. Schmieder.
Dieſe Worte eines hochverehrten Theologen eignen wir uns um
ſo lieber gleichſam als Motto an, da einzelne Stellen der nach-
folgenden Briefe dem flüchtigern Leſer vielleicht den ganz irrigen
Eindruck geben könnten, als möchten wir das engliſche Revival nach
Deutſchland verpflanzt ſehen, während unſer Zweck nur der iſt,
unſeres geringen Theils eben „der deutſch-evangeliſchen Pro-
duktionskraft‟ eine Anregung zu geben, die Erweckung unſerer
Todten und Schlafenden, ſoweit möglich, in deutſcher Weiſe ernſt-
licher und wirkſamer zu betreiben, als es leider bisher geſchehen —
und zwar eben damit das was ſo oder ſo doch geſchehen muß,
nicht in fugam vacui durch Jmportation fremder Mittel und
Kräfte verſucht werde. Wenn wir aber als Vorbedingung einer
ſolchen deutſchen Erweckung eine ernſte, gründliche, liebevolle und
doch unbefangen ſachkundige Betrachtung und Erwägung der ganzen
Erweckungsfrage fordern, und namentlich der Erfahrungen, welche
die ſeit einem Jahrhundert bedeutendſte Erweckung, das amerikaniſch-
engliſche Revival darbietet — wenn wir verlangen, daß wir unſere
deutſche Trägheit durch jene engliſche Thätigkeit beſchämen und zur
Nacheiferung in unſerer Weiſe anregen laßen ſollen — wenn wir
eventuell und als Reſultat ſolcher Prüfung auch eine geeignete Ein-
verleibung und Benutzung erprobter Momente fremder Methoden
in unſere deutſche Methode nicht ausſchließen, ſo ſind wir der
Zuverſicht, daß dies Alles nicht nur ſehr erſprießlich, ſondern ſehr
weſentlich deutſch iſt.
Daß zur Abhülfe der geiſtlichen Nothſtände unſeres deutſchen
Vaterlandes drei Dinge vor Allem Noth thun: nämlich erſtlich Er-
weckung, zweitens Erweckung und drittens Erweckung — da-
mit wird wohl Niemand entſchiedener einverſtanden ſein, als ein
Schmieder und alle ihm Ebenbürtigen unter den Dienern und
Gliedern deutſch-evangeliſcher Kirchen; ſollten wir uns aber nicht
noch weiter ihrer Zuſtimmung getröſten, wenn wir offen geſtehen:
jenes Bedürfniß ſcheint uns ſo groß und dringend, daß, wenn
deutſche Methoden entweder nicht zur Anwendung kommen oder
wirkungslos bleiben, deſſen Befriedigung auch auf fremdem engliſchem
(methodiſtiſchem oder revivaliſtiſchem) oder ſonſtigem fremdem Wege
verſucht werden dürfte und müßte — Alles verſteht ſich nach dem
untrüglichen Maaßſtab der Heiligen Schrift!
W. zu Epiphanias 1862.
V. A. H.
Erſter Brief.
Jn Erwiederung, geehrteſter Freund, auf Jhr Schreiben vom
.... muß ich zunächſt Jhre Vorausſetzung hinſichtlich meiner Autor-
ſchaft jenes Artikels über die engliſche Revivalſache in No. 67. des
„Volksblatts für Stadt und Land‟ ablehnen, und würden
Sie ohne Zweifel, wenn Sie zu den älteren Mitgliedern der ſoge-
nannten „Volksblattgemeine‟ gehörten, ſchwerlich auf eine mir eben
ſo ſchmeichelhafte, als falſche Färthe gerathen ſein. Dieſe zur
Steuer der äußerlichen thatſächlichen Wahrheit nöthige Ablehnung
kommt übrigens zur Sache ſelbſt ſehr wenig in Betracht, da ich
mich mit dem Jnhalt jenes Artikels, ſoweit er denn geht,
unbedenklich einverſtanden erklären kann. Und zwar gilt dies ſo-
wohl von den darin mitgetheilten Aeußerungen eines franzöſiſchen
Theilnehmers an der Verſammlung der ſogenannten Evangeliſchen
Allianz in Genf, als von den Bemerkungen, womit der Verfaßer
jenes Artikels im Volksblatt denſelben ſchließt. Auch habe ich in
der That dieſer Anregung der Revivalfrage mich um ſo aufrichtiger
gefreut, da ich glaubte, daß dadurch endlich eine Veranlaßung ge-
geben werden dürfte zu einer weitern, tiefern und ernſtern Erör-
terung, wie die Bedeutung der Sache ſie ſchon längſt dringend
erforderte, aber nicht gefunden hatte. Leider iſt bisher dieſe Hoff-
nung bei dieſer Veranlaßung eben ſo wenig in Erfüllung gegangen,
als bei früheren Gelegenheiten und zumal bei der allerdings noch
dringendern Mahnung, die meines Erachtens, in der Elberfelder
Waiſenhausſache gegeben war. Dieſe ſcheint nach einigem Hin- und
Herreden oder Schreiben und der bekannten, ſehr erfreulichen Er-
klärung der dort verſammelten Geiſtlichen wieder ad acta gelegt zu
ſein. Hier iſt zwar manches treffende Wort aus gutem Geiſt ge-
ſprochen, aber im Weſentlichen nur in Beziehung auf die unmittel-
1
bare Veranlaßung und ohne Eingehen weder auf die allgemeinen
Principien und deren beſondere Anwendung auf unſere Zuſtände,
noch auf die conkreten Thatſachen und daraus erwachſenden Fragen
und Lehren, welche das ſogenannte revival movement in Amerika
und zunächſt England und im ganzen Bereiche des britiſchen oder
angelſächſiſchen Blutes aufweiſet — wenn wir denn die Blutsver-
wandtſchaft trotz alles Mangels an ſchuldiger Pietät, oder auch nur
billigem Wohlmeinen von jener Seite, anerkennen ſollen! — Wie
geſagt aber, auch die Aufforderung, womit das Volksblatt jene
Mittheilungen aus Genf ſchließt, iſt meines Wißens bisher ohne
weitere Frucht geblieben und die Sache ſcheint wieder und wieder
einſchlafen zu ſollen, ſtatt zu dem zu führen, was Noth thut —
zu deutſchen Erweckungen! Jn der That ſcheint auch in den
Kreiſen, wo noch am eheſten ein wärmeres und ernſteres Jntereſſe
für eine ſolche Sache vorausgeſetzt werden dürfte, die Meinung, oder
die halb unbewußte ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung zu herrſchen, als
wenn mit zwei oder drei Broſchüren und zwei oder drei Artikeln
über die Sache, die vor etwa zwei Jahren ziemlich im Anfang der
ganzen Bewegung durch das Ulſter Revival hervorgerufen wurden,
die Akten für uns als geſchloßen angeſehen werden könnten. Ja,
ohne Zweifel iſt es den meiſten Leſern des Volksblattes ergangen,
wie Jhnen, geehrteſter Freund, da Sie aus jenem Artikel mit Ver-
wunderung erfuhren, daß die engliſche Revivalbewegung keineswegs,
wie Sie gemeint, „ſich im Sande verlaufen‟, ſondern noch immer
lebendig und ſogar im Begriff ſei, ſich nach Außen und auf roma-
niſchem Boden zu verbreiten. Wie dem auch ſei, da ſich bisher
weder im Volksblatt, noch ſonſt in der wahlverwandten Tagespreße,
noch in Jhrer perſönlichen Kundſchaft unter denen, die mehr Beruf
hätten, als ich, ſich Jemand gefunden hat, das neuerwachte Jntereſſe
und Bedürfniß einer näherer Orientirung über die Sache bei Jhnen
und Jhrem Kreiſe zu befriedigen, ſo mag es drum ſein. Habeant
sibi! — und mögen Sie dann ſehen, wieweit die folgenden Be-
merkungen Jhnen genügen oder Sie wenigſtens zu ſolchen weitern
Fragen anregen mögen, welche mir oder Andern Gelegenheit und
Anhalt geben können, das Mangelnde ſpäter nachzuholen. Welchen
Gebrauch Sie von dieſem Schreiben Andern oder der Oeffentlich-
keit gegenüber machen wollen, ſtelle ich ganz in Jhre Hand.
Vor allen Dingen, geehrteſter Freund, müßen wir uns jedoch
über zwei vorläufige Punkte verſtändigen, damit Sie nicht mehr
oder Anderes von mir erwarten, als ich geben kann und eben des-
halb will. Erſtlich habe ich den Jrrthum zu berichtigen, zu dem Sie,
ich weiß nicht von wem, veranlaßt worden ſind, als wenn ich nämlich
das engliſche Revival — ich denke, wir behalten den fremden Aus-
druck für die fremdländiſche Sache bei! — hauptſächlich durch häufige
und umfaßende eigene Anſchauung an Ort und Stelle kennen ge-
lernt hätte. Dem iſt jedoch nicht ſo. Bei meinem vorjährigen
Aufenthalt in England war es allerdings meine Abſicht, möglichſt
viel von dieſer Bewegung ſelbſt zu hören und zu ſehen; aber nach-
dem ich in London einigen jener Meetings beigewohnt, überzeugte
ich mich, daß ich — auch abgeſehen von dem Mangel an Zeit, die
ich hätte andern und für mich dringendern und berechtigtern Zwecken
abbrechen müßen — keinen Beruf und kein Recht habe, auf
dieſem Wege irgend weiter zu gehen. Die Urſachen dieſes Ent-
ſchlußes ſind zu ſehr individueller und intimſter Natur, als daß ich
mich hier weiter darüber ausſprechen könnte. Möge Jhnen die
Berufung auf einen allgemeinen Grundſatz genügen, deſſen Be-
deutung und Berechtigung mir eben bei dieſer Gelegenheit recht
fühlbar geworden. Da, wo Andere wirklich Erbauung finden, hat
Keiner einen Beruf oder ein Recht mit blos objektiver Kritik oder
ſubjektiver Antipathie oder bloßer Neugierde gegenwärtig zu ſein —
wenn ihn nicht eine beſtimmte Pflicht oder Nothwendigkeit hält.
Wer ſich nicht mit ſolcher Strömung homogeniſiren kann, der bleibe
davon! — Damit will ich für keinen Dritten einen Strick drehen;
was aber mich betrifft, ſo will ich noch zum Ueberfluß ſoviel ge-
ſtehen, daß es beſonders der zweite Grund: eine ſehr entſchiedene Jdio-
ſynkraſie (von der ich dahingeſtellt ſein laße, wieweit ſie national und
wie weit individuell ſein mag), war, der mich beſtimmte. Wie wenig
aber daraus für Sie und Jhre Freunde und ſo viele wahl-
verwandte Kreiſe ein Präjudiz gegen die Sache ſelbſt zu erwachſen
braucht, mag Jhnen gleich das weitere, wenn auch ohne Zweifel
ſehr unliebſame Geſtändniß beweiſen, daß eben jener Jdioſynkraſie
auch ein ſehr viel geringerer Grad von religiöſer Aufgeregtheit oder
Demonſtrativität, als ich ſie in jenen Revivalverſammlungen fand,
des Guten zuviel iſt. Wie ich denn auch jenen allgemeinen
1 *
Grundſatz ſchon auf diejenigen Formen chriſtlicher Gemeinſchaft an-
zuwenden in dem Fall war und bin, wie ſie dem frühern Pietis-
mus eigen waren und in unſern Tagen, wenn gleich nur noch in
ſehr abgeſchwächtem Gepräge vorkommen. Aus eigener unmittel-
barer Erfahrung habe ich alſo nur eine, zwar lebendige, aber flüch-
tige Anſchauung der allgemeinen Momente und Züge jener Ver-
ſammlungen gewonnen und ich muß es Jhnen überlaßen, wie hoch
Sie dieſe Errungenſchaft anſchlagen, und ob Sie wohl gar einer
Zumuthung entſprechen mögen, die ich an dieſe „Enthüllungen‟
knüpfen möchte. Wenn ich mir nämlich ein unbefangenes Urtheil
in einer ſo perſönlichen Frage zutrauen darf, ſo möchte ich be-
haupten, daß eben jene entſchiedene, theils individuelle, theils
nationale Antipathie, oder doch Nicht ſympathie mit ſo vielen Eigen-
thümlichkeiten des engliſchen Revivals meinem objektiven Urtheil
über die ganze Sache um ſo mehr das Gewicht der Unbefangen-
heit geben müßte — ſofern dasſelbe daneben auch auf anderweitig
genügenden Grundlagen ruht.
Jn dieſer letzteren Beziehung nun kann ich nur — mit einem
valeat quantum! — bemerken, daß ich es an Beſprechungen der
Sache mit Perſonen der verſchiedenſten Anſichten, Charaktere, Bil-
dung und kirchlichen oder bürgerlichen Stellung in England eben
ſo wenig habe fehlen laßen, als (vor und nach meiner Anweſenheit
dort) an Beſchaffung und Benutzung eines Materials, worin ſchwer-
lich ein irgend ſehr erheblicher Beitrag zu der Revivalliteratur
fehlt. Dies klingt freilich ruhmrediger, als es gemeint ſein kann,
wenn man weiß, wie unendlich viel Spreu von allen Seiten über
die Sache ausgeſchüttet worden, worin die wenigen Körner heraus-
zufinden ſehr viel mehr Mühe koſtet, als ſich mit deren Jnhalt
bekannt zu machen. Die ergiebigſte und in der That einzige ganz
unentbehrliche Quelle zur Orientirung in den laufenden Erſcheinungen
iſt die Monatsſchrift: the Revival, welche ſeit zwei Jahren das
eigentliche Organ und eine äußerſt vollſtändige und intereſſante
Chronik der ganzen Bewegung iſt. Daß deren definitive Be-
nutzung, wenn ſie anders zur hiſtoriſchen Wahrheit führen ſoll, nicht
ohne Kritik und einen im Weſentlichen ſchon feſt begründeten Stand-
punkt geſchehen darf, verſteht ſich wohl von ſelbſt und ſteht keines-
wegs im Widerſpruch mit der Wechſelwirkung, wodurch eben ein
ſolcher Standpunkt und das richtige Maaß und Licht der Beur-
theilung weſentlich aus einer ſolchen Fülle von, wenn auch nicht
immer unbefangenen Berichten zu ſchöpfen, oder doch zu vervoll-
ſtändigen ſein wird. Uebrigens muß ich ausdrücklich jener Chronik
das Zeugniß geben, daß ſie innerhalb der allgemeinen Voraus-
ſetzungen einer Jdentificirung mit dem Zweck und Princip des
Revivals und den weſentlichen Reſultaten ſeiner Anwendung ſo unbe-
fangen und unpartheiiſch iſt, als es unter ſolchen Umſtänden irgend
möglich und zu erwarten. Von abſichtlicher bewußter Fälſchung
der hiſtoriſchen Wahrheit habe ich nirgends eine Spur gefunden
und auch der von jenem Beruf eines Parteiorgans unzertrennliche
Optimismus ſchließt die Erwähnung auch bedenklicher Erſcheinungen
keineswegs aus. Genug — ich nehme keinen Anſtand zu behaupten,
daß eine richtige Anſchauung der inneren und äußeren Thatſachen
ſich aus dieſen Materialien gar wohl ſchöpfen läßt, wenn ſie nur
cum grano salis benutzt und behandelt werden. Ob und wieweit Sie,
geehrteſter Freund, nun gerade mir die nöthige Doſis dieſes kri-
tiſchen Salzes zutrauen — das iſt Jhre Sache. Bis auf Weiteres
aber glaube ich aus der Art, wie Sie ſich in dieſer Angelegenheit
an mich wenden, einen hinreichend günſtigen Schluß ziehen zu können,
um ſofort zu dem zweiten Präliminarpunkt überzugehen, nämlich in
welchem Sinne, wie und wieweit ich mich berufen finde, Jhrem
gütigen Vertrauen in einer Beſprechung der Revivalbewegung zu
genügen.
Und hier muß ich mich ſogleich ausdrücklich dagegen verwahren,
als übernähme ich die Aufgabe einer irgend in’s Einzelne gehenden
umfaßenden und ausführlichen Darſtellung des Verlaufs und gegen-
wärtigen Standes der Sache, oder gar einer erſchöpfenden Erörte-
rung der aus den Thatſachen ſich ergebenden Folgerungen und
Nutzanwendungen für unſere kirchlichen, religiöſen und ſittlichen
Noth- und Zuſtände, womit denn ganz von ſelbſt eine ebenſo er-
ſchöpfende Kritik nach beiden Seiten Hand in Hand gehen müßte.
Darauf kann und will ich mich durchaus nicht einlaßen, und würde
es auch dann nicht, wenn eine ſolche Arbeit ſich überhaupt in einer
flüchtigen Correſpondenz erledigen ließe und nicht vielmehr ein dickes
Buch erforderte. Meine Meinung iſt nur die: zunächſt bei Jhnen
und in Jhrem Kreiſe, geehrteſter Freund, und namentlich bei Jhren
geiſtlichen Bekannten und Freunden — ſoweit Sie dann ſelbſt dieſen
Expektorationen zu weiterer Verbreitung verhelfen mögen — durch
eine flüchtige Darſtellung der thatſächlichen Hauptmomente und
einige allgemeine Bemerkungen hinſichtlich ihrer Bedeutung und
Berechtigung, die Ueberzeugung zu begründen: daß in der bisherigen
geringen Beachtung, oder dem neuerdings faſt gänzlichen Jgnoriren
der Sache eine ſchwere Verantwortlichkeit und Verſäumniß liegt.
Daran aber knüpft ſich die Hoffnung oder doch der Wunſch, daß
dieſe Ueberzeugung dann den Einen oder Andern in jenen nament-
lich geiſtlichen Kreiſen, vielleicht Sie ſelbſt, geehrteſter Freund, anregen
möge, an jene größere Aufgabe mit beßerem Beruf zu gehen, als
ich mir zu beſitzen bewußt bin. Jn dieſem Falle aber werde ich
mit Freuden alles in meinen Händen befindliche oder mir noch weiter
zugehende Material zur Dispoſition ſtellen — was freilich niemals
die eigene Anſchauung an Ort und Stelle ganz erſetzen könnte.
Dazu aber möchte ich denn für dieſe und ſo manche andere Sache
Sie und Jhre Freunde auch bei dieſer Gelegenheit dringend auf-
fordern, ſofern die äußeren Bedingungen nicht ganz fehlen. Deren
Erfüllung und Beſchaffung iſt übrigens nicht ſchwerer, als für Hun-
derte von weit weniger fruchtbaren Erholungs- oder Belehrungs-
reiſen, die von ſo vielen Leuten alljährlich gemacht werden, an
deren perſönlicher Qualifikation zu einem fruchtbaren iter anglicum
kein Zweifel ſein kann. Sind Sie nun, geehrteſter Freund, nach
Alle dem noch der Meinung, daß ich dem Bedürfniß und der Er-
wartung, welche Sie veranlaßte, ſich an mich zu wenden, zu genügen
vermag, ſo kann ich in meinem nächſten Briefe gleich medias in res
gehen. Bis dahin aber u. ſ. w.
Zweiter Brief.
Jhre Antwort, geehrteſter Freund, beſeitigt nicht nur jedes
Bedenken, was ich etwa haben könnte, mich gegen Sie weiter über
die Revivalfrage auszuſprechen, ſondern Sie nehmen mich ſo ſcharf
beim Wort, daß ich nicht zurücktreten kann, auch wenn ich möchte.
Zur Sache alſo laße ich zunächſt eine überſichtliche Charakteriſtik
der Hauptmomente jener Bewegung ſeit ihrem Beginne im nord-
öſtlichen Theile von Jrland (Ulſter) folgen, wobei ich mich gerade
über dieſe Anfänge um ſo kürzer faßen kann, da es darüber ſeiner
Zeit auch bei uns nicht an Berichten gefehlt hat. Auf das nord-
amerikaniſche Revival brauche ich aber gar nicht weiter einzugehen,
da der unmittelbare Einfluß desſelben auf die britiſche Welt nur
gering und ſporadiſch war, doch ſo, daß allerdings hier und da der
erſte Anſtoß durch Berichte über die in Amerika geſchehenen Dinge
gegeben wurde. Noch weniger iſt hier der Ort, auf die älteren
camp meetings in den Hinterwäldern einzugehen. Namentlich fand
eine ſolche Einwirkung auch bei einigen wenigen und nach Maaßſtab
und Urtheil der Welt ſehr unbedeutenden Perſonen ſtatt, welche in
Jrland durch Gebetsverſammlungen und gelegentliche Anſprachen
oder Privatgeſpräche in den kleinſten Dimenſionen die erſten Funken
des Feuers entzündeten, welches dann in wenig Wochen ſich über
jene ganze Gegend verbreitete und in Verſammlungen von Tauſen-
den und Zehntauſenden unter freiem Himmel zu gewaltiger Lohe
ausbrach, alle Kirchen füllte, die Stätten des Trunks, der Hurerei
und anderer weltlicher und ſündlicher Luſt entleerte, die Wohnungen
der Gottloſen oder Gedankenloſen, der Sünder und Zöllner in
Bethäuſer verwandelte. Dinge, die für den Augenblick wenigſtens
diejenigen zu rechtfertigen ſchienen, welche in alle Dem den Anfang
einer „neuen Aera‟ des Reiches Gottes auf Erden, einer neuen
Ausgießung des Heiligen Geiſtes ſehen wollten, während allerdings
beſonnenere oder ängſtlichere, oder in entgegengeſetztem Sinne befan-
gene, kritiſchere Beobachter in demſelben Maaße Grund zu mehr
oder weniger gewichtigen Bedenken fanden. Namentlich gaben die
bekannten, am meiſten in die Augen fallenden und von andern
Seiten als entſcheidendes Moment und Zeugniß der Wirkung des
Heiligen Geiſtes hervorgehobenen Erſcheinungen, welche mit dem
gleichſam techniſchen Ausdruck „being struck‟ Es iſt kaum möglich, einen etymologiſch ganz genügenden deutſchen Ausdruck
dafür zu geben und ein Sprachgebrauch hat ſich bei uns begreiflich darüber
noch nicht gebildet. „Befall‟ oder „Befallenwerden‟ dürfte am
eheſten entſprechen. Auch kurzweg „cases‟, Fälle, kommt ſehr oft vor. bezeichnet wurden,
Grund zu den ſchlimmſten Deutungen. Nach Verlauf von etwa
neun bis zehn Monaten nahm die Bewegung in ihrem urſprüng-
lichen Sitz allmählich einen viel ruhigeren Charakter an und wenn
ſie auch keineswegs aufhörte, ſo zog ſie wenigſtens in ihren äußeren
Erſcheinungen nicht länger die Beachtung in weiteren Kreiſen und
ſo auch bei uns auf ſich. Gleichzeitig aber verbreitete ſich das
Revival theils in Jrland ſelbſt und ſogar auf römiſchem Gebiet,
wenn auch langſam und in äußerlich ſehr abgeſchwächter Form,
theils zunächſt und beſonders in Wales, dann in Schottland und
bald auch in England. Hier war die Entwicklung und iſt ſie bis
auf dieſen Augenblick eine ſprungweiſe, ſporadiſche — je nachdem zu-
nächſt von Jrland aus durch einzelne von dort zurückgekehrte Gläu-
bige Funken jenes Feuers verbreitet wurden, dann theils durch
ähnliche Verbreitung aus dieſem neuen Herde, theils durch allmähliche
Ausdehnung jedes einzelnen Herdes, endlich auch mehr regelmäßig
durch eine beſtimmtere Organiſation der zu einer aktiven Betheiligung
geeigneten und angeregten Kräfte. Dieſes letztere Stadium erreichte
die Bewegung beſonders, ſeit ſie ſich an die Erweckung und Be-
kehrung der gewaltigen Weltſtadt an der Themſe zu wagen den
Muth fand. Was in dieſem Sinne zunächſt für den Kampf in
London ſelbſt geſchah, das wurde zugleich aus nahe liegenden Grün-
den mehr oder weniger Mittelpunkt der ganzen Bewegung, die ſich
denn bald wie ein mehr oder weniger weit geflochtenes Netz mit
ſeinen einzelnen Knoten über das ganze weite Gebiet der britiſchen
See- und Colonialwelt verbreitete, ſo daß wenigſtens einzelne Herde
des Brandes kaum in einer der bedeutenderen Anſiedelungen, weder
in Weſt- noch Oſtindien, noch in China, noch in Auſtralien und
der Südſee fehlen. Dazu kommt denn, daß namentlich in London
ſelbſt die Revivalbewegung ſich allmählich mehr oder weniger mit
anderen Strömungen der chriſtlichen Liebesarbeit in den unteren
und am meiſten verwahrloſten ſocialen Schichten vermiſchte, ſo daß
kaum ein Zweig z. B. der ſogenannten home mission ohne mehr
oder weniger innige Beziehung oder zum Theil auch organiſche Ver-
bindung mit den Organen und Arbeiten des Revivals ſein durfte.
Es genügt, hier z. B. auf die Predigten im Freien, in Theatern
und anderen profanen Localitäten und auf die ſogenannten „Mitter-
nachtsverſammlungen‟ (midnight meetings) zur Bekehrung der
Opfer der Proſtitution hinzuweiſen. Aber nicht blos auf dieſen
Gebieten der inneren Miſſion iſt die Revivalbewegung thätig, ſon-
dern auch aus den Stationen der äußeren oder Heidenmiſſion unter
bekehrten Hindus und Südſeeinſulanern wird von Gebetsverſamm-
lungen u. ſ. w. ganz in dem Sinne und mit den Erſcheinungen
berichtet, welche zu der Signatur des Revivals gerechnet werden.
Ja, die Jdee einer die entfernteſten Enden der chriſtlichen Welt
aller Zonen verbindenden Gebetsgemeinſchaft zur Herbeiführung
einer allgemeinen Ausgießung des Heiligen Geiſtes, zu Stärkung,
Erweckung und Bekehrung aller im Glauben oder Wandel Schwachen,
Schlafenden oder Todten iſt bekanntlich von Oſtindien ausgegangen,
obgleich freilich das Moment der Fürbitte auch in die Ferne von
vorne herein ſehr charakteriſtiſch ſchon bei den amerikaniſchen und
iriſchen Revivals hervortrat und dann in London ſich gleichſam
centraliſirte. Endlich iſt auch bei Gelegenheit der Elberfelder Er-
weckungen und neuerdings durch das Auftreten einiger der bedeu-
tendſten engliſchen Nevival-Notabilitäten in Paris, ſowie durch
analoge Erſcheinungen in Jtalien die Verbreitung der engliſchen
Propaganda auch auf dem Feſtlande conſtatirt. Das ſind indeſſen
nur ſehr ſchwache Anfänge, deren eventuelle Zukunft ganz entſchieden
von der Frage bedingt wird, auf welche ich ſpäter um ſo ausführ-
licher zurückkommen muß, da ſie für uns gerade die Hauptfrage iſt,
nämlich: wie wird, ſoll, darf in Deutſchland dieſe Sache namentlich
von den amtlich oder ſonſt dazu berufenen Organen und Vertretern
der Kirche behandelt werden? —
Wenden wir uns nach den britiſchen Jnſeln zurück, ſo ſteht
zunächſt feſt, daß die Bewegung, weit entfernt — wie man bei uns
ziemlich allgemein auch in ſpecifiſch chriſtlichen Kreiſen annimmt —
ſtille zu ſtehen oder gar zu ſchwinden, vielmehr ſeit ihrem erſten
Ausbruch in Jrland und bis auf dieſe Stunde keinen Augenblick
aufgehört hat, ſowohl in Jrland, als noch viel mehr in Wales,
Schottland und England nicht nur an Wachsthum, ſondern auch an
Geſundheit zu gewinnen. Auch jetzt vergeht kaum eine Woche, wo
nicht da und dort und aller Enden ſich neue Revivalherde oder
Organe wenigſtens in den erſten Pulſationen und Keimen ſpüren
ließen, die dann ſehr bald eine mehr oder weniger geregelte Form
annehmen und mit dem großen Centrum in London in Beziehung
treten oder gezogen werden, wenn die Anregung nicht ohnehin von
dort ausgegangen — kaum ein Tag, wo nicht die mehr oder weniger
ältern, ſchon mehr oder weniger organiſirten Stationen ſich durch
mehr oder weniger zahlreiche individuelle Annexationen ausbreiteten
und verſtärkten. Daß hier von einer auch nur approximativen
Statiſtik nicht die Rede ſein kann, liegt auf der Hand — genug,
daß jene Organe nach vielen Hunderten und ihre Zunahme nach
Dutzenden, die aktiv oder paſſiv ihnen mehr oder weniger nahe
angehörenden Jndividuen nach Tauſenden und Zehntauſenden und
deren tägliche Zunahme nach Hunderten berechnet werden können.
Wer nun daraus ſchließen wollte, daß die Sache in England
ſelbſt irgend allgemeine Beachtung, gleichviel in welchem Sinn,
finde, oder der Natur der Sache nach finden könnte und ſollte, der
muß gar keinen Begriff, Anſchauung noch Maaß von Weſen, Cha-
rakter, Zuſchnitt und Ausdehnung jener britiſchen Welt haben, in
deren rieſenmäßig großartigem Ganzen auch die an ſich und in
ihrem relativen Verhältniß zu einander oder gar zu entſprechenden
Momenten in andern Ländern bedeutendſten einzelnen Momente (auf
der Oberfläche jedenfalls und für den oberflächlichen Beobachter)
mit wenig und nach Zeit und Ort vorübergehenden Ausnahmen
verſchwinden. Zu ſolchen ganz lokalen Ausnahmen gehörte ſeiner
Zeit eben die maſſenhafte Erſcheinung des Revivals in Ulſter, oder
auf einem anderen Gebiet und in weiterer Verbreitung das volunteer
movement auf ſeinem Höhepunkt — beide aber eben auch nur vor-
übergehend und bald in dem Wogengetümmel des großen Oceans
des britiſchen Lebens verſchwindend, oder, als gewohnheitsmäßig
hergebracht, kein Aufſehen mehr erregend. Am wenigſten darf man
begreiflich erwarten, die Anzeichen der Thätigkeit der Revivalbe-
wegung auf der Oberfläche des Lebens in London, dem gewaltigen
Maelſtrom jener See, zu entdecken — das Auge müßte denn gerade
zufällig auf eine der verhältnißmäßig mikroſkopiſchen ſpeciellen
Strömungen fallen, die ſich um einen der Mittelpunkte des Revivals,
zu oder von einem prayer meeting oder einer Theaterpredigt u. ſ. w.
bilden mögen. Und doch hat gerade in London das Revival alle
ſeine Kräfte auf’s äußerſte angeſtrengt, um dieſe Welt in der Welt
zu bezwingen oder doch einen irgend merklichen Eindruck auf ſie zu
machen. — Ja, der Eifer, um jeden Preis auch auf London die
Ausgießung des Heiligen Geiſtes gleichſam zu erzwingen, hat gerade
hier manche bedenkliche Erſcheinungen hervorgerufen oder geſteigert,
die anderwärts entweder gar nicht, oder nur in viel geringerem
Grade vorkommen. — Etwas gleichſam äußerlich Erzwungenes,
Gemachtes, bis auf einen gewißen Punkt und in gewißem Sinn
bei dem aufrichtigſten Eifer doch Unwahres iſt oft nicht zu ver-
kennen.
Gehen wir nun von dieſen ganz äußerlichen materiellen Punkten
zu dem innern Weſen dieſer Sache über, ſo bietet ſich der natür-
liche Uebergangspunkt in einem Moment dar, welcher zwar zunächſt
auch nur ein äußerlicher iſt, wodurch aber doch ſchon weſentlich die
ſittliche Signatur und Berechtigung bedingt wird — nämlich die
Natur und Stellung der dabei aktiv oder paſſiv betheiligten ſocialen
Elemente. Zu einem richtigen Verſtändniß des ganzen Revival-
weſens gehört aber vor allen Dingen die Beſeitigung der optimi-
ſtiſchen Jlluſionen über das religiöſe und ſittliche Volksleben in Eng-
land, die (wenn auch abnehmend), wie überhaupt in der ſpecifiſch
chriſtlichen Welt in Deutſchland, ſo namentlich auch ohne Zweifel in
Jhrem Kreiſe, geehrteſter Freund, ſehr allgemein verbreitet ſind und
dann freilich nur allzu ſehr in der bis zur unbegreiflichſten Verblendung
oder Heuchelei gehenden hochmüthigen nationalen Selbſtgerechtigkeit
der Engländer ihre ſcheinbare Beſtätigung finden. Die entſprechenden
Zeugniße ſolcher unſerer chriſtlichen Freunde, die auch Sie, geehrteſter
Freund, mir ohne Zweifel entgegenhalten werden und die ſich dann
auch auf eigene Anſchauung berufen können, kann ich vollkommen in
Ehren halten, ſoweit ſie gehen! Aber ſie gehen eben nicht weiter
als der Horizont eines oder des andern der, Gottlob, noch immer
ſehr zahlreichen Kreiſe aufrichtig lebendiger, gläubiger und auch
äußerlich kirchlicher Familien, worin ſolche Englandsfahrer ſich in
jeder Hinſicht und vor Allem auch in der reichlichſten Befriedigung
ihres religiöſen und kirchlichen Bedürfnißes zu wohl befunden haben,
um nicht die dort herrſchenden nationalen Vorurtheile willig und
partem pro toto, die Ausnahme für die Regel, anzunehmen. Ohne
auf eine weitere Erörterung einzugehen, muß ich leider ſolchen Licht-
bildern gegenüber mich auf die mir durch wiederholte, ohne Zweifel
weniger gemüthliche, aber vielleicht einen freieren weitern Blick
auf mannigfaltigere Zuſtände gewährenden Reiſen und Stationen
in England erhaltenen Eindrücke berufen, welche durch zahlreiches,
wenn auch weniger bekanntes oder beliebtes engliſches Material
beſtätigt ſind, wenn ich Jhnen, g. Fr., das Verhältniß des Revivals
zu den ſittlichen und religiöſen oder überhaupt geiſtigen Zuſtänden
im Allgemeinen in wenig Zügen anſchaulich machen ſoll.
Danach nun ſteht einerſeits das Vorherrſchen einer gewißen
chriſtlichen und kirchlichen Haltung bei den mittleren und höheren
Ständen feſt — mögen ſie nun (mit der großen Majorität) der Landes-
kirche, oder mit einer (immerhin in den unteren Mittelſchichten ſehr
bedeutenden) Minorität einer diſſentirenden Sekte oder denomination
angehören. Bekanntlich wird im liberal-rationaliſtiſchen und radical-materialiſtiſchen
Jargon in England der Ausdruck sectarian auch auf die Landeskirche aus-
gedehnt, ſo daß der in ebenſo weitem Sinne gebrauchte Ausdruck denomi-
nation ſogar der am wenigſten verletzende iſt! Damit wäre nun Alles geſagt, wenn wir wirklich
verpflichtet oder auch nur berechtigt wären, uns in ſolchen Fragen
bei den äußern Thatſachen zu begnügen: dem regelmäßigen Kirchgang,
dem (ſehr ſeltenen) Genuße des Heiligen Abendmahls und der
ziemlich regelmäßigen, wenn auch meiſt ſehr knappen und trockenen
häuslichen Andacht und ebenfalls gelegentlichen Beſchäftigung mit
der Heiligen Schrift. Gehen wir aber tiefer oder darüber hinaus,
und vergleichen dieſe wenigen äußerlichen Symptome mit der ganzen
äußeren und noch mehr mit der ganzen inneren geiſtigen Lebens-
haltung, ſo drängt ſich unabweislich die Ueberzeugung auf, daß eben
jene Dinge bei der ſehr großen Mehrzahl einen weſentlich nur formalen,
äußerlichen, von der ganzen Lebenshaltung iſolirten Charakter haben
und ſich in der Regel mit einem unendlich geringen Jnhalt tieferer
Erkenntniß und lebendigen Glaubens und mit einem, wenn auch
nicht poſitiv und äußerlich anſtößigen, doch vollkommen weltlichen
Wandel und namentlich einer durchaus pelagianiſchen Geſinnung
und Bildung vertragen. Mit einem Worte: jene äußere Haltung
gehört nun einmal zu dem, was in keinem Lande eine ſo hohe,
Alles beherrſchende Geltung und Gewalt hat — zu einer gewißen
bürgerlichen und ſocialen Reſpektabilität. Dieſer will ich
einen gewißen höheren Werth und Berechtigung, als Symptom und
an ſich nicht abſprechen; jedenfalls aber wird ſie gar ſehr überſchätzt,
wenn man Erſcheinungen, die ganz überwiegend unter ihrem Ein-
fluß ſtehen, einer ſo viel höheren Sphäre, wie das eigentliche reli-
giöſe Leben iſt, zuſchreibt. Daß es nun mitten in dieſer äußerlich
kirchlichen, innerlich aber ziemlich neutralen, todten Maſſe mehre
Strömungen oder Punkte gibt, in denen ein ſehr kräftiges, tiefes
und aufrichtiges religiöſes und meiſt auch ſpecifiſch kirchliches Leben
pulſirt, wird Niemand freudiger anerkennen, als ich — mag ſolches
nun als Richtungs- oder Parteiſache im Bereich der Landes-
kirche, oder in einer der Sekten ſich zeigen, die größtentheils weſent-
lich eben in Folge eines ſolchen Jmpulſes von derſelben abgefallen,
ſehr bald ſelbſt wieder, in ihrer Maſſe von demſelben Veräußer-
lichungs- und Verholzungsprozeß mehr oder weniger ergriffen, ihre
eigentlichen Lebenspulſe nur in engern Kreiſen zu bewahren ver-
mochten. Jm Gegenſatz zu jenen wenigſtens nominell und formal
religiöſen und je nach ihrer Denomination auch kirchlichen, höheren
und mittleren Schichten des ſocialen Grund und Bodens ſind nun
die unteren Schichten ganz überwiegend einer gänzlichen auch
äußerlichen Entfremdung von allem kirchlichen-religiöſen Leben ver-
fallen, welches nur inſofern im Großen und Ganzen noch Unter-
ſchiede darbietet, als es bei der Mehrzahl den mehr blos negativen
Charakter der Gleichgültigkeit, eines rohen Stumpfſinns gegen alle
höheren Jntereſſen, einer Beſchränkung auf das rein Materielle und
zwar oft der niedrigſten, faſt nur animaliſchen Bedürfniße bedeutet,
während bei einer Minorität ſich mehr und mehr eine poſitiv feind-
ſelige Haltung gegen jede poſitive Religion entwickelt. Jn dieſem
Sinne wirkt namentlich neuerdings eine materialiſtiſch atheiſtiſche
Propaganda, von deren Umfang und Thätigkeit man in höheren
und chriſtlichen Kreiſen auch in England kaum eine Ahnung hat
und die bei uns natürlich ganz unbekannt zu ſein ſcheint, wenn man
immer wieder die engliſchen Zuſtände in dieſer Beziehung als einen
beſchämenden Gegenſatz nicht etwa blos für unſere weſtlichen Nach-
barn, ſondern auch für uns hinſtellen zu dürfen meint. Was in
Frankreich noch von populärem voltairiſirendem Unglauben mit
aktiver Feindſeligkeit pulſirt, iſt Kinderei gegen jenen engliſchen
Materialismus. Der Einfluß dieſes ſogenannten secularist move-
ment iſt aber um ſo größer, da unter den Wortführern unſtreitig
mehre wirklich nicht nur geiſtig begabte und gebildete, ſondern auch
ſittlich und bürgerlich unbeſcholtene Männer ſind. Dieſe poſitive
Oppoſition gegen Chriſtenthum und Kirche findet ſich beſonders unter
den intelligentern Elementen der ſogenannten arbeitenden Claſſen in
den Städten und unter der Fabrikbevölkerung, während unter den
ländlichen Arbeitern mehr jener Stumpfſinn vorherrſcht, der ſich zum
Theil gar wohl mit einer äußerlichen Kirchlichkeit verträgt, noch
öfters aber mit einer ſittlichen Zerrüttung verbunden iſt, wozu,
wenigſtens nach der geſchlechtlichen Seite, namentlich die Wohnungs-
verhältniße faſt unfehlbar führen. Das letztere gilt auch von der
Maſſe der ſtädtiſchen Arbeiter — jedoch keineswegs in höherem
Maaß als auf dem Lande, wie man ſo oft nach doktrinären oder
ſocialen Vorausſetzungen und Sympathien behauptet hat. Jm
Gegentheil ſteht namentlich die viel verſchrieene Fabrikbevölkerung,
beſonders auf dem Lande, durchſchnittlich in jeder Beziehung höher
als die eigentlichen ländlichen Arbeiter. Dazu kommt endlich ſowohl
zu Stadt als zu Land, obgleich überwiegend in den großen Städten,
zumal London, die eigentliche ſociale Hefe, jene faulige Maſſe,
welche ſich in den Cloaken des ſocialen Lebens wälzt, in gänzlicher
ſittlicher, religiöſer und intellektueller Verwilderung, meiſt ohne einen
andern Zuſammenhang mit der modernen Civiliſation als durch
deren Laſter, großentheils im Elend oder von Sünde und Ver-
brechen lebend, zum Theil auch im Betrieb der niedrigſten Arten
der Jnduſtrie (wie z. B. die ſogenannten costermongers u. ſ. w.)
die Mittel zu einer Art von rohem Wohlleben gewinnend. Dieſer
Auswurf des ſocialen Lebens, wovon die am tiefſten Gefallenen
des weiblichen Geſchlechts einen ſo großen Theil bilden, findet ſich
in England nach Verhältniß anderer ſtatiſtiſcher Momente (Be-
völkerung u. ſ. w.) in größern Maſſen und tritt frecher hervor, als
in irgend einem andern Lande. Zur Orientirung in dieſen Regionen findet man das vollſtändigſte Material
in Mayhew’s London Labour and London Poor — einem Buch, wovon Zur Charakteriſtik dieſer Zu-
ſtände nach der kirchlichen Seite genügt die Thatſache, daß die
innere Miſſion (namentlich z. B. die der äußerſten hochkirchlichen
Richtung angehörende Guild of St. Alban) ſeit Jahren ſich in dem
Falle ſieht, jährlich Hunderte von Erwachſenen aus dieſer Hefe zur
heiligen Taufe zu bringen, während viele Tauſende außer der Taufe
nie irgend eine Beziehung zu Kirche oder Schule gehabt haben.
Erwägen wir, geehrter Freund, dieſe Zuſtände und das darin
unverkennbare Vorherrſchen von Zügen und Elementen, die poſitiv
oder negativ dem chriſtlichen Geiſt und Leben und aller kirchlichen
Ordnung und Gemeinſchaft entfremdet ſind und jedenfalls in den
tieferen Regionen alle Gräuel des ſchlimmſten Heidenthums dar-
bieten, während anderſeits auch der Gegenſatz des kräftigſten Glau-
benslebens in verſchiedenen kirchlichen Geſtaltungen nicht fehlt, ſo
wird es uns wohl nicht ſehr befremden, daß gerade hier der Ge-
danke der Erweckung, Bekehrung, Neubelebung dieſer Maſſe von
geiſtlich oder ſittlich Todten oder Sterbenden entweder ſeinen Ur-
ſprung, oder, über den Ocean herübergetragen, jene raſche Verbreitung
fand, während bei der im Nationalcharakter begründeten Energie
der beſten wie der ſchlimmſten Kräfte und bei der äußeren Freiheit
des öffentlichen Lebens dem Gedanken viel raſcher als anderwärts
die That folgte. Schon die Erinnerung an die methodiſtiſchen Er-
weckungen im vorigen Jahrhundert konnte auf dieſen neuen Aus-
bruch des unterirdiſchen chriſtlichen Liebesfeuers vorbereiten und an
einzelnen kleinen lokalen Eruptionen hat es in der Zwiſchenzeit
auch in England nicht gefehlt — Amerika’s und ſeiner Camp-
meetings u. ſ. w. nicht zu gedenken.
Daß dieſe rettende That ſich hauptſächlich den leidenden oder
gefährdeten Theilen zuwandte, welche die am meiſten in die Sinne
fallenden Symptome des Uebels zeigen, den poſitiv verwilderten
unteren Claſſen, wird keiner Erklärung bedürfen, wenn man eine
Anſchauung von der innern und äußern Verſchloßenheit und ſelbſt-
zufriedenen Sattheit der höhern und mittlern Claſſen hat. Mögen
daher auch manche „reſpektable‟ Leute und Kirchengänger oder
auch manche, demſelben religiöſen Typus in den untern Claſſen
hier nur ſo viel geſagt werden ſoll: wer dasſelbe nicht gründlich kennt, hat
gar keinen Beruf, über engliſche Zuſtände nach ihrer Schattenſeite zu
urtheilen.
entſprechende Jndividuen in den Bereich des Revivals gezogen
werden, ſein eigentliches Gebiet waren und ſind die untern Schich-
ten, ſowohl in ihren relativ beßern Elementen, als beſonders in
den tiefern Abgründen des ſocialen Lebens. Dagegen hat der poſſi-
tive, mehr oder weniger bewußte, geſchulte und aggreſſive Unglauben,
gleichviel in welchen ſocialen Regionen, wenig oder keine Berüh-
rung mit dieſer religiöſen Strömung gehabt, der er nur aus der
Ferne gelegentlich Pfeile wohlfeilen Spottes zuſandte, indem er doch
zugleich dieſe energiſche Thätigkeit als einen beſchämenden Gegenſatz
der Trägheit der Mehrzahl der formalen Chriſten und ihrer Hirten
vorhielt.
Suchen wir nun nach den thätigen Faktoren ſolcher Einwirkung
auf dieſe ſocialen Schichten, ſo verſteht ſich zunächſt von ſelbſt, daß
ſie nur aus den ſehr entſchieden religiös in lebendigem Glauben zu
rettender Liebesthat ſelbſt angeregten Kreiſen hervorgehen konnten.
Auch in dieſen wird man keine große Auswahl ſolcher Rüſtzeuge
zu finden erwarten — was wenigſtens die Jnitiative und Führer-
ſchaft betrifft. Eher müßte die große Zahl der an dieſem Werke
Betheiligten Befremden erregen, wenn bedeutende Begabung oder
Bildung im gewöhnlichen Sinne als unerläßliche Forderungen zu
einem ſolchen Berufe zu betrachten wären; aber gerade dies iſt, wie
wir weiterhin ſehen werden, keineswegs der Fall. Was die ſpecifiſch
kirchlichen Quellen betrifft, aus denen jene Strömung ſich haupt-
ſächlich nährte, ſo iſt ſchwerlich eine einzige unter den proteſtan-
tiſchen Denominationen England’s, die nicht ihr Contingent ſtellte —
und zwar Geiſtliche und Laien ohne Unterſchied, obgleich erſtere in
relativ größerer Zahl — wenigſtens was die Leitung der Sache
und die Wortführung betrifft. Auch in der biſchöflichen Kirche
haben ſich viele Laien und nicht wenige Geiſtliche an dem Werke
betheiligt und ſogar Biſchöfe haben ihre Sanktion mit Wort und
That dazu gegeben. Allerdings aber beſchränkt ſich dieſe Betheili-
gung auf die ſogenannte evangeliſche Partei der Kirche, während
die hochkirchliche Partei, zumal in ihren tractarianiſirenden Extremen,
ſich entſchieden fern und gelegentlich poſitiv feindſelig mit großer
Gehäßigkeit dagegen verhielt. Doch iſt nicht zu überſehen, daß
gerade dieſe letzte Richtung in ihrer, wenn man will hyperkirch-
lichen Weiſe, ihr eigenes, wenn auch mehr beſchränktes, excluſives
Revival hat, worin ſie auch ſolche Mittel nicht verſchmäht, die weit
über die Gränzen der früheren hochkirchlichen Routine hinausgehen.
Dahin gehören die Schweſter- und Bruderſchaften mancher Art
(wie die Guild of St. Alban) und iſt ſogar die Feldpredigt nicht
ausgeſchloßen, womit manche der ausgezeichnetſten Vertreter dieſer
Richtung, wie der edle Wilberforce (Biſchof von Oxford), ge-
legentlich auftraten, der, wenn zu irgend einer Partei, jedenfalls
zu jener zu rechnen iſt. Derſelbe Grund kirchlicher Excluſivität, der
hier die Betheiligung an jener Bewegung eben wegen der allge-
meinen Betheiligung aller anderen Denominationen und der Ver-
miſchung von Laien und Geiſtlichen hinderte, wirkte natürlich in
noch höherem Grade in der römiſchen Kirche, die überdies durch
die in den iriſchen Verhältniſſen bedingte poſitiv und oft propagan-
diſtiſch feindſelige Haltung der erſten Revivals zu um ſo ſchrofferem
Gegenſatz gedrängt wurde. Am thätigſten haben die Methodiſten,
ſchon um ihrer eigenen Antecedentien willen, dann auch die Baptiſten
und Presbyterianer ſich bei dem Revival betheiligt. Die ſchottiſche
Freikirche (wenn ich nicht irre, ſpäter auch die presbyterianiſche
Staatskirche) hat dasſelbe officiell als ein Werk des Heiligen Geiſtes
anerkannt und empfohlen. Jn der That iſt es einer der bedeutungs-
vollſten und eigenthümlichſten Züge der Sache, daß ſchwerlich bei
irgend einer anderen Gelegenheit, auf irgend einem anderen Gebiete
ſich in ſo großem Maaßſtabe zu ſo bedeutender Thätigkeit Vertreter
ſo vieler verſchiedener chriſtlicher Gemeinſchaften verbunden haben.
Wie man dieſe Erſcheinung auch von dieſem oder jenem Stand-
punkte aus beurtheilen möge — überſehen darf man ſie von keiner
Seite. Und wenn man nicht überhaupt und unbedingt eine evan-
geliſche Allianz verwirft, ſo dürfte gegen dieſe Arbeitsgenoßenſchaft
auf dem Felde des Unglaubens und des Abfalls wenig einzuwenden
ſein — wenn ſie dabei ſtehen bleibt. So weit, geehrteſter Freund,
für diesmal, da ich erſt hören möchte, was Sie über die bisher
verhandelten Punkte etwa für Bedenken haben, um ſie bei der Fort-
ſetzung zu berückſichtigen, die uns zunächſt zu den Mitteln und dann
zu den Wirkungen des Revivals führen würde. Alſo u. ſ. w.
2
Dritter Brief.
Jhrem, mir ſehr erfreulichen Wunſche gemäß, geehrteſter Freund,
gehe ich, ohne auf Früheres zurückzukommen, zu den Mitteln über,
deren das Revival ſich bedient. Dieſe ſind nun aber an ſich ſo
bekannt, ſo einfach, ſo berechtigt, und in der ganzen Chriſtenheit
ſeit deren Urſprung ſo wohl hergebracht, daß darüber kaum viel zu
ſagen ſein dürfte. Predigt und Gebet ſind ohne allen Zweifel
die beiden Angelpunkte, in denen ſich dieſe ganze Sache bewegt,
wenn wir die beiden Momente im weiteſten Sinne verſtehen: alſo
namentlich mit Einſchluß der Seelſorge in den mannigfaltigſten
Formen der erweckenden, erbauenden Einwirkung des Verkehrs aktiver
und paſſiver Beziehungen gläubiger und glaubensbedürftiger Chriſten
unter einander. — Zu näherer Charakteriſirung dürfen nun noch
folgende Punkte dienen. Erſtlich was die Quantität und Qualität
der Predigt betrifft, ſo ſteht dieſe inſofern in keinem Verhältniß
zu jener, als unter den unzähligen (im weitern Sinn) geiſtlichen
Anſprachen, die unter den verſchiedenartigſten Verhältniſſen gehalten
worden ſind und werden, verhältnißmäßig nur wenige vorkommen,
die auf eine irgend bedeutende Begabung der Prediger (Geiſtliche
oder Laien) ſchließen laßen. Darin unterſcheidet ſich dies Revival
namentlich von den methodiſtiſchen Erweckungen des vorigen Jahr-
hunderts, und ich wüßte nicht einen einzigen unter den eigentlichen
Erweckungspredigern unſerer Tage zu nennen, den irgend Jemand
mit den Wesleys, Whitfield u. ſ. w. zu vergleichen gewagt hätte.
Von Spurgeon, wie hoch ſein Publikum denn auch ſeine Gaben
anſchlagen mag, iſt hier nicht die Rede, da er ſich nicht eigentlich
beim Revival betheiligt hat, ſondern ſeinen eigenen Weg geht.
Wie dem auch ſei, mit wenigen Ausnahmen, die, zumal ſeitdem in
London um jeden Preis der Sieg errungen oder doch feſte Punkte
erkämpft werden ſollen, vorgekommen ſein mögen — ich nenne z. B.
einen Weaver und Ratcliffe, die in ihrer ſehr populären Weiſe
allerdings bedeutende Begabung entwickeln — zeichnen ſich die Revival-
predigten größtentheils durch eine gewiße Einfachheit, Nüchternheit,
um nicht zu ſagen Trivialität in ihrer rhetoriſchen Form aus. Natür-
lich iſt dies unbeſchadet der hohen Dignität und Kraft gerade der
einfachſten ſchriftmäßigen Heilswahrheiten zu verſtehen, welche den
weſentlichen Jnhalt dieſer Predigten bilden. Der Erfolg ſelbſt
aber zeigt, daß jene Einfachheit einen hohen Grad von Wirkſamkeit
eben dieſer Themata nicht ausſchließt, ſondern bedingt. Fragen Sie
mich aber weiter, geehrteſter Freund, worin denn die wirkſamen
Eigenthümlichkeiten dieſer Predigten liegen, ſo kann ich Jhnen keine
andere Antwort geben, als die: es muß gerade darin liegen, daß
die Wirkſamkeit der gewaltigen Texte von der Sünde, der Reue,
Buße und Vergebung aus Gnaden u. ſ. w. eben durch die ſchmuck-
loſe Einfachheit, wenn man will ſogar Crudität, einer doch zugleich
ſehr dringenden, unmittelbar perſönlichen Anwendung und gleichſam
Zuſpitzung und beſonders durch den ſubjectiven Ernſt und Eifer des
Predigers geſteigert wird. Auch ſoll nicht geläugnet werden, daß
manche Punkte, z. B. die Gefahr der ewigen Verdammniß durch
Aufſchub der Bekehrung, auch wohl die Funktionen des Teufels,
die Schrecken der Hölle ſehr oft und ſtark und nicht ſelten in craſſer
Weiſe betont werden — jedoch, wie geſagt, meiſt ohne alle beſondere
oratoriſche Begabung. Dazu kommt dann — ſobald wir den Be-
griff der Predigt weiter ausdehnen — die außerordentliche Steige-
rung der Wirkſamkeit weſentlich ähnlicher Worte, wenn ſie zumal
bei einer ohnehin homogen aufgeregten Stimmung in dem unmittel-
bar individuellen ſeelſorgeriſchen Verkehr Auge in Auge gebraucht
werden. Uebrigens muß ich hier gleich dem ziemlich verbreiteten
Jrrthum entgegentreten, wonach die Wirkungen dieſer Predigten
und der damit ſonſt verbundenen Einflüße durchweg oder auch nur
überwiegend den Charakter des ganz unvorbereitet Plötzlichen und
dadurch ſchon faſt Wunderbaren trügen. Dies iſt keineswegs der
Fall, ſondern in vielen, ja den meiſten Fällen, namentlich auch im
Anfang in Ulſter, war nachweislich ſchon Monate vorher in den
meiſten Kirchen bei den regelmäßigen Gottesdienſten ein beſonderes
Gewicht auf dieſelben Punkte gelegt worden, die dann das Revival
mit ſo gewaltiger, aber nur ſcheinbar plötzlicher Wirkung aufnahm.
Allerdings alſo hat eine Vorbereitung des Bodens, der Atmoſphäre
Statt gefunden; aber weder dieſe noch die eigentliche Revival-
predigt würde hinreichen, jene Wirkungen zu erklären, wenn ſie nicht
Hand in Hand giengen mit dem zweiten Hauptfaktor des Revivals,
dem Gebet, welches denn ebenfalls in den mannigfaltigſten For-
2 *
men, unter den verſchiedenartigſten äußern Umſtänden einen ſo ent-
ſcheidenden und charakteriſtiſchen Zug der ganzen Bewegung bildet —
von dem Gebet des Einzelnen im ſtillen Kämmerlein, beim Gottes-
dienſte in Kirchen, bis zu den Maſſengebeten der open air meetings
von vielen Tauſenden und der gruppenweiſen, oder auch individuellen
Gebetsbearbeitung in dieſen Maſſen — dann alle dazwiſchen liegen-
den Abſtufungen und die Anwendung auf jedes in dem Begriff der
Erweckung liegendes Bedürfniß Einzelner und der ganzen Chriſten-
heit nebſt allen dazwiſchen liegenden Kreiſen menſchlicher Gemein-
ſchaft. Als mit wenig Ausnahme gemeinſamer Zug dieſer ganzen
Gebetsarbeit muß wohl der ſubjektive Charakter hervorgehoben wer-
den im Gegenſatz zu dem objektiv und rituellen kirchlichen Gebet,
welches ohnehin bei den im Revival vorherrſchend vertretenen De-
nominationen ſehr zurücktritt. Auch bei den Vertretern der ſo über-
wiegend rituellen Landeskirche findet in ſolcher Gemeinſchaft und
unter ſolchen Verhältniſſen dieſes kirchliche Moment weniger Raum
als ſonſt, ſondern muß der freien ſubjektiven Behandlung weichen,
wobei denn namentlich auch die Gränzen zwiſchen Gebet und Pre-
digt ſehr flüßig zu werden pflegen. Noch ein Moment muß ich
hervorheben, welches ebenfalls ſeinem Weſen nach zwiſchen Predigt
und Gebet ſchwankt und ſich nur durch die poetiſche Form und den
Hebel der Melodie unterſcheidet — das geiſtliche Lied, welches
in dem Revival eine ſo außerordentlich bedeutende Rolle ſpielt,
ohne daß auch hier der poetiſche Werth durchſchnittlich höher ſtände,
als der oratoriſche der Predigt. Zwar ſind unter den ältern eng-
liſchen hymns und psalms manche, die ſich unſerem beßern Kirchen-
lied, was den poetiſchen Werth betrifft, wenigſtens annähernd ver-
gleichen laßen, während freilich hinſichtlich der Melodie der niedri-
gen muſikaliſchen Anlage oder doch geringen Bildung der Engländer
Rechnung zu tragen iſt Bekanntlich iſt neuerdings, beſonders durch Hullah und ſeine zahlreichen
Schüler, das angelſächſiſche Singorgan des engliſchen Volks gleichſam wie-
der entdeckt und zu bedeutenden würdigen Leiſtungen entwickelt worden.. Aber die meiſten der ſehr zahlreichen
ad hoc gedichteten oder doch verfertigten Revivallieder zeichnen ſich,
abgeſehen von dem gegebenen erbaulichen Thema, nur durch einen
gänzlichen Mangel an Poeſie und oft durch poſitive Rohheit und
Geſchmackloſigkeit auch in der Form aus. An erfreulichen Aus-
nahmen fehlt es zwar nicht, aber dieſe zeichnen ſich keineswegs
durch ihre praktiſche Wirkſamkeit und Popularität aus. Dagegen
üben manche andere, völlig unbedeutende hymns hauptſächlich vielleicht
durch einen Refrain, worin gewiße Schlagwörter Wie z. B. das: „come to Jesus — come to Jesus — just now!‟ —
Manche lange Lieder beſtehen faſt nur aus drei bis vier immer wieder-
holten Sätzen. oft unzählige
Male wiederholt werden, von einer großen aufgeregten Maſſe ge-
ſungen, eine wahrhaft mächtige, auch völlig ungleichartige oder feind-
liche Elemente mit ſich fortreißende Wirkung, die ſich zu jener Auf-
regung als Urſache und Wirkung in gegenſeitiger Steigerung ver-
hält. Endlich und zu allem Ueberfluß muß unter den Faktoren und
Mitteln des Revivals natürlich auch die Preſſe gezählt werden,
als Trägerin derſelben Momente der Predigt und des Gebets im
weiteſten Sinne und mit Einſchluß der poetiſchen Form — ja auch
des muſikaliſchen Hebels (durch Notenbeilagen u. ſ. w.). Dabei
werden wir wohl auch Berichte, worin dem Revival ſein eigenes,
natürlich eben nicht ſehr dunkel gehaltenes Bild, ſeine Kämpfe und
Siege mit obligatem Commentar zur Anſchauung gebracht werden,
unter den Begriff der Predigt ziehen dürfen. Eins in’s Andere
gerechnet, kann es gewiß nicht befremden, wenn dies Alles in Bro-
ſchüren, regelmäßigen Zeitſchriften und fliegenden Blättern — mit
einem Worte in einer eigenen Revivalliteratur und Preſſe auch dem
Aermſten zugänglich gemacht, ſehr weſentlich zu der Ausbreitung
der Bewegung und namentlich zu der An- und Aufregung beige-
tragen hat, welche dann die Wirkung der mündlichen Predigt, des
Gebets, der individuellen Seelſorge ſo außerordentlich begünſtigte.
Was nun aber eben dieſe gehobene, aufgeregte Stimmung ſo-
wohl der Jndividuen, als mehr oder weniger zahlreicher Kreiſe und
Verſammlungen betrifft, ſo ſcheint es ſehr überflüßig, darüber zu
ſtreiten, ob ſie zu den Wirkungen oder zu den Urſachen des Revivals
zu rechnen. Es liegt auf der Hand, daß ſie beiden Kategorieen
angehört und daß eben darin und in ihrem Verhältniß der Wechſel-
wirkung zu Predigt, Gebet und Geſang ihre Hauptbedeutung als
vielleicht das zu den Erfolgen der Sache am entſcheidendſten mit-
wirkende Moment liegt. Dabei kommt vor Allem auch die bekannte,
allen Maſſenbewegungen und Verſammlungen gemeinſame Erſchei-
nung der gleichſam arithmetiſchen Steigerung der individuellen Auf-
regung durch Gegenſeitigkeit ſowohl der Jndividuen unter ſich, als
der Einzelnen in Beziehung zu der Maſſe und umgekehrt — eine
in mancher Hinſicht noch räthſelhafte Erſcheinung, wo pſychiſche und
phyſiſche Momente ſowohl zu den erhebendſten als zu den wider-
wärtigſten und oft unheimlichſten Wirkungen faſt unſcheidbar in
einander fließen. Wieweit gerade hier auch im weiteren Sinne
wirklich dämoniſche Kräfte ſich betheiligen oder entwickeln können,
darüber läßt ſich ſtreiten; gewiß aber treten unter ſolchen Umſtänden
oft Züge hervor, die kaum auf irgend eine andere Weiſe erklärt
werden können. Alle dieſe Momente nun fehlen auch dem Revival
nicht; die bedenklichſten darunter ſind aber bei manchen der Fälle,
welche die Revival-Terminologie mit dem Ausdruck being struck,
oder struck down bezeichnet, in ſolcher Steigerung hervorgetreten,
daß das ſehr weit verbreitete Vorurtheil gegen die ganze Sache,
welches ſich gerade daran knüpfte, nicht befremden kann, um ſo
weniger, da von entgegengeſetzter Seite unweiſer Begeiſterung für
die Sache nur allzuviel geſchehen iſt, um den Jrrthum zu veran-
laßen, als wenn dieſe Erſcheinungen die Hauptſache, gleichſam die
Blüthe oder edelſte Frucht des Revivals wären. Dieſen Punkt
etwas ausführlicher zu beſprechen kann ich ſowohl der Natur der
Sache nach, als in Folge Jhrer beſtimmten Aufforderung, geehrteſter
Freund, nicht umgehen, und obgleich ſich dazu auch ſpäter Veran-
laßung finden würde, ſo ziehe ich es doch vor, die hier ſchon
gegebene zu benutzen, damit ich dann nicht wieder darauf zurück zu
kommen brauche.
Zunächſt nun iſt die thatſächliche Vorausſetzung zu berichtigen,
wodurch ſie denn auch veranlaßt worden ſein mag, als wenn that-
ſächlich und objektiv dieſer Befall (wenn das einfache Subſtantivum
erlaubt iſt!) auch nur äußerlich einen irgend bedeutenden oder ent-
ſcheidenden Platz in der ganzen Bewegung einnähme. Zwar kamen
im Anfang und auf der Höhe des Revivals in Ulſter Fälle der
Art ziemlich häufig vor — freilich nach Verhältniß der vielen Tau-
ſende von überhaupt Betheiligten doch höchſtens zwei Procent; dann
fehlten ſie auch in Wales, Schottland und England nicht, obgleich
in zunehmend ſehr viel geringerem Verhältniß — irgend in’s Auge
fallend eigentlich nur während der erſten Paar Wochen an jedem
bedeutendern Herde oder Crater der Bewegung. Was dann das
Weſen und die Symptome der einzelnen Fälle betrifft, ſo zeigen ſie
bei manchen gemeinſamen Zügen, namentlich der äußeren Erſchei-
nung, doch eine große Mannigfaltigkeit ſowohl in der Jntenſität
derſelben Symptome, als in dem Vorhandenſein oder der Abweſen-
heit gewißer Symptome. Möchte auch wohl mit Grund zu behaupten
ſein, daß kaum ein Fall der Art rein auf pſychiſchem oder ſitt-
lichem Gebiet, ganz ohne Mitwirkung phyſiſcher Momente verläuft,
ſo fehlt es doch nicht an ſolchen Fällen, die ſich durch die Einwir-
kung einer ſehr gewaltſamen tiefen religiöſen Aufregung auf das
Nervenſyſtem ebenſo erklären, wie bei ſo manchen ſattſam bekannten
Erſcheinungen nervöſer Art in Folge von Schreck, Angſt, Schmerz
um wirklichen oder bevorſtehenden Verluſt geliebter Gegenſtände u. ſ. w.
Daran ſchließen ſich vielleicht eben ſo zahlreiche Fälle, wo zu dieſen
noch keineswegs pathologiſchen Affecten Erſcheinungen kommen, die
mehr oder weniger in das ſo unendlich weite, ſchwankende und
wechſelnde, mannigfaltige Gebiet der Nervenleiden, namentlich der
Hyſterie bis zur Katalepſis u. ſ. w. fallen. Dies kann um ſo weniger
befremden, da mindeſtens neunzig von hundert ſolcher Zufälle
beim weiblichen Geſchlecht vorkommen, wo bei einiger hyſteriſchen
Anlage unter den obwaltenden, ſo höchſt aufregenden äußeren und
inneren Umſtänden ein Ausbruch kaum zu vermeiden ſcheint. Zur
Charakteriſtik ſolcher Fälle gehört dann begreiflich vor Allem das
Mehr oder Weniger, das Verhältniß zwiſchen wirklich religiöſen
und ſinnlichen Momenten, und es läßt ſich nicht läugnen, daß viele
Fälle auf faſt ganz und rein hyſteriſche Symptome hinauslaufen,
bei denen dann bekanntlich ſehr oft ſittliche Schuld, Betrug gegen
Andere und Selbſtbetrug, oder thörichter perverſer Wille und na-
mentlich geſchlechtliche Momente von vorn herein oder ſpäter mit-
wirken. Gewiß aber wird kein in ſolchen Dingen Urtheilsfähiger
läugnen, daß auch bei einem höheren Grade hyſteriſcher Compli-
cation doch ein hoher Grad aufrichtiger und an ſich geſunder reli-
giöſer An- und Aufregung Statt finden kann. Endlich bin ich
meines Orts keineswegs vorbereitet, zu läugnen, daß nicht in dem
dunkeln Gebiet, worin ſich die nervöſen Affekte verlaufen, auch beim
Revival gelegentlich der Uebergang in das Gebiet wirklich dämoni-
ſcher Einwirkungen Statt gefunden haben mag. Jn ſolchen Fällen
mag dann die Erweckung, nachdem die Mittel, deren ſie ſich bediente,
vielleicht dazu beitrugen, das Uebel herbeizuführen, oder zum Aus-
bruch zu ſteigern, dennoch ſchließlich gleichſam als Exorcismus
wirken, während doch in den meiſten anderen Fällen nur die höchſte
Concentration der an ſich bekannteſten und berechtigtſten Erſchei-
nungen des Ueberganges von dem tiefſten, heftigſten Sündenbewußt-
ſein zu der höchſten Wonne des Erlöſungsbewußtſein aufzuweiſen
iſt. Daß Sie, geehrteſter Freund, an meiner Vorausſetzung dämo-
niſcher Möglichkeiten (mit unſerer aufgeklärten Welt) allzugroßen
Anſtoß nehmen werden, kann ich mir kaum denken; jedenfalls aber
werden Sie von vornherein angenommen haben, daß, wo nicht
„der Böſe‟, doch „das Böſe‟ in dieſem ganzen, ſo ungewöhn-
lichen Treiben nicht fehlen werde, ohne daß wir deshalb irgend
berechtigt ſind, die ganze Sache danach zu beurtheilen und darum
zu verwerfen — am wenigſten, wo es ſich um immerhin ſehr
ſeltene Ausnahmen handelt, was von wirklich und nachweislich
bösartigen Beiſpielen des Befalls durchaus behauptet werden kann.
Noch weniger kann man den ſonſtigen Theilnehmern und namentlich
den bedeutenderen Leitern und Wortführern des Revivals im Ganzen
irgend mit Grund vorwerfen, daß ſie die bedenkliche, gefährliche
Seite der Sache, namentlich des Befalls, verkannt oder nicht aner-
kannt oder gar abſichtlich begünſtigt hätten. Jedenfalls trifft dieſe
Beſchuldigung mit einigem Recht nur Wenige und dieſe meiſt nur
in dem überraſchenden Anfang und auf der taumelnden Höhe der
Bewegung in Ulſter, wo denn allerdings auch bei Einigen der
unverſtändige Eifer oder bloße geiſtliche Eitelkeit ſo weit gieng, daß
die Abſicht, ſolche „Fälle‟ (cases kurzweg!) zu produciren,
deutlich genug hervortritt. Die große Mehrzahl aber der irgend
bedeutenden Stimmen hat ſich von vorne herein und mehr und mehr
dahin verſtändigt, nicht nur die auffallendſten extravaganteſten Fälle
der Art unbedingt zu verwerfen und zu beklagen, ſondern auch jede
höhere und auffallende krankhafte Steigerung an ſich nicht ver-
werflicher Aufregung nur als ein unter allen gegebenen Umſtänden
unvermeidliches und, in Betracht der damit verbundenen überwiegend
erſprießlichen Früchte, zu duldendes Uebel anzuſehen. Die günſtigſte
Meinung iſt noch die, wonach auch an ſich ſehr unerfreuliche,
beklagenswerthe Erſcheinungen, ſofern ſie nicht willkürlich hervor-
gebracht worden, als unter göttlicher Zulaßung ſtehende Förderungs-
mittel einer im ganzen ſo ſegensreichen Sache anzuſehen und gleich-
ſam utiliter zu acceptiren ſeien, inſofern dadurch z. B. die Aufmerk-
ſamkeit der trägen, zerſtreuten Welt erregt und auf verhärtete
Sünder und Ungläubige eine vielleicht durch nichts zu erſetzende
Wirkung ausgeübt werde. Manche Stimmen haben denn auch nicht
nur einige extreme Fälle der Art geradezu als Beſeßenheit behandelt
wißen wollen, ſondern auch die weniger gewaltſamen Wirkungen
des Bußkampfes als Ringen des Heiligen Geiſtes mit dämoniſchen
Gewalten angeſehen. Jn alle dem aber handelt es ſich jedenfalls
noch immer um Erſcheinungen, deren wirkliches Vorkommen auch
außerhalb des Revivals und zu allen Zeiten kein Urtheilsfähiger
läugnen wird, wie verſchieden ſie dann auch von dem Gläubigen,
dem Ungläubigen oder Abergläubigen erklärt werden mögen. Von einem darüber hinausgehenden „Hineinragen der Geiſterwelt‟ ſpricht
nur ein Bericht aus Ulſter, wonach ſich unter dem Gewölbe der Kirche,
während einer ſehr aufgeregten Verſammlung, eine dunkle Wolke unheimlich
dämoniſcher Geſtalten gebildet hätte!
Schließlich läuft das Alles darauf hinaus, daß ſowohl die in irgend
höherem Grade anſtößigen Fälle ſelbſt, als auch und noch mehr die
irgend bedenkliche Auffaßung derſelben nach dem Maaße der zu-
nehmenden Ausbreitung der Bewegung mehr und mehr zurücktritt
und den geſunden, berechtigten, erfreulichen und eben deshalb weniger
auffallenden Früchten und Erſcheinungen Platz macht. Allerdings
aber werden auch dieſe, wenigſtens innerhalb der Bewegung, mit
einem weiteren und freieren Maaße gemeßen und gebilligt oder zu-
gelaßen, als man bei uns auf irgend einem Gebiete der Oeffent-
lichkeit anzuerkennen geneigt ſein dürfte.
Jſt es mir nun, geehrteſter Freund, gelungen, bei Jhnen das
Vorurtheil zu beſeitigen als wenn jene „Fälle‟ als Frucht, Zweck
oder Mittel, als Thatſache und in deren Auffaßung ein irgend weſent-
liches Moment des Revivals wären, ſo werden Sie mit Recht fragen:
was iſt denn eigentlich Zweck und Frucht der Anwendung ſo be-
deutender und mannigfaltiger geiſtlicher und creaturlicher, pſychiſcher
und phyſiſcher Kräfte und Mittel in ſo ausgedehntem Maaßſtabe
und mit ſo großer und tiefgreifender Aufregung? — Darauf iſt
die Antwort in der Hauptſache mit wenig Worten zu geben: die
Wirkung dieſer Bewegung drückt ſich in dem Worte ſelbſt aus,
womit man ſie bezeichnet, ſofern wir nur ſeinen Sinn mit ent-
ſprechendſtem deutſchem Ausdruck wiedergeben — Erweckung im
weiteſten evangeliſchen Sinn und mit allen den weitern Entwicklungs-
ſtufen des geiſtlichen Lebens, wozu ſie unter fernerer Erleuchtung
und Wirkung des Heiligen Geiſtes den Jmpuls gibt oder die
Bahn eröffnet (Eph. 5, 14.). Darauf läuft ganz einfach, und ab-
geſehen von allen dogmatiſchen Definitionen, Deutungen, Formu-
lirungen, Verſtändniſſen und Mißverſtändniſſen innerhalb und außer-
halb des Revivals, die Sache ſelbſt thatſächlich hinaus. Ja, ich
ſtehe keinen Augenblick an, zu behaupten, daß dies nicht nur die
thatſächliche Wirkung, ſondern auch die wirkliche Abſicht des Revivals
und ſeiner thätigen Theilnehmer iſt — wie viel ſubjektives Miß-
verſtändniß, Jrrthum und Verwirrung auch in ihrer Auffaßung,
oder doch in ihrer Ausdrucksweiſe hinſichtlich ihres eigenen Thuns
und deſſen Wirkungen vorkommen mag.
Die objektive Wirkung dieſer ſubjektiven Abſicht iſt jedenfalls
die Thatſache der Erweckung und der weitern Entwicklung ihrer
ſchriſtmäßigen Wirkungen auf den mannigfaltigſten Stufen und in
den mannigfaltigſten Formen — Erweckung und, durch die auf
dieſem außerordentlichen Wege begonnene Wandlung des innern und
äußern Lebens, Rettung von Seelen in größerer Anzahl und
weiterer Ausdehnung als ſeit einem Jahrhundert und mehr — eigent-
lich ſeit den großen methodiſtiſchen Erweckungen des vorigen Jahr-
hunderts — auf irgend einem andern Wege oder auf allen andern
Wegen durch die regelmäßigen Mittel und Praxis irgend einer kirch-
lichen Denomination bewirkt worden und als auf irgend einem andern
Wege (nach menſchlichem Ermeßen) bewirkt werden kann. Viele
Tauſende ſind auf dieſem Wege im tiefſten Ernſte zu der Lebensfrage
gedrängt worden: „was ſoll ich thun, daß ich ſelig werde?‟ —
und haben die einzige wahre Antwort gefunden und erlebt — viele
Tauſende, die auf anderem Wege wahrſcheinlich nie zu dieſer Frage
und Antwort und Erfahrung gelangt wären, die jedenfalls und ohne
allen Zweifel durch göttliche Gnadenführung auf dieſen Weg ge-
wieſen worden ſind! Jch ſage ausdrücklich „Rettung‟ der Seelen,
zum Unterſchiede von der Pflege und Erbauung ſolcher Seelen, die im
Glauben und im Bereich und Gebrauch der gewöhnlichen kirchlichen
Erbauungs- und Gnadenmittel ſtehen, womit denn ſchon angedeutet
iſt, daß jene Früchte hauptſächlich in den ſocialen Schichten und Kreiſen
liegen, welche jener gewöhnlichen regelmäßigen kirchlichen Wirkſam-
keit am meiſten entfremdet ſind. Dieſe Wirkungen des Revivals finden
aber auch in dieſem Augenblick täglich in zunehmendem Maaße auf
vielen Hunderten von Punkten weit und breit über das ganze Land
in mehr oder weniger zahlreichen Kreiſen an einer größern oder
geringern, aber immer zunehmenden Zahl von Jndividuen Statt,
während begreiflich die große Mehrzahl Derer, welche früher in
dieſe Kreiſe der unmittelbaren An- und Aufregung gezogen wurden,
ſich mit den gewonnenen Früchten des neuen geiſtlichen Lebens
äußerlich mehr oder weniger wieder in der Maſſe der chriſtlichen
Lebensſtrömungen des Landes verlieren. Zur richtigen Würdigung
der Bedeutung und des Umfangs der Wirkungen des Revivals darf
man aber nicht blos die eigentliche Erweckung in Anſchlag bringen;
man muß auch die unmittelbar in viel weiteren Kreiſen gegebene
allgemeinere Anregung berückſichtigen. Man kann wohl behaupten:
wer dies ganze geiſtliche Treiben nicht nur äußerlich mit einem
Blick zu überſehen, ſondern auch innerlich mit Geiſtesaugen zu
durchſchauen vermöchte, der müßte lebhaft an jenes Leichenfeld des
Propheten erinnert werden und an die Belebung ſeiner zahlloſen
Gebeine und ihre Bekleidung mit neuem Fleiſch in den mannigfaltigſten
Abſtufungen, Stellungen u. ſ. w. Dies jedenfalls iſt der eben ſo
wahrhaft erſchütternde, als erbauliche, erhebende und erfreuliche
Eindruck, den auf mich immer wieder die Ueberſicht des Revivals
macht, wie ſie z. B. aus den monatlichen Heften jener Chronik her-
vorgeht. Jch darf aber annehmen, daß die Meiſten von Denen,
welche glauben, die Sache ignoriren oder nur kritiſch behandeln zu
dürfen, dieſen Eindruck nicht nur verſtehen, ſondern mehr oder
weniger theilen würden, wenn ſie ſich denſelben Anblick verſchaffen
wollten.
Damit iſt nun aber ſchon, was die Erſcheinungen dieſer Er-
weckungsarbeit ſelbſt im Einzelnen betrifft, keineswegs geſagt, daß
da nicht fortwährend und, auch abgeſehen von den eigentlichen
Fällen, gar Manches vorkommt, was auch innerhalb der Bewegung
ſelbſt jedenfalls den Beſonnenern Gegenſtand der Sorge und Miß-
billigung iſt. Wie ſollte bei ſo großem und weit verbreitetem Eifer
nicht auch gar viel „Eifern mit Unverſtand‟ auch in an ſich und
relativ berechtigten Dingen vorkommen — z. B. in dem Dringen
auf augenblickliche Entſcheidung zwiſchen Satan und Chriſto, der
Welt und dem Reiche Gottes, Hölle und Himmel, in dem Feld-
geſchrei: just now! Um ſo zahlreicher denn ſind ſolche Dinge, die,
einzeln genommen und außerhalb des ganzen lebendigen Stroms
betrachtet, theils nach einem allgemein und als Regel berechtigten
Maaßſtabe höherer ſittlicher und religiöſer Bildung der modernen
Welt manchen Anſtoß geben können und in England ſelbſt eben außer-
halb des Revivals Anſtoß geben. So kommen denn namentlich
eine Menge Dinge vor, die, mit unſerem Maaß und Gewicht ge-
meßen entweder dem deutſchen Gemüth oder dem deutſchen Schön-
heitsſinn, oder der deutſchen Wißenſchaft und ihrer Gründlichkeit oder
Pedanterie, meiſt aber wenigſtens unſerer Scheu und Ungewohnheit
jeder Art von Oeffentlichkeit vielfach verletzend ſein müßen. Der
letzte Punkt iſt aber beſonders hervorzuheben, da die meiſten der
äußeren Anſtöße weniger in den Erſcheinungen ſelbſt, als darin
liegen, daß ſie in ſo lärmender Oeffentlichkeit vor ſich gehen —
ſo namentlich die Art von Bearbeitung, welche in den Meetings von
einzelnen Geiſtlichen oder Laien, zum Theil ſelbſt von Neuerweckten
auf Einzelne oder auf kleine Gruppen der Nicht erweckten Statt
findet, und zwar natürlich in dem Maaße, wie auch die Wirkungen,
die verſchiedenen Symptome und Stadien der Erweckung u. ſ. w.
ſtark hervortreten. Zieht ſich aber dieſer Theil des Revivals in
die Sakriſtei oder ſonſt in ſtillere geeignetere Räume zurück, ſo tritt
uns gleich eine gewiße rohe pedantiſche und zugleich ungenaue
Claſſification mit ihren terminis technicis — wie convicted, anxious
inquirers, rejoycing, converted etc. — unangenehm entgegen.
Namentlich gilt dies Alles, wo es ſich um die zartern weiblichen
oder kindlichen Objekte ſolcher geiſtlichen Manipulationen handelt. So
hat auch die Art, wie Neuerweckte oder auch wohl ſolche, die ſchon
zu der Freudigkeit im Glauben durchgedrungen ſind — alſo eigent-
licher Neubekehrte — öffentlich verwendet und zu ihren Selbſtbe-
kenntniſſen und daran zu knüpfenden Ermahnungen vorgeführt werden,
oft genug Etwas ſehr Peinliches. Ueberhaupt muß man ſehr an
die faſt handwerksmäßige praktiſche Behandlung und Organiſation
gewöhnt ſein, welche in England auf jedes öffentliche movement
angewendet wird, um nicht oft an manchen Zügen, ja an dem ganzen
allgemeinen Habitus des Revivals, als an einer unerträglichen
Profanation heiliger Dinge, Anſtoß zu nehmen. Und, ich wiederhole
es, Niemand vielleicht im ganzen Bereiche deutſchen Volkes und
deutſcher Bildung kann an allen dieſen Dingen — ja an einem
ſehr viel geringern Grade und an manchen Zügen, die auch bei
uns in den betheiligten wahlverwandten Kreiſen unanſtößig und
erbaulich erſcheinen! — größern Anſtoß nehmen, als ich ſelbſt. Das
Alles hindert aber gar nicht, daß auch mir ſich in dieſem ganzen
Treiben immer wieder unzählige nicht nur der erſchütterndſten und er-
baulichſten, ſondern auch der lieblichſten einzelnen Züge aufdrängen.
Was dann weiter die Hauptſache betrifft — nämlich die
eigentlichen nachhaltigen Reſultate, welche wir natürlich nicht in
und während der Erweckungs- oder Bekehrungsarbeit im engern
Sinne ſuchen, ſondern in dem ſpätern Wandel, der ganzen Lebens-
haltung der Erweckten, ſo liegt in der Natur der Sache, daß dieſe
wieder ganz oder doch größtentheils in’s Privatleben fallende Mo-
mente ſich einer erſchöpfenden objektiven Beweisführung und genauen
Statiſtik unbedingt entziehen. Jch muß es Jhnen, geehrteſter
Freund, lediglich anheimſtellen, wie hoch oder wie niedrig Sie mein
Zeugniß über den ſubjektiven Eindruck anſchlagen wollen, den ich
aus unzähligen Ausſagen ſolcher Augen- und Ohrenzeugen gewonnen
habe, deren allgemeine Glaubwürdigkeit ich zu bezweifelu keinen
Grund habe — es müßte denn ſchon das ein genügender Grund
der Recuſation ſein, daß die meiſten von ihnen der Sache eben in
Folge ihrer Wahrnehmungen oder Betheiligung mehr oder weniger
günſtig ſind! Uebrigens fehlt es auch nicht an ähnlichen Zeugniſſen
von ganz befangenen, oder wohl gar von Haus aus abgeneigten
Perſonen, während nur ſehr wenige, an ſich unverdächtige, be-
ſtimmte Zeugniſſe in entgegengeſetztem Sinn vorliegen, deren Glaub-
würdigkeit denn, ſoweit ſie gehen, Ausnahmen conſtatiren, deren
Vorhandenſein ſich ohnehin von ſelbſt verſtehen Aus Ulſter wurde ſeiner Zeit von manchen Seiten, z. B. das Zeugniß des
Mayor von Belfort, gegen die Wirkungen des Revivals ausgebeutet, aber
nicht nur daß ihm zahlreiche der zuverläßigſten Zeugniſſe entgegenſtanden,
ſondern es iſt durch ſpätere Beſchränkungen und Abſchwächungen auf ein
ſehr geringes Maaß zurückgeführt worden. Auch Fälle von nachträglichem. Dieſe meine
ſubjektive Ueberzeugung ſteht nun darin feſt: das Revival hat in
unzähligen Fällen nicht blos augenblickliche geiſtliche An- und Auf-
regung, Erweckung, Bekehrung, ſondern auch Heiligung, alſo eine
Aenderung, eine Reform des Wandels der Erweckten hervorgebracht,
in der ſie auch bisher beharrt haben. Die auffallendſten, deßhalb
am zahlreichſten bezeugten Fälle der Art beziehen ſich begreiflich
auf die auffallendſten unter den Gewohnheitsſünden, beſonders der
untern Stände — namentlich Trunk und Unzucht und deren Folgen,
während die große Zahl Derer, die unter weniger auffallender Sün-
denlaſt, vielleicht auch hauptſächlich unter geiſtlichen Anfechtungen,
Dürre und Kleinmuth ſeufzten und in dem Revival geiſtliche Hülfe
fanden, weder vor noch nach ihrer Erweckung Gegenſtand näherer
Beachtung werden konnte. Es liegt ferner in der Natur der Sache,
daß die Geſundheit und Nachhaltigkeit der ſubjektiven Wirkungen
des Revivals weſentlich davon abhängt, ob die Erweckten die richtige
geiſtliche, ſeelſorgeriſche Behandlung finden oder nicht. Jedenfalls
iſt das einzige öffentlich zu conſtatirende Zeichen ſolcher Wandlung
in unzähligen Fällen jeder Art die Herſtellung der kirchlichen Gemein-
ſchaft. So iſt denn die Zunahme des Kirchenbeſuchs und beſonders
des Zudrangs zum Heiligen Abendmahl eines der allgemeinſten und
beachtenswertheſten Reſultate des Revivals, mit dem die geſteigerte
Theilnahme an andern erbaulichen Uebungen, wie Bibelſtunden u. ſ. w.,
Hand in Hand geht. Und zwar kann man zuverſichtlich behaupten,
daß dieſe ſpeziell kirchliche Frucht des Revivals allen Kirchen oder
Denominationen in dem Maaße zu Gute kommt, wie ſie ſelbſt
ſich an der Erweckungsarbeit betheiligen, oder doch ihre Pflicht gegen
diejenigen ihrer Angehörigen nicht verſäumen, welche in den Bereich
des Revivals geführt wurden. Unter den wenigen Fällen, wo
durch das Revival irgend eine Kirche wirkliche und nicht ganz und
gar blos nominelle und unbewußte Glieder verloren haben mag, ſind
unendlich wenige, wo die Schuld nicht lediglich eben in dem Mangel
an dem rechten kirchlichen Eifer ihrer Diener läge. Was aber die
Wahnſinn werden berichtet, und daß dergleichen wirklich einzeln vorgekommen,
kann Niemanden befremden, dem Anſchauung und Urtheil in ſolchen Dingen
nicht ganz fehlt. Daß aber, wie ja auch bei uns, gerade dieſer Vorwurf
gegen jede tiefere und lebhaftere religiöſe Bewegung auf’s Abenteuerlichſte
übertrieben worden, iſt gar nicht zu bezweifeln.
große Menge Derer betrifft, die jeder kirchlichen Gemeinſchaft längſt
entfremdet oder gar niemals, auch nicht einmal durch die Taufe in
ſolche getreten, ſo bedarf es hoffentlich hier keiner Begründung des
Rechts und der Pflicht jeder Kirche an ſolches herrenloſe Gut,
wenn es ihren Dienern von dem Strom des Revivals zugeführt wird.
Das Verhältniß des Revivals zu den einzelnen Kirchengemein-
ſchaften läßt ſich bildlich etwa vergleichen mit einer Ueberſchwem-
mung durch die mehreren gefaßten Brunnen entſtrömenden Quellen,
welche ſich zu einem großen Strome vereinigen, der das ganze Gebiet
erfüllt, und in dem vorübergehend die Grenzmauern verſchwinden,
bei deſſen Fallen treten ſie aber wieder hervor, und den Feldern,
die ſie einſchließen, bleibt der befruchtende Niederſchlag.
Schließlich denn verſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß das Revival
in ſeinen Erweckungen keine unbedingte Bürgſchaft der Beharrlich-
keit im Glauben und in der Heiligung gibt, noch geben kann —
nicht mehr, wie irgend ein Gnadenmittel irgend einer Kirche. Und
wie ſollte ſich dabei nicht auch das Sprichwort bewähren, deſſen
Wahrheit ſchon der Apoſtel bezeugt (2. Petr. 2, 22.)! Dies Alles
aber thut jenem Eindruck und der darin ſich bezeugenden Thatſache
im Großen und Ganzen nicht den mindeſten Eintrag. Dürfen wir
aber darin die Hauptſumme der Wirkungen des Revivals erkennen,
ſo bedarf es wohl für ein allem ſittlichen, geſchweige denn chriſt-
lichen Ernſt nicht ganz entfremdetes Gemüth keiner weitern Erörte-
rung, um hier eine ebenſo außerordentliche als große, ſchöne und
erfreuliche Erſcheinung zu erkennen.
Dieſe Erkenntniß und Anerkennung wird verſtändiger und
billiger Weiſe auch dann nicht vermindert werden, wenn ſich zuletzt
finden ſollte, daß dieſe Bewegung doch bisher im Großen und
Ganzen und auf der weiten Oberfläche des nationalen Lebens noch
keine dem gewöhnlichen Beobachter bemerkliche Veränderung zum
Guten — noch keine Verminderung auch nur der dunkeln Peſt-
flecken des Laſters, der ärgſten ſocialen Verwilderung und tiefſten
Verworfenheit zu bewirken vermocht hat. Eine ſolche, auch dem
flüchtigen Blick offenbare Wirkung von einem nur ſeit kurzer Zeit
begonnenen Heilverfahren bei einem ſolchen Kranken zu erwarten
wird Niemanden einfallen, der einen Begriff, eine Anſchauung von
den Dimenſionen, von der Breite und Länge, Höhe und Tiefe jener
Jnſelwelt hat. Und dennoch wird ſich bei näherer Erforſchung
auch eine ſolche auf das Maaß des thatſächlich Möglichen beſchränkte
Erwartung nicht ganz getäuſcht finden. Soviel wenigſtens kann
ich aus eigener Wahrnehmung und glaubwürdigen Zeugniſſen ver-
ſichern: es iſt eine gewiße Beßerung, Hebung, Reinigung und Er-
hellung gerade in den finſterſten Cloaken der ſocialen Zerrüttung
und Verwilderung — in den bisher ſchlimmſt berufenen Höfen und
Gäßchen London’s und anderer großen Städte ſeit etwa zehn
Jahren nicht zu verkennen. Jndem ich dieſen ungefähren Zeitraum
angebe, ſchließe ich ſchon die Vorausſetzung aus, als wenn dieſe relativ
beßeren Symptome ausſchließlich den Wirkungen des Revivals
im engeren Sinne zuzuſchreiben wären. Es haben dazu ohne Zweifel
alle die Arbeiten chriſtlicher Liebe (auch die Philanthropie hat hier
Verdienſte, die ich nicht leugnen will) mitgewirkt, welche zum Theil
ſchon viele Jahre vor dem Revival begonnen, wie z. B. die ver-
ſchiedenen Zweige der im engern Sinn ſogenannten home mission Hierzu gehört namentlich in neueſter Zeit die dem Gebiete des weiblichen
Diakonats (im weiteren Sinn) angehörenden Organe, und was man wohl
bildlich unter dem Ausdruck the missig link begreift, z. B. die Bible
women u. ſ. w. Die Rettungshäuſer für jugendliche Verbrecher ſind in
England größtentheils Staatsanſtalten (Reformatory schools).,
die ragged schools, die Rettungshäuſer, Aſyle und andere bis in
dieſe Abgründe der tiefſten mehr als heidniſchen Unwißenheit reichende
Erziehungs- und Lehranſtalten. Ganz beſonders und in mehren der
ſchlimmſten Fälle notoriſch wirkte in dieſem Sinne auch die Ver-
breitung der Wohnungsreformen durch Baugeſellſchaften u. ſ. w.
Aber nicht nur hat das Revival durch ſeine unmittelbare Wirkung
in Erweckung und Bekehrung ohne allen Zweifel in den letzten
drei Jahren allen dieſen Arbeitern ſehr weſentlich in die Hand ge-
arbeitet, ſondern, wie ich ſchon früher bemerkt zu haben glaube, es
ſteht gegenwärtig das Revival ſowohl mit manchen dieſer älteren
als mit einigen erſt neu hervorgetretenen Zweigen der „innern
Miſſion‟ in engſter geiſtiger, organiſcher und Perſonalbeziehung.
Manche derſelben ſind geradezu als Abzweigungen des Revivals zu
betrachten, wie z. B. die ſogenannten midnight meetings zur Ret-
tung der Gefallenen des weiblichen Geſchlechts. Auch die ſogenannten
open air meetings und sermons, obgleich ſie auch ſchon bisher
namentlich von Baptiſten und Methodiſten noch immer im Kleinen
betrieben wurden, ſind erſt durch und im Revival zu ſo großer
Ausdehnung und häufiger Anwendung auch durch eigene Vereine
gekommen. Dasſelbe gilt von den Predigten und Gebetsverſamm-
lungen in ſonſt geeigneten profanen Räumen, ſogar Theatern.
Sollten Sie nun, geehrteſter Freund, in dieſer Darſtellung, die
meinen Brief zu einer „lettre monstre‟ gemacht hat, noch etwas
vermißen, ſo bitte ich, ſich offen darüber auszuſprechen, damit ich
es wo möglich in meinem nächſten nachholen kann. Jndeſſen u. ſ. w.
Vierter Brief.
Da Sie, geehrteſter Freund, oder wenn Sie, wie ich nach
Jhrem letzten Schreiben annehmen darf, in meiner Darſtellung des
engliſchen Revivals ein im Weſentlichen genügendes und glaub-
würdiges Bild der Sache erkennen und auch den Eindruck, den ich
von der Bedeutung und Berechtigung desſelben habe, wenigſtens
bis auf einen gewißen Punkt, wenn auch vielleicht nicht in der-
ſelben Jntenſität, theilen, ſo hoffe ich, wir werden uns auch hin-
ſichtlich der praktiſchen Nutzanwendung auf unſere deutſchen Zuſtände
leichter verſtändigen, als Sie anzunehmen ſcheinen. Jch ſchließe
das ſchon aus der Modifikation, womit Sie die Frage wiederholen,
welche die erſte Veranlaßung zu dieſen Beſprechungen gegeben. Sie
fragen nicht mehr: „Kann denn dies engliſche Revival für uns
und namentlich für unſere Geiſtlichkeit ein ernſtes Jntereſſe und
eventuell für unſere deutſchen Zuſtände überhaupt eine praktiſche
Bedeutung haben?‟ — Sie fragen jetzt: „Wie kommt es, wie iſt
es möglich, daß dieſe Dinge bei uns bisher nicht mehr Beachtung
gefunden, nicht mehr praktiſchen Einfluß geübt haben?‟ Darin
aber liegt ohne Zweifel ſchon die weitere Frage: „Wie kann dies
Jntereſſe geweckt, wie kann jene Nutzanwendung in geeigneter Weiſe
herbeigeführt werden?‟ Soll ich nun dieſe Doppelfrage beant-
worten, ſo meine ich zunächſt: eben weil die Sache noch keine
ernſtliche Beachtung gefunden hat, weil ſie bisher ſo wenig allge-
3
mein bekannt geworden, kann von einer praktiſchen Wirkung auch
nur in den erſten und vorbereitenden Erwägungen nicht die Rede
ſein. — Ja, ſchlimmer wie dies! Wir haben es nicht blos mit
gänzlicher und unbefangener Unbekanntſchaft zu thun, ſondern die
gelegentlichen vagen, ſehr ungenauen, dürftigen und ſelten unbe-
fangenen Berichte oder Erwähnungen, woraus die Meiſten ihr
Wißen von der Sache ſchöpfen, mußten nothwendig mancherlei Vor-
urtheile gegen die Sache erzeugen, und ſind ohne Zweifel eine
Haupturſache der Vernachläßigung weiterer und richtiger Jnfor-
mation, woraus eine Berichtigung ſolcher Vorurtheile hervorgehen
könnte — alſo ein leidiger circulus vitiosus! — Dieſer Bann aber
mußte um ſo feſter werden, da die ohnehin nur zu allgemeine
Neigung blos negativer Kritik und einer gewißen confeſſionellen
Selbſtzufriedenheit in jenen mangelhaften oder falſchen Darſtellungen
eine nur zu erwünſchte Nahrung fand. Dennoch bin ich weit entfernt,
darin ſchon eine genügende oder gar befriedigende Erklärung der
leider nicht in Abrede zu ſtellenden Thatſache zu finden, daß ſowohl
unſere Geiſtlichen, als die ſpecieller unter ihrem Einfluß ſtehenden
Kreiſe ſich (mit ſeltenen Ausnahmen) wenig oder gar nicht um die
engliſchen Revivals bekümmern — jedenfalls nicht in der Art, daß
man ſich (ſoweit wenigſtens irgend allgemeiner bekannt geworden)
ernſtlich die Frage vorlegte: ob und wie in jenen Erſcheinungen und
Erfahrungen für uns eine praktiſche Belehrung oder Warnung oder
Mahnung liegen könnte? — Meines Orts nun kann ich hier auf
dieſe Frage nur mit mancherlei Gegenfragen antworten, deren theil-
weiſe Unbequemlichkeit und Kitzlichkeit Sie mich hoffentlich nicht
entgelten laßen werden, nachdem Sie ſelbſt ſie provocirt.
Zunächſt muß ich fragen: ſind denn unſere kirchlichen und
religiöſen und die damit zuſammenhängenden ſittlichen, ſocialen und
politiſchen Zuſtände der Art — ſind ſie namentlich ſo viel befrie-
digender als jene, deren Reform zunächſt in ihren individuellen und
ſubjektiven Früchten Zweck und Wirkung des Revivals iſt? Sind
dieſe Dinge in der That bei uns ſoviel beßer beſtellt, oder ſind
ſie es wenigſtens in der Meinung Derer, die eine Hauptverant-
wortung dafür in ihrem Amt, in ihrer Geſinnung u. ſ. w. finden
müßen? Vielleicht meinen Sie, wir könnten uns zur Beantwortung
dieſer und namentlich der letzten Frage auf die Uebereinſtimmung
faſt aller gläubigen und zumal geiſtlichen deutſchen Zeugniſſe aus
und über England berufen, wonach wir gerade dort in ſo vieler
Einſicht und im Allgemeinen und Weſentlichen das beſchämende
Muſter eines ganz überwiegend kirchlichen und chriſtlichen nationalen
Lebens in Staat, Geſellſchaft und Haus finden müßten. Sie haben
jedoch aus früheren Aeußerungen erſehen, daß ich dieſe optimiſtiſchen
Anſchauungen in Beziehung auf England keineswegs theile und
wenn ich ſie jetzt utiliter acceptire, ſo geſchieht es ohne alles Prä-
judiz und eben nur als Argument gegen Diejenigen, die ſie ver-
anlaßen, hegen und verbreiten, inſofern ſie uns die ſehr naheliegende
praktiſche Applikation auf die Revivalfrage ſchuldig bleiben: ſteht es
in England ſoviel beßer und iſt man dennoch dort zu dem
Revival getrieben worden, wieviel mehr denn müßte dies Heilver-
fahren in Deutſchland Noth thun! Aber ich bedarf auch meines
Theils jener Verausſetzung gar nicht. Jch bin eben ſoweit entfernt,
etwa umgekehrt unſere Zuſtände in einem ſo günſtigen Licht zu
ſehen, daß daraus auch nur der entfernteſte Schein einer Ent-
ſchuldigung hervorgehen könnte, wenn wir irgend ein erreichbares
und verwendbares Mittel zu deren Hebung und Beßerung ver-
ſäumen. Nach Allem, was ich von unſeren eigenen und von frem-
den Zuſtänden weiß — und Sie ſelbſt räumen mir eine nicht ganz
gewöhnliche Competenz des Urtheils durch eigene Anſchauung und
anderweitige Mittel der Jnformation nachſichtig ein — hat Niemand
dem andern ſoviel mehr vorzuwerfen, daß er darauf zu Gericht
ſitzen und dabei nur einen Augenblick den Beruf verſäumen dürfte,
der Jedem gleich dringend Noth thut: vor der eignen Thüre zu
kehren! — Damit iſt die hülfreiche oder doch wenigſtens mit leidende
Liebe zu dem Nächſten, die Gebetsarbeit, auch vor ſeiner Thüre
und in ſeinem Hauſe nicht ausgeſchloßen, ſondern geht erſt recht
Hand in Hand, ſofern jene Arbeit rechter Art iſt. Bei ſolcher
Arbeit und ſolchem Sinn würde unter Schweſtern, deren jede voll
Wunden und Schwären im Staube liegt, nicht mehr eine der
andern die Binden und Hüllen abreißen, um auch die verborgenen
Schäden dem Hohn der Welt preis zu geben, wie von allen Seiten
ſo oft geſchieht. Genug, die Frage ſcheint mir namentlich hier und
für uns keineswegs eine Abwägung des Mehr oder Weniger geiſt-
licher und kirchlicher und daraus entſtehender ſittlicher und ſocialer
3*
Noth in Deutſchland oder England zu ſein, ſondern die Frage iſt —
oder vielmehr das, worauf es hier ankommt, iſt gar keine Frage
— ſondern die Sache iſt: daß jene Noth bei uns wie in England
groß genug iſt, um allen irgend verwendbaren Kräften der Abhülfe
die äußerſten Anſtrengungen zur dringendſten Pflicht zu machen.
Mag auch immerhin nach Maaßgabe der relativ geringern Dimen-
ſionen, der ſtillern und langſamern Rotationen unſerer Zuſtände und
ihrer Faktoren und der größeren Wirkſamkeit der controlirenden,
regulirenden Momente die Reibung und Erſchütterung und damit
der Abfall, alſo die Maſſe der gänzlich verwilderten ſocialen Ele-
mente, unter ſonſt gleichen Umſtänden geringer und die Aeußerungen
dieſer Verwilderung im Ganzen weniger roh und gewaltſam ſein
als in England, ſo iſt doch nicht nur der mehr oder weniger be-
wußte geiſtige und ſittliche Gegenſatz in unſerer höheren Bildung
gegen poſitives Chriſtenthum in dem Maaße tiefer, wie deutſcher Geiſt
und Gemüth ernſter und tiefer iſt als engliſcher, ſondern ſchon
allein ein Blick auf eine Seite unſerer geiſtlichen Zuſtände müßte,
däucht mir, hinreichen, um ohne alle weitere Vergleichung mit
unſeren Nachbarn den Schmerzensſchrei nach Erweckung um
jeden Preis bei allen Denen hervorzurufen, denen irgend wie
das geiſtliche und ſittliche Wohl des deutſchen Volks am Herzen
liegt. Unſere todten Gemeinden! Um ſo jammervoller todt,
wenn ſie todtgepredigt ſind, oder doch trotz der regelmäßigen
Speiſung mit Gottes Wort (was man denn ſo nennt!) von der
Kanzel erſtorben oder in todtesgleichen Schlaf verſunken ſind! —
Jch weiß in der That kaum, was mehr zu beklagen: ob das der
Kirche nicht etwa in bewußter Feindſchaft, ſondern in gänzlichem
Stumpfſinn und banauſiſchem Behagen entfremdete Philiſterthum,
welches kaum eine andere kirchliche Beziehung kennt, als die nach dem
bürgerlichen Geſetz oder der laxeſten Sitte unvermeidliche, und in
deſſen ganzem Leben kaum je und je länger je weniger eine höhere
ſittliche oder geiſtige Pulſation ſich regt, während Sünde und Laſter
wahrlich in dieſer dumpfen Atmosphäre und ſchlammigem Boden
in aller Stille nur allzugut gedeiht — oder ob eine überall vorkom-
mende Art von leidlich fleißigen Kirchengängern, denen es ſelten
oder nie einfällt, daß ſie die Früchte des lebendigen Glaubens,
die der Apoſtel von Galatern und Epheſern fordert, in ihrem
ganzen Wandel hervorzubringen und zu pflegen berufen ſind, und
nicht etwa blos in Enthaltung von groben Sünden ihr Chriſten-
thum erweiſen ſollen.
Sie werden mir nun ohne Zweifel bemerklich machen, daß ja
eben dieſe Zuſtände oft genug der Gegenſtand bitterer Klage und
ernſter Erwägung aller irgend nicht ganz untreuen Diener unſerer
Kirche ſind. Jch kann allerdings die Thatſache nicht läugnen, daß
es an Klage und Berathung und ſogar an Rath nicht eben fehlt.
Wenn ich dennoch nur ſelten — auch ganz abgeſehen von der Revival-
frage — Stimmen höre, die dem Schmerz und, ich kann wohl ſagen,
dem Grauen entſprächen und genügten, das einen oft beim Anblick
dieſer Zuſtände und zumal eben jener wandelnden Leichen ergreift —
wenn mir wahrlich gar oft däucht, als fehlte bei den meiſten Wort-
und Federführern die rechte lebendige Anſchauung dieſer Dinge oder
die rechte tiefe Schmerzensfähigkeit über das Alles — wenn ich mir
oft ſagen muß: gibt es denn keine dringenderen Fragen zu be-
ſprechen und zu löſen, als die auf dieſer oder jener Tagesordnung
verzeichneten, ſo geſtehe ich gern, daß es mir ſchwer werden würde,
dieſe mißliebigen allgemeinen Eindrücke beſtimmter zu formuliren
und zu motiviren, wenn nicht eben das Revival mir den Anhalt
und Anlaß dazu gäbe. Wenn Sie wirklich Jhre Anſchauung der
Sache aus meiner Darſtellung ſchöpfen und auf ſie begründen zu
können meinen, ſo müßen Sie mir zugeben: auch ganz abgeſehen
von den eventuell weiter daraus erwachſenden Fragen muß es gar
ſehr auffallen, wie ſehr dieſe Erſcheinungen und Erfahrungen auf
unſern Paſtoralconferenzen, Kirchentagen und in andern wahlver-
wandten Verſammlungen oder geſelligen Kreiſen, ſowie in der ent-
ſprechenden Preſſe ignorirt werden. Und ſchon ſoweit iſt die
Frage berechtigt: könnten nicht gar manche Themata, die immer
wieder des Breiteſten verhandelt werden, dieſem gelegentlich nach-
ſtehen? Wollte man dagegen einwenden: „dieſe Thatſachen ſind
eben zu wenig bekannt, ſonſt würden ſie ohne Zweifel auch mehr
beachtet‟ — ſo führt mich dieſe Entſchuldigung wieder zu der Frage:
wenn die ganze Tiefe unſerer Noth ſo empfunden würde, wie es
ſein ſollte, würde man dann nicht bei der handgreiflichen Unzu-
länglichkeit der bisher angewendeten Heilverfahren ein offeneres
Auge oder Ohr für jede anderwärts mit einem gewißen Erfolg oder
Ruf des Erfolgs angewendete Kur haben? Würde man nicht in
jedem Anzeichen, jeder Meldung der Art, ſofern ſie nicht von vorne
herein ſich als unglaubwürdig zeigte, eine dringende Veranlaßung
zu weiterer Jnformation finden? Wer aber möchte im Ernſt
läugnen, daß ſchon die ſeiner Zeit allgemein verbreiteten und zu-
gänglichen, wenn auch meiſt noch ſo unvollſtändigen und verworrenen
Nachrichten über das Ulſter Revival gar wohl genügen konnten
und mußten, um wenigſtens zu weiterer Nachfrage anzuregen, wann
und wo eben die rechte Stimme hinſichtlich des eigenen Erweckungs-
bedürfniſſes vorhanden war! Dieſer ſo nahe liegende Jmpuls hätte
ganz von ſelbſt zu Allem führen können, was weiter in dieſer Sache
Noth thut; aber eben dieſe Vorbedingung fehlte und fehlt noch im
Allgemeinen allzuſehr! So iſt es denn bei einem ſehr vorüber-
gehenden, oberflächlichen, unfruchtbaren Jntereſſe der ſchnell be-
friedigten Neugierde geblieben, der bald ſogar ein gewißer Ueber-
druß und ein Mißtrauen folgte, welches ſogar in der Art wie einige
ſcheinbar oder wirkliche Mißſtände des Revivals von einer gewißen
Art von negativer Kritik behandelt wurden, einen ziemlich plauſibeln
Grund finden konnte. Jch weiß nicht, ob Sie, geehrteſter Freund,
eine viel beßere Meinung von dem haben, was ſeiner Zeit (etwa
bis zum Kirchentag von 1859) bei uns veröffentlicht worden; ich,
meines Theils aber konnte auch bei den ſehr wenigen, die Sache
irgend ernſtlicher und ausführlicher behandelnden Reden, Artikeln
oder Broſchüren von vorne herein durchaus keine Genüge finden.
Ohne einigen derſelben manche verdienſtliche Eigenſchaft abzuſprechen,
wie denn bei dem hohen allgemeinen geiſtlichen und wißenſchaftlichen
Ruf der Verfaßer nicht anders zu erwarten war, fehlte es doch
offenbar allzuſehr an dem nöthigen Material nicht nur eigener An-
ſchauung, ſondern auch fremden Zeugniſſes. Wenn Sie aber er-
wähnen, daß damals ein Domkandidat eigens nach Ulſter gereiſt
ſei, um als Augenzeuge für eine theologiſche Zeitſchrift zu berichten,
ſo beweiſt das eben nur, daß unbefangene und ſcharfe Beobachtung
fremder Zuſtände, zumal dieſer Art, nicht Jedermanns Sache iſt —
am wenigſten, wenn auch die Vorbereitung durch Sprachfertigkeit
u. ſ. w. ſo dürftig iſt, wie leider als Regel in den Kreiſen voraus-
zuſetzen, aus denen jener Berichterſtatter hervorgieng. Namen und
Perſon desſelben ſind mir übrigens völlig unbekannt und er iſt
möglicher Weiſe in dieſer letzten Qualifikation ein weißer Rabe.
Was aber als Frucht jener Reiſe veröffentlicht worden, das war
ſo dürftig, daß es mich wahrlich nicht wundern kann, wenn da-
durch eine irgend fruchtbare Wirkung nicht hervorgebracht werden
konnte. Jm Gegentheil konnten ſolche vermeintlich objektiv beſonnene,
in der That ſehr vorſichtige, aber auch ſehr farbloſe und ſchwache
Darſtellungen eben ſo wie die von einigen andern Seiten (z. B. von
Baſel) ausgehenden ſehr wohlmeinenden aber ohne alle Kritik aus
zweiter und dritter engliſcher Hand geſchöpften Lobe briefe nur jener
Art von doktrinärer, dogmatiſirender Kritik erwünſcht und förder-
lich ſein, die in den Expektorationen einiger ſonſt wohl berufenen
theologiſchen Stimmen über das Revival herrſcht. Daß nicht auch
ſo dürftige oder harte Umriße genügen könnten und ſollten, um zu
weiterer Nachforſchung anzuregen, gebe ich nicht zu; aber ſoweit
das Gegebene gieng, ließ ſich nicht viel Poſitives gegen dieſe ganze
Behandlung einwenden — ſoweit waren die Bedenken vielleicht
gegründet und die Zugeſtändniſſe billig genug. Aber dennoch wie
ungenügend das Alles für Jeden, der eine lebendige Anſchauung
von dem hat, was das Revival in Wahrheit und Wirklichkeit iſt,
und dem der Schmerz um unſere geiſtliche Noth, um unſere todten
Gemeinden wirklich ſo zu Herzen geht, wie ſie es fordert! —
Da läuft zuletzt Alles auf ein objektives, kühles, ſauberes, vor-
nehmes, vorſichtiges Sichabfinden mit einer unbequemen, heikeln
Sache unter gewißen dogmatiſchen und ſonſt tendenziöſen Voraus-
ſetzungen, und als wenn zu einer individuellen Anregung und ſub-
jektiven Nutzanwendung auf unſere Zuſtände — zu einem mahnen-
den: „Du biſt der Mann!‟ gar keine Veranlaßung vorläge.
Jn der That, wann und wo etwa ein wärmerer, friſcherer
Eindruck durch jene erſte Kunde aus Ulſter hervorgebracht worden
war, der zu weiterer fruchtbarer Jnformation hätte führen können,
da hätte das naße Stroh einer ſolchen Kritik ſchon genügen können,
um Alles zu erſticken und die ganze Sache ad acta zu legen. Auch
die Elberfelder Waiſenhausſache hat uns nicht weiter gebracht.
Wahrhaft grauenvoll aber möchte ich die Art nennen, wie noch
neuerdings, z. B. in einem Referat der Berliner Paſtoralconferenz
(Ev. K.-Z. vom Juli), von der orthodoxen Sattheit des lutheriſchen
Paſtorats herab nach allen Seiten das ketzerrichteriſche Amt, das
Brandmarken mit gefährlich hochgelehrten dogmatiſchen terminis
technicis, mit „Jsmen‟ aller Art gegen alle bei den amerikaniſchen
und engliſchen Erweckungen betheiligten Faktoren, Baptiſten, Metho-
diſten u. ſ. w., gehandhabt und der lutheriſchen Kirche ausſchließlich
die Fähigkeit und Gnadengabe evangeliſch berechtigter Erweckung
vindicirt wird, ohne auch nur einen Gedanken an die Frage: was
ſoll aber aus den Tauſenden und Zehntauſenden von Seelen wer-
den, die nun einmal des Segens der Erweckung von dieſer Seite
nicht theilhaftig geworden ſind, noch werden können? — Wer aber
irgend mit den hiſtoriſchen Thatſachen bekannt iſt, der weiß, daß
ſogar die Baptiſten und noch weit mehr die Methodiſten jedenfalls in
allen größeren Revivals ihre Hauptarbeit unter den Geſtorbenen
oder unter den Todtgebornen aller Confeſſionen gehabt haben und
noch haben. Steht es in Deutſchland beſonders mit dem Baptiſten-
ſkandal anders — weſſen Schuld iſt es hauptſächlich? Es iſt wahr-
lich doch zu ſtark, wenn man von dieſer Seite glaubt, in ſolcher
Weiſe z. B. über die Arbeit eines Cartwright in den amerika-
niſchen Hinterwäldern und unter Zehntauſenden völlig verwahr-
loſter hirtenloſer Schafe, unter Entbehrungen aller Art auf Reiſen
von vielen Tauſend Meilen während eines halben Jahrhunderts,
den Stab brechen zu dürfen! —
So dürfte denn bei der mir von Jhnen, geehrteſter Freund,
zugewieſenen praktiſchen Aufgabe der geeignetſte nächſte Schritt der
ſein: zu verſuchen, ob es mir gelingt, die Vorurtheile zu beſeitigen,
welche durch die deutſche Kritik verbreitet, eine allgemeinere richtige
und fruchtbare Beſchäftigung mit den Thaten des britiſchen Revivals
und damit der Nutzanwendung zu einer deutſchen Erweckung in den
Weg gelegt ſind. Dies fordert aber, abgeſehen von wirklich irrigen
oder übertriebenen Vorſtellungen, auch die Sache ſelbſt in ihrer
wahren Geſtalt, wie ich ſie Jhnen nach beſtem Wißen und Gewißen
gegeben. Jch meines Theils bin jedenfalls, wie ſchon geſagt, weit
entfernt, zu läugnen, daß nicht in dem Revival auch der unbe-
fangenſten und zugänglichſten Kritik deutſcher Wißenſchaft und
deutſchen Gemüths gegründeter Anlaß zu manchen Bedenken gegeben
iſt. Aber welche irgend bedeutende, kräftig fruchtbare Bewegung
im Leben der Völker oder auch nur der Jndividuen iſt frei von
jedem Bedenken! Ließe ſich nicht vielmehr das alte mediziniſche
Axiom: „ubi virus ibi virtus‟ in dieſer Beziehung gar wohl um-
kehren zu einem: „ubi virtus ibi virus?‟ — Wer aber |meint, man
könne ſich mit einer ſolchen Bewegung abfinden, indem man ſich
eben an ihre bedenklichen Seiten und Momente hält, der beweiſt
nur, daß er der ganzen Sache zu fern ſteht und wenigſtens ihr
gegenüber der weſentlichſten Bedingung jeder fruchtbaren Behand-
lung entbehrt — der lebendigen Liebe, für welche die Hauptfrage
immer die iſt: wie weit kann die Sache, trotz aller dieſer Be-
denken, zur Ehre Gottes und zu Nutz und Frommen des Nächſten
verwendet werden? Aber gerade bei der Beantwortung dieſer Frage
kommt es gar ſehr darauf an, wie dringend und groß die Noth
und Gefahr iſt, zu deren Abwendung oder Abhülfe und Linderung
jene Sache und die darin liegenden oder angewieſenen Kräfte und
Mittel dienen können. Gilt es den Biß eines harmloſen Kläffers,
ſo kann man ſich Zeit laßen und milde Salbe und ſaubern Ver-
band wählen; gilt es aber den Biß eines tollen Hundes, ſo fährt
man mit dem nächſten glühenden Eiſen in die Wunde, ſogar auf
die Gefahr eine Schlagader zu verletzen.
Betrachten wir nun die gegen das Revival geltend gemachten
Bedenken näher, ſo ſind ſie wohl nach vier verſchiedenen Kategorieen
zu unterſcheiden, inſofern ſie entweder auf gemeinſam chriſtlichem,
bibliſchem, oder beſtimmter evangeliſchem, oder auf ſpecifiſch kirchlich
confeſſionellem Grunde, oder auf gewißen nationalen Jdioſynkraſieen
beruhen. Was das allgemein Menſchliche betrifft, ſo dürfen wir
es wohl, ſoweit es berechtigt iſt, unter den Begriff der chriſtlichen
Ethik ziehen und der erſten Kategorie zuweiſen. Blos individuelles
Gefallen oder Mißfallen aber wird in ſo allgemein wichtigen Fragen
kaum anders berückſichtigt werden können, als inſofern es als eine
Steigerung nationaler Charakterzüge gelten kann. Frägt es ſich
aber begreiflich vor jeder weitern Unterſuchung, welches Geſetz zu-
letzt als für alle dieſe Fragen entſcheidend gelten ſoll, ſo iſt wohl
kaum ein ernſtlicher Zweifel oder Widerſpruch denkbar, wenn wir
uns daran halten: nur das kann als unbedingt berechtigt gelten,
was mit Gottes Wort geht und beſteht, und nur das als unbe-
dingt verwerflich, was poſitiv gegen Gottes Wort iſt. — Welchen
Raum und welche Berechtigung daneben mancherlei Adiaphora finden
mögen, laße ich auf ſich beruhen — genug, daß wir hier die ge-
meinſame evangeliſche Grundlage haben, auf der alle ſpeciellen
Confeſſionskirchen ſtehen — wenigſtens alle diejenigen, welche keine
andere Autorität neben oder gar über dieſer Offenbarung aner-
kennen, ſoweit ſie geht! Meines Ortes wenigſtens und ſo ent-
ſchieden ich mit Jhnen, geehrteſter Freund, mich zu der lutheriſchen
Kirche bekenne, finde ich mich wahrlich nicht berechtigt, im Namen
dieſer Kirche irgend einen Rath, irgend ein Mittel, irgend eine
Kraft, die zur Abhülfe unſerer geiſtlichen Nothſtände dienlich oder gar
unentbehrlich wäre, von vorne herein zurückzuweiſen, ſofern deren
Anwendung ſich nicht aus Gottes Wort verdammen läßt. Wie hohen
Werth ich auf das Objektive der ſichtbaren Kirche lege, geht wohl
am beſten daraus hervor, daß ich an der unſrigen feſthalte — trotz
aller Nothſtände — trotz dem, daß ſie von vorne herein nur in
den Grundlagen und durch den Eckſtein und in einigen Theilen den
Namen eines Bauwerkes verdiente, gegenwärtig aber, ſoweit
ſie als Geſammtheit ſichtbar iſt, faſt nur als Ruine, mit hundert-
fachem Wuſt erfüllt, mit Dorn und Unkraut überwuchert, ſichtbar
erſcheint. Was wir thun würden oder müßten oder dürften, wenn
irgend eine andere Kirche uns als vollendetes, ihrer Heiligthümer
irgend würdiges Bauwerk ſichtbar vor Augen ſtünde, iſt eine ganz
müßige Frage für Jeden, deſſen Blick und Urtheil für unbeſtreit-
bare Thatſachen der Vergangenheit und der Gegenwart jeder und
aller kirchlichen Geſtaltungen, welche die Geſchichte aufzuweiſen hat,
nicht ganz getrübt iſt entweder durch Liebe oder durch Haß oder
durch „Schalkheit.‟ Daß keine andere Kirche in Summa mehr und
Beßeres zu bieten hat, als die lutheriſche — daß dieſe jedenfalls in
ihrer Lehre, ſoweit ſie geht, alſo in den Hauptſtücken zur Seelen
Seligkeit, und den Sakramenten höher ſteht, als irgend eine andere
Kirche, wenn ſie auch nach vielen Seiten gar manchen geſunden
Keim unentwickelt gelaßen — daß wir alſo relativ noch immer mehr
und Beßeres haben, als Andere, iſt zwar ein großer, aber bei ſo
vielen und großen Mängeln auch in Beziehung auf die Andern nur
ein leidiger Troſt — jedenfalls aber ein ſehr genügender Grund, an
Dem feſtzuhalten, was wir haben. Mehr aber thun auch Die zwar
nicht, denen die ſehr bequeme, aber ſehr gefährliche Gabe innewohnt,
ſich das Eigene in idealer Vollkommenheit als wirklich zu con-
ſtruiren und in’s glänzendſte Licht zu ſtellen, das Fremde aber in
peſſimiſtiſches Dunkel zu kleiden — worin manche lutheriſchen Wort-
führer ſogar mit den Römern wetteifern.
Jn der That würde die Summe der Eindrücke einer unbe-
fangenen Umſchau in der Vergangenheit und Gegenwart, in ihrer
vollen Troſtloſigkeit aufgefaßt und erwogen, bei jedem tieferen und
ernſteren Gemüth die gefährlichſten Zweifel erregen können, wenn
wir nicht auf zwei Dinge ein ſehr viel größeres Gewicht legen
dürfen und wollen, als von Seiten Derjenigen zugegeben wird, die
nur in einer ſichtbaren und objektiven Kirche ihre Genüge finden
zu können oder wirklich gefunden zu haben vorgeben. Von jenen
beiden Stücken iſt, was man auch ſagen mag, das eine die unſicht-
bare Kirche, welche nicht in einer, ſondern in vielen ſichtbaren
Kirchen lebt und ſie alle umfaßt und überdeckt — etwa wie Gottes
Himmel alle kirchlichen Gebäude menſchlicher Hand, mögen ſie nun
ein eigen Dach u. ſ. w. haben, oder unfertig oder als Ruine da-
ſtehen — mag das Gleichniß gelten oder hinken, ſo gut es kann!
Zu den lebendigen Bauſteinen der unſichtbaren Kirche gehört aber,
als Tempel Gottes, auch jede in Liebe gläubige Seele, mag ſie auch
von keiner ſichtbaren Kirche anerkannt werden. — Ubi Christus
ibi ecclesia, das ſteht auf den feſteſten, theuerſten Verheißungen,
wogegen keine Lehre noch Ordnung irgend einer ſichtbaren Kirche
aufkommt. Was aber die Vielheit der ſichtbaren Kirchen auch im
gewöhnlichen, formalen Sinne betrifft, ſo darf ſie uns nicht im
Glauben und in der Sehnſucht nach der einen unſichtbaren Kirche
irre machen, wenn wir auch nur erwägen, daß der HErr ſelbſt die
Einheit der ſichtbaren Kirche erſt als Erfüllung der Prophe-
zeiungen für die entfernteſte Zukunft hinſtellt. Denn nur in der
unſichtbaren Kirche iſt ſchon jetzt und war von vorne herein,
nachdem ihr Haupt ihr entrückt, ein Hirte und eine Heerde, welche
auch der allen ſichtbaren Kirchen gemeinſame Glaube ſeit der Zeit
der Apoſtel bekennt. Wer wirklich des Glaubens lebt, daß aus-
ſchließlich ſeine Kirche die ſichtbare iſt, der — lebe ſeines
Glaubens! So hoch ich aber die Bedeutung und Berechtigung
unſerer Kirche anſchlage, ſo muß ich doch der Wahrheit die Ehre
geben, daß ſie ſo wenig als andere Kirchen ſich in der Wirklichkeit
als die ausſchließlich eine auszuweiſen vermag. Dieſe Erkenntniß
kann uns aber um ſo weniger irre machen, da im Gegentheil eine
ſo vollkommene Erſcheinung geradezu jenes Wort des HErrn Lügen
ſtrafen würde. Nicht die Vielheit ſichtbarer Kirchen und ihre confeſ-
ſionellen Differenzen, ſondern daß dem wirklich im Apoſtolicum vor-
handenen gemeinſamen Glaubensſchatze die Liebesarmuth ſo wenig
entſpricht, an der ſie alle kranken — das iſt der giftige Stachel,
der immer wieder in der Sehnſucht nach der Erfüllung jener Ver-
heißung auch in einer ſichtbaren Kirche, ſtatt die Hoffnung zu ſtärken,
den Schmerz ſchärft.
Das zweite Stück iſt die Dignität und Berechtigung der ſub-
jektiven Momente des geiſtlichen Lebens, nicht im Gegenſatz zu
den objektiven Momenten, ſondern neben, in und mit den-
ſelben. Wo und ſoweit beide Kategorieen aber ſich wirklich nicht
in lebendiger Einheit und Harmonie durchdringen, oder doch nicht
ſo von uns erkannt werden können, da gilt es, dem Subjektiven
weit mehr Reſpekt zu erweiſen, als es meiſt von confeſſionell ob-
jektiviſtiſchen Eiferern geſchieht, welche gar zu wenig Gewicht auf
die allgemeinere Bedeutung legen, die in dem Ausſpruch des HErrn
gerade auch für dieſe Frage liegt: „Der Sabbath iſt um des
Menſchen willen da und nicht der Menſch um des Sabbaths willen.‟
Wenn man ſo manche Stimmen aus dieſer oder jener Confeſſions-
kirche hört, ſo ſollte man wirklich glauben, die Erweckung und Be-
kehrung von Hunderten, ja Tauſenden verlorener Schafe aus
dieſem oder jenem ſichtbaren „Stalle‟ komme gar nicht in Betracht
gegen ſo manche objektive und oft genug blos formale Kirchenfrage,
während doch die Rettung einer einzigen Seele, das Wiederfinden
eines einzigen Lammes alle Himmel mit Freude und Preis erfüllt. —
Wahrſcheinlich doch wohl ohne Unterſchied, ob das Verlorene dieſer
oder jener, oder noch gar keiner Heerde zugehört, ob es dieſer oder
jener Heerde zugeführt wird — ſofern es nur fortan mit allen Heerden
und allen Lämmern dem großen Erzhirten folgt. Danach aber
dürfte die Geringſchätzung oder Verdammung, womit manche eifrige
Hirten dieſer oder jener Heerde ſolche Seelenrettungen außerhalb
ihrer Heerden betrachten, ſich ſchwerlich evangeliſch rechtfertigen laßen.
Ohne Zweifel gibt es Fälle, wo unter dem heuchleriſchen Schein
der Rettung geradezu Seelenraub getrieben wird, wie z. B. von
Seiten der Baptiſten in unſeren lutheriſchen Gemeinen — wieweit
mit oder ohne Schuld der Hirten iſt eine andere Frage! — Jeden-
falls aber iſt davon bei den Revivals nur in den ſeltenſten Aus-
nahmen die Rede. Bei der vollkommenſten Uebereinſtimmung mit
den Lehren der lutheriſchen Kirche, namentlich hinſichtlich der Sa-
kramente, muß man doch darauf beſtehen, daß eine ächt ſchriftgemäße
Erweckung auch ohne Sakrament, ohne Taufe möglich und berechtigt
iſt — um ſo mehr, da ſie unter den hier irgend in Betracht kommen-
den Verhältniſſen ganz von ſelbſt ihre Beſtätigung im nachträglichen
Sakrament erhält — in dem Sinne und mit der Kraft, die dann
der Kirche gegeben ſein mag, deren Diener die Erweckung bewirkte.
Ueber dieſe verſchiedenen Kirchen ſelbſt und ihre Berechtigung zu
exiſtiren, haben wir aber hier nicht zu richten. Jm Revival aber
ſteht die Alternative ganz einfach ſo: ſie hat es entweder mit Ge-
tauften und ſonſt durch Sakrament einer beſtimmten Kirche Ange-
hörigen, aber ihr Entfremdeten zu thun, oder mit Ungetauften und
alſo keiner Kirche Angehörigen. Ueber die erſte und als Regel
anzuſehende Alternative will ich nur fragen: ſollen dieſe verloren
bleiben, wenn oder weil ſie von ihren eigentlichen Hirten ver-
ſäumt, von andern aufgefunden worden oder andern zulaufen? Oder
kann Jemand im Ernſt glauben, unter den gegebenen Verhältniſſen
könne auch nur in einem Fall von Hunderten davon die Rede
ſein, die heranſtrömende Menge zu ſortiren und Jeden einem Geiſt-
lichen ſeiner Kirche oder gar ſeinem Parochus zuzuweiſen. Und
wenn er zu dieſem kein Vertrauen hat, weil er ihn gar nicht kennt
u. ſ. w., oder wenn der nichts von ihm wißen mag, darf man ſich dann
mit einem: „da ſiehe du zu!‟ aus der Sache ziehen? Der andere
Fall aber iſt noch einfacher für Jeden, der nicht mit jenem Ber-
liner Referat die Erweckung ohne vorhergegangene Taufe für
unevangeliſch und unmöglich hält, wogegen denn doch hoffentlich
mehr denn eine lutheriſche Autorität zu finden ſein dürfte!
Doch ich ſehe, daß mich die Begründung meines Standpunktes
ſchon zu der Beurtheilung der von Andern erhobenen Anklagen
gegen das Revival geführt hat, die ich mir, wenn Sie einverſtanden
ſind, dem nächſten Briefe vorbehalten wollte. Womit u. ſ. w.
Fünſter Brief.
Bei Jhrer mir eben ſo erfreulichen als einigermaßen uner-
warteten Zuſtimmung zu den weſentlichen Punkten, womit ich im
Vorigen meine Stellung zu den allgemeinen kirchlichen Fragen be-
zeichnete, die hinſichtlich des Revivals in Betracht kommen, darf ich
nun ohne Weiteres zu einer kurzen Beleuchtung der Bedenken über-
gehen, die von manchen andern kirchlichen Standpunkten aus gegen
jene ganze Bewegung erhoben worden ſind — beſten Falls, wie
ich annehmen darf, ohne genügende Jnformation hinſichtlich der
Thatſachen.
Hier drängen ſich mir nun zunächſt ſolche Punkte auf, die ſich
eigentlich nicht ſowohl auf die Thatſachen ſelbſt, als auf die dog-
matiſche Auffaßung, Formulirung und Nomenklatur beziehen. So
hat man z. B. großen Anſtoß daran genommen, daß von manchen
Seiten das Revival als eine Art von neuem Pfingſtwunder wohl gar
in Verbindung mit apokalyptiſchen Fragen aufgefaßt worden — als
eine neue Ausgießung des Heiligen Geiſtes auf alles Fleiſch u. ſ. w.
Nun kann Niemand dieſer ganzen Auffaßung ſowohl im Allgemeinen
als in der conkreten Anwendung weniger geneigt ſein, als ich; aber
was nun weiter? Zunächſt dürfte doch jedensfalls eine irrige Auf-
faßung einer Sache, dieſer Sache ſelbſt nicht zum Präjudiz gereichen!
Daß der Heilige Geiſt im Revival durch ſeine Wirkungen auf
Tauſende ſo thätig war und iſt, wie er es nur irgend ohne poſitive
Wunder im ſtrengſten Sinne in der gegenwärtigen argen Welt ſein
kann und ſeit Jahrhunderten war, wird Niemand im Ernſt läugnen,
dem nicht alle Bekanntſchaft mit notoriſchen Thatſachen fehlt. Daß
dieſe Wirkungen ſich anders als nur der Ausdehnung, dem Grade
nach von Erſcheinungen unterſcheiden, die ſeit der erſten Ausgießung
des Heiligen Geiſtes unter Gottes Gnade zu dem Alltagsleben der
objektiven Chriſtenheit und deren einzelnen ſubjektiven Glieder ge-
hören, wird ſogar im Revival nur von wenigen irgend gewichtigen
Stimmen behauptet; aber auch wenn irrige Anſichten und Er-
klärungen jener Erſcheinungen viel allgemeiner wären, als ſie es ſind,
würde damit an der wirklichen Bedeutung, dem wirklichen Weſen,
der wirklichen Thatſachen das Mindeſte geändert? Handelt es ſich
darum im Weſentlichen weniger um wirkliche Erweckungen
und Bekehrungen von Tauſenden, gewirkt durch den Heiligen Geiſt,
vermittelt durch Wort und Gebet und, wie wir als Lutheraner jeden-
falls verſichert ſind, durch die Taufgnade oder das andere Sakra-
ment, wo ſolche überhaupt vorhanden waren? Sollte wirklich
Jemand im Ernſt glauben, dieſe Wirkungen des Heiligen Geiſtes
könnten durch dogmatiſchen Jrrthum oder Confuſion des menſchlichen
Werkzeuges geſchwächt, verhindert, adulterirt werden — der Chriſtus,
den ein in ſolcher Weiſe Erweckter und Geretteter findet, ſei nicht
der rechte Chriſtus, ſo mag das Alles ſein, was man will, nur nicht
lutheriſch! Ob und wie weit ſolche Jrrthümer über die Bedeutung
oder dogmatiſche Formulirung ſolcher Wirkungen Dieſem oder Jenem
zur Sünde werden können — das iſt eine ganz andere Frage, zu
deren Beantwortung ich in der Sache ſelbſt nicht die mindeſte
Nöthigung und in mir nicht den mindeſten Beruf finde. Jſt aber in
dem entgegengeſetzten Extrem dogmatiſcher Kritik keine Gefahr?
Weiter hat es merklichen Anſtoß gegeben, daß, wie behauptet
wird, beim Revival eine große Verwirrung ſowohl hinſichtlich der
Begriffe oder Ausdrücke: Erweckung, Bekehrung, Wiedergeburt
u. ſ. w. als der correkten Reihenfolge ihrer Erſcheinungen herrſcht.
Jch werde mich nun ſehr hüten, mich in eine dogmatiſche Erörte-
rung der Art einzulaßen — um ſo weniger, da ich mir in die-
ſen Punkten keiner poſitiven antilutheriſchen Ketzerei bewußt bin.
Mir däucht aber, man kann die orthodoxen Diſtinktionen und Stufen-
folgen in der Vollſtändigkeit einer ſyſtematiſchen abſtrakten Ent-
wicklung als Regel vollkommen anerkennen, ohne doch die relative
Berechtigung einer weniger vollſtändigen und correkten Geſtaltung,
als conkrete Ausnahme zu verwerfen. Ja, man kann alle jene Be-
denken hinſichtlich der im Revival gäng und gäben Auffaßung und
Ausdrücke als unbedingt begründet anerkennen, ohne daß dadurch
das, worauf es doch eigentlich im Weſentlichen zuletzt ankommt, im
Geringſten alterirt würde — nämlich eben wieder die Thatſachen
zunächſt der Erweckung bei Tauſenden. Werden dieſe und ihre
Früchte in der Heiligung zugegeben — wie denn in der That gar
nicht anders möglich iſt, wenn man nicht jede Möglichkeit eines
Beweiſes ſolcher Dinge läugnen will — ſo kommt auf die übrigen
Stücke entweder nichts an, oder ſie verſtehen ſich von ſelbſt. Aber
ſteht es denn wirklich ſo ſchlimm mit der Terminologie des Revivals?
Jſt dieſer Gebrauch gewißer Ausdrücke, dieſe Reihenfolge gewißer
Wirkungen wirklich unbedingt ſchriftwidrig oder verträgt es ſich
nur nicht mit dem, was in dieſer oder jener confeſſionellen Schul-
ſprache allein als correkte Definition und Ordnung angenommen iſt?
Non nostrum tantas componere lites! — Die Warnung aber vor
„Schulgezänk‟ werden ſich die Weiſen der Schulen ohne Zweifel
ſelbſt zu appliciren wißen. Daß es eine Regel, eine Ordnung der
verſchiedenen Erſcheinungen und Wirkungen gibt, unter denen das
vom Glauben und von der Heiligung, mit andern Worten vom
HErrn abgefallene Jndividuum ihm wieder zugeführt wird, bin ich
weit entfernt, zumal ſolchen Autoritäten gegenüber, zu läugnen,
und immerhin mag bei dem Tumult und der Aufregung des Revivals
jene Ordnung nicht immer eingehalten werden — welche es dann
auch ſein mag! Sollte aber irgend eine Ordnung und Regel in
ſolchen Dingen ohne alle Ausnahmen gelten? Sollte der Heilige
Geiſt, der doch nicht blos ein Geiſt der Ordnung, ſondern auch
der Freiheit iſt, ſich gerade dort an eine ſolche Ordnung und Regel
oder gar blos an dieſe oder jene Routine binden müßen? Jn der
That, geehrteſter Freund, Sie müßen mir verzeihen, wenn ich ſelbſt
kein Wort weiter über ſolche Fragen verliere und nicht begreife,
wie treue Diener unſerer Kirche ſich ſo ernſtlich damit beſchäftigen
können, daß ſie gar nicht darüber hinaus zu jenen Erweckungen ſelbſt
kommen, die denn doch Angeſichts des grauenvollen Mangels an
Erweckung in ihren eigenen oder ihrer Nachbarn Gemeinden eine
ganz andere Bedeutung für ſie haben müßten.Ob und wie weit auch die methodiſtiſchen Erweckungen der wünſchenswerthen
Correktheit entbehren, laßen wir dahin geſtellt; doch iſt jedenfalls zu be-
merken, daß das heutige Revival keineswegs unbedingt mit jenen eigentlich
methodiſtiſchen Wirkungen zuſammenfällt. Dieſe ſpielen zwar darin eine
ſehr große Rolle, daneben aber finden auch gar manche andere Momente
mehr oder weniger Raum.
Weiter hat man dann großes Aergerniß genommen an den
Mitteln, an dem ganzen Verfahren der Revivals, wobei dann
Mittel und Wirkung oft zuſammenfällt. So auch an jenem, die
Ordnungen und Gränzen der Kirche oder Kirchen ſo vielfach durch-
brechenden maſſenhaften tumultuariſchen Charakter, an der oft rohen
Oeffentlichkeit der intimſten Momente der Seelſorge in ihren mannig-
faltigen Wirkungen und Formen, an der allgemeinen und indivi-
duellen Aufgeregtheit der ganzen Sache u. ſ. w. Jch habe ſchon
von vorne herein zugegeben, daß in alle dem Manches iſt, was
von allen irgend beachtenswerthen Stimmen in und außerhalb des
Revivals als vom Uebel beklagt und bekämpft wird. Die Punkte
oder Gränzen, worin eine weſentliche Uebereinſtimmung herrſcht,
können wir auf ſich beruhen laßen; was aber das noch immer
ziemlich weite Gebiet von Thatſachen betrifft, worüber auch die
beſonnenſten Vertreter des Revivals die Bedenken nicht als begründet
anerkennen werden, die ſowohl in England ſelbſt als bei uns im
Sinne confeſſionell-kirchlicher Correktheit dagegen erhoben worden,
ſo dürften ſie wohl nicht mit Unrecht verlangen, daß der Stand-
punkt der Gegner und das Geſetz, wonach ſie das Revival be-
oder verurtheilen, beſtimmt angegeben werde. Einer Ueberführung
aus und nach Gottes Wort, nach Geſetzen allgemein chriſtlicher
Ethik, würden ſie ohne Zweifel weichen; gegen eine Entſcheidung
nach den Lehren, Ordnungen oder gar nach der bloßen Routine
dieſer oder jener ſpeciellen Confeſſionskirche würden ſie großentheils
unbedingt proteſtiren, und noch weniger werden ſie für bloße natio-
nale oder gar nur individuelle Jdioſynkraſieen die geringſte Rückſicht
haben.
Wie ſteht nun in dieſer Hinſicht die Sache? Es bedarf keiner
weiteren Nachweiſung oder Erklärung der Thatſache, daß jene Be-
denken hauptſächlich von Seiten derjenigen Kirchen und Kirchen-
parteien erhoben worden, welche ſich durch Strenge in dem Begriff
des Amts und überhaupt aller äußeren formalen Gränzen und
Ordnungen auszeichnen, alſo namentlich — der römiſchen Kirche
nicht zu gedenken — in England von Seiten der anglikaniſchen
Kirche und darin wieder der ſogenannten hochkirchlichen Parteien;
dann bei uns von Seiten der lutheriſchen Kirche und der ihr näher
ſtehenden, wenn auch einigermaßen ſchwankenden Elemente der Union
und des in ihr aufgelöſten Calvinismus. Wie dann aber, wenn
das Revival verlangt, man ſoll ihr nicht aus den 39 Artikeln und
den Rubriken und nicht aus der Auguſtana oder gar aus den
Schmalkalder Artikeln und der Concordienformel, ſondern aus der
Heiligen Schrift beweiſen, daß z. B. ſehr zahlreiche, ja maſſenhafte
4
erbauliche Verſammlungen zu Predigt, Gebet und ſogar zu indivi-
duell oder gruppenweiſe ſeelſorgeriſcher Bearbeitung mit Betheiligung
nicht nur von Geiſtlichen, ſondern auch von Laien verſchiedener
Denominationen, nicht blos in Kirchen, ſondern auch im Freien oder
in anderweitig profanen Räumen, ſogar in Theatern — daß ein
hoher Grad von Aufregung, von Erſchütterung und Rührung der
ganzen Verſammlung und einzelner Mitglieder, ausnahmsweiſe und
unabſichtlich bis zu nervöſen Zufällen mancher Art — daß dies
Alles unbedingt und principiell ſchriftwidrig und unchriſtlich,
oder auch nur thatſächlich überwiegend ſchädlich iſt? Jch geſtehe,
daß ich eine ſolche Beweisführung nirgends gefunden habe und ſie
ſelber zu führen nicht im Stande wäre. Alle dieſe Dinge, ſcheint
mir, kommen in ihren weſentlichen Momenten, und abgeſehen von
dem äußeren Mehr oder Weniger, theils in den Evangelien, theils
in der Apoſtoliſchen Kirche entweder wirklich vor, oder ſind doch
nirgends ausdrücklich oder durch unabweisliche Folgerung ausge-
ſchloßen. Gefahren liegen als Möglichkeit in allen dieſen Dingen,
auch wo ſie in ſtillen, kleinen Kreiſen, oder in einer einzelnen Men-
ſchenbruſt vor ſich gehen können, um ſo mehr, wenn ſie unter dem
räthſelhaft mächtigen Einfluß ſtehen, den jede größere Verſammlung,
bis zu ganzen Volksgemeinſchaften hinauf, zu allſeitig wechſelweiſer
Steigerung der Affekte in einer ſittlichen und geiſtigen Geſammt-
atmoſphäre ausübt und wobei ſinnliche und geiſtige Momente ſo
innig verſchmelzen, daß die Gränzen gar nicht mehr nachweislich
ſind. Und doch ſchreibt weder das Beiſpiel des HErrn, noch ſonſt
die Heilige Schrift, noch die erſte Kirche irgendwo der Zahl der
zu erbaulichen Zwecken Verſammelten beſtimmte Gränzen vor. Wir
finden Verſammlungen von Tauſenden erwähnt, und ſollten hier die
natürlichen Wirkungen ſolcher Gemeinſchaft mit deren bedenklichen
Möglichkeiten ganz gefehlt haben? „Es ſoll Alles ordentlich zu-
gehen‟, ſo heißt es; aber der Begriff der Ordnung iſt nach Um-
ſtänden verſchieden. Sollte dies nicht auch da gelten, wo es ſich
darum handelt, die Verſammlung oder eine große Anzahl der Mit-
glieder erſt unter den Einfluß und die Zucht des Heiligen Geiſtes
zu bringen? Sollte hier nicht ein Uebergangszuſtand von Kampf,
Unruhe und großer Aufregung geſtattet ſein, ohne die Viele nicht
zur wirklichen Erweckung und zum Frieden zu gelangen vermögen?
Dabei iſt freilich immer die Vorausſetzung, daß die Verſammlung
eben unter der Zucht des Heiligen Geiſtes ſtehe; aber was in aller
Welt berechtigt uns, dem Revival eben dieſe Eigenſchaft und Bürg-
ſchaft abzuſprechen? Die Klage über Unordnung iſt aber hier that-
ſächlich ohne genügenden Grund; die Ordnung vielmehr war und
iſt in den allermeiſten Fällen bei jenen Meetings nach Maaß
gegebener Umſtände wahrhaft zu bewundern. Schon dies allein
iſt entſcheidend, ſo lange wir weder in den Lehren, die hier haupt-
ſächlich getrieben werden, noch in der Art, wie ſie getrieben werden,
noch in den Wirkungen etwas Schriftwidriges nachweiſen können.
Eine ſolche Nachweiſung aber, wie geſagt, iſt hinſichtlich irgend
weſentlicher Momente und abgeſehen von ausnahmsweiſen Extra-
vaganzen, welche das Revival, ſofern es überhaupt wenigſtens im
Geiſt als ein Ganzes betrachtet werden kann, ſelbſt verwirft. Auf
Einzelnheiten weiter einzugehen, iſt nicht meine Abſicht noch Auf-
gabe Nur ein Punkt möge beiſpielsweiſe hier noch beſprochen werden: die Kinder-
erweckungen. Wer möchte läugnen, daß gerade hier die Gefahren beſonders
groß ſind und die Erſcheinungen oft genug ſehr befremdlich und bedenklich
— ja, peinlich, oft aber auch ebenſo erfrenlich und lieblich. An ſich aber
und weſentlich liegt darin doch nichts nachweislich Schriftwidriges — nichts
was ſich nicht unter das: „laßet die Kindlein zu mir kommen‟ ziehen ließe.
Ja — nach confeſſionellſtem Maaße gemeſſen — welches Recht haben wir,
es zu tadeln oder zu verwerfen, wenn Kinder mit Lehren lebendigen Ernſt
machen, die zu den Hauptſtücken des Katechismus gehören, der ihnen Jahre
lang eingeprägt wird. Bleiben ſie aber bei der unendlichen Mehrzahl leider
als ganz todte Formel höchſtens im Gedächtniß — wo iſt dann die größere
Gefahr, der größere Schaden?; nur einen wirklich erheblichen Punkt möchte ich hervor-
heben. Man hat dem Revival auch in Genf vorgeworfen, daß es
über der Erweckung und der daraus hervorgehenden ſubjektiven
Zuverſicht der Gnade und Erlöſung das Moment der Heiligung
vergeße — daß, mit einem Worte, die Erlangung dieſer Zuverſicht
dem bisher ungläubigen Sünder viel zu bequem gemacht, viel zu
ſehr auf einen Augenblick ſubjektiver Aufregung und Erſchütterung
geſtellt und dadurch die Gefahr herbeigeführt werde, daß bei Vielen
die chriſtliche Freiheit auf erneuten oder fortgeſetzten Welt- oder
Sündendienſt geſtellt, die Heiligung, die Reform des Wandels als
Nebenſache angeſehen werde. Daß dieſe Gefahr wirklich vorhanden
4*
und durch die Art, wie in der Predigt und Seelſorge mancher
Arbeiter im Revival die Rechtfertigung aus dem Glauben, oder
vielmehr aus dem im Sturm gewonnenen ſubjektiven Bewußtſein
einer perſönlichen Beziehung in Glaube, Liebe und Hoffnung zum
Heiland, ausſchließlich oder ganz überwiegend und, wenigſtens ſchein-
bar, im Gegenſatz zu den Werken der Heiligung hervorgehoben
wird — das wird von andern Seiten auch im Revival neuerdings
als eine Gefahr, als ein Mißbrauch der ganzen Sache anerkannt
und iſt wirklich ein controverſer Punkt zwiſchen der großen Mehr-
zahl der Notabilitäten und einigen der eifrigſten Wortführer des
Revivals geworden. Dazu haben denn ohne Zweifel einige prak-
tiſche Erfahrungen Anlaß gegeben; doch aber würde man ſehr
falſch ſchließen, wenn man annähme, daß irgend eine irgend gewich-
tige Stimme etwa die Heiligung ausdrücklich als überflüßig dar-
ſtellte und nicht vielmehr auch darauf dringe. Die Sache iſt
vielmehr nur die, daß man hier von der rein thatſächlichen prak-
tiſchen Vorausſetzung und Erfahrung ausgeht, daß in den meiſten
Fällen, womit das Revival es zu thun hat, zwar die nächſte Auf-
gabe die iſt, den ungläubigen Sünder zur Erkenntniß ſeines ſeelen-
gefährlichen Zuſtandes zu bringen, dann aber ihn aus der gefähr-
lichen Krife gänzlicher Verzweiflung raſch dem ſündenvergebenden
Heiland zuzuführen und den weitern Wirkungen des Heiligen Geiſtes
zu übergeben, wo dann auch die Heiligung nicht ausbleiben wird.
Wird dabei nun ohne Zweifel oft im Eifer auf den einen Punkt
ein ſo großes Gewicht gelegt, daß der andere relativ allzuſehr
zurücktritt und auch in manchen Fällen ſpäter nicht wieder zu ſeinem
Rechte kommt, ſo iſt das, wie geſagt, eine Gefahr, die anerkannt
und bekämpft wird. Ehe aber namentlich wir Lutheraner darum
die ganze Bewegung verwerfen, mögen wir doch ja bedenken, daß
gegen uns (nicht etwa blos von römiſcher Seite) derſelbe Vorwurf
erhoben worden, ſondern auch eine Menge der gewichtigſten Zeug-
niſſe aus dem Schooße der lutheriſchen Kirche Man braucht hier nur an die neueſten Schriften von Tholuck zu erinnern. conſtatiren die
hiſtoriſche Thatſache, daß in der Periode der größten Blüthe luthe-
riſcher Orthodoxie die Zuverſicht auf das sola ſide zu dem kläg-
lichſten Verfall der Zucht und des Wandels bei aller formalen
Kirchlichkeit geführt hat, ohne daß wir darin irgend Veranlaßung
finden können, jener Kernlehre in richtigem Verſtändniß zu entſagen.
Welche praktiſchen Wirkungen der Prädeſtinationslehre bei den Cal-
viniſten vorgeworfen werden und welche wirklich eingetreten, iſt
bekannt genug. Das Revival aber um jener Gefahr willen zu
verwerfen, würde uns um ſo ſchlechter anſtehen, da notoriſch in
den allermeiſten Fällen eben die Reform des Wandels — ja,
meiſtens auch der formalen objektiven Kirchlichkeit — durch eine
quatenus Heiligung ein ganz überwiegend allgemeiner Zug der
ganzen Bewegung iſt. Noch weniger Recht hat wo möglich die
anglikaniſche Kirche, ſich zum verdammenden Richter des Revivals
aufzuwerfen, wenn ſie ſich irgend ihrer eigenen großen Mängel und
ſchweren Begehungs- und Unterlaßungsſünden namentlich aus frü-
heren Zeiten bewußt iſt — gleichviel mit welchen in ihrer Lehre
oder deren Mißverſtändniß liegenden Gefahren für Zucht und Wandel
jener tiefe Verfall und Todesſchlaf zuſammenhängen mag.
Ob und wieweit die dem Revival von dieſer Seite Schuld
gegebene antikirchliche oder kirchenauflöſende Tendenz — etwa im
Sinne der evangelical Alliance — auch wenn ſie gegründet wäre,
eine aktiv durch arge Uebertreibungen wirklicher Schattenſeiten in
den wegwerfendſten Ausdrücken So eben noch glaubt ein hochkirchliches Blatt das Revival in Ulſter kurz-
weg als the revival imposture bezeichnen zu dürfen! und paſſiv durch gänzliches Jgno-
riren aller erfreulicheren Punkte ſich manifeſtirende confeſſionelle
Feindſeligkeit als chriſtlich und evangeliſch gerechtfertigt erſcheinen
könnte — das laße ich dahin geſtellt. Aber eben jene Vorausſetzung
iſt ſoweit wenigſtens durchaus in Abrede zu ſtellen, als dabei von
einer bewußt feindſeligen Abſicht, einem erklärten Gegenſatz als
conſtanter und allgemeiner Zug des Revivals die Rede ſein ſoll.
An einzelnen Aeußerungen und einzelnen Perſönlichkeiten auch in
dieſem Sinne fehlt es zwar nicht — was übrigens bei der Maaß-
loſigkeit der von jener Seite eröffneten Polemik ſchwerlich befrem-
den kann; im Allgemeinen aber enthält man ſich im Revival einer
direkten und ausdrücklichen Polemik gegen die Landeskirche als
ſolche um ſo mehr, da ſie ſelbſt in der Bewegung ziemlich ſtark
vertreten iſt. So lange aber dieſe Kirche ſelbſt dieſe laxeren und
zerfloßeneren evangeliſchen Elemente nicht ausſchließen kann, iſt
es dem Revival ſchwerlich zu verdenken, wenn es gelegentlich in
dem Puſeyismus, Traktarianismus einen beiden gemeinſamen und
höchſt agreſſiven Gegner bekämpft. Damit ſoll nicht geläugnet
werden, daß nicht thatſächlich in einer an ſich zwar nicht anti-
kirchlichen, aber doch unkirchlichen, weil nicht ſpecifiſch confeſſionellen
Bewegung eine Gefahr einer auflöſenden Wirkung auf die Kirche
läge — aber die Verwirklichung dieſer Möglichkeit wird nur in
dem Maaße eintreten, wie eben dieſe Kirche gegen ihre Mitglieder
vor, in oder nach ſolcher Erweckung ihre Pflicht verſäumt. That-
ſächlich ſteht feſt, daß die Strömung des Revivals faſt nur ſolche
Glieder der Landeskirche ergreift, die ihr in Wahrheit ſchon ent-
fremdet ſind, ohne Zweifel nicht ohne ſchwere Mitſchuld kirchlicher
Sünden und Mängel. Ebenſo feſt ſteht, daß dieſe Elemente nach
jener außerkirchlichen Erweckung in der Regel und wenn die Kirche
wenigſtens jetzt ihren Beruf nicht verſäumt, von derſelben Strömung
wieder auf kirchlichen Boden abgeſetzt werden. Und zwar gilt dies
von allen Denominationen. Namentlich iſt dies unläugbar in
dem Maaße der Fall, wie die Strömung nicht ihre Fruchtbarkeit,
aber ihr erſtes Ungeſtüm verliert. Dem eben über die engliſche
Landeskirche und beſonders ihre hochkirchliche und traktariſche Strö-
mung Geſagten werden Sie, geehrteſter Freund, hoffentlich um ſo
weniger das Gewicht großer Unbefangenheit abſprechen, da Sie
wißen, daß ich eben dieſe Partei auf’s entſchiedenſte gegen die
meiſten über ſie hergebrachten Vorurtheile und Anfeindungen zu
vertreten pflege.
Jn alle Dem nun ſuche ich vergebens nach einem unmittelbar
ſchriftmäßigen Grunde der Verwerfung des Revivals. Jch finde
dieſe Bewegung, trotz der daran haftenden menſchlichen Mängel
und Exceſſe, durchaus innerhalb der Gränzen der unſichtbaren Kirche.
Was aber ihr Verhältniß zu den Dingen betrifft, die nur in Lehren
und Ordnungen dieſer oder jener ſichtbaren Kirche begründet ſind,
ſo bedarf es hier einer Unterſuchung der thatſächlichen Begründung
dieſes Vorwurfs inſofern nicht, als das Revival nicht an dieſe
Ordnungen gebunden iſt und im Weſentlichen, wie geſagt, nur ſo
weit mit ihnen in objektiven Gegenſatz tritt, als ſie ihm auch den
Grund und Boden (gleichſam Alluvialgrund!) ſtreitig machen, den
ſie ſelbſt preisgegeben. Jm Uebrigen iſt dem, was ſchon oben
darüber bemerkt worden, nur noch die Frage hinzuzufügen: ſollte
nicht ein Haupthinderniß des Verſtändniſſes oder eines wenigſtens
leidlichen modus vivendi in manchen Punkten darin liegen, daß
man zunächſt auf kirchlicher Seite zu wenig zwiſchen kirchlichen
Ordnungen und kirchlicher Praxis oder gar Routine unterſcheidet,
die denn nur zu oft in Mißbrauch und Unordnung verläuft; aber
auch die Gegner der Kirche überſehen oft genug dieſen Unterſchied,
was ihnen freilich weit weniger zu verdenken iſt. Dieſe Bemer-
kungen beziehen ſich hier zunächſt auf die engliſche Landeskirche, als
die einzige reformatoriſche Kirche, welche im Falle war, ſich wenig-
ſtens in ihrer äußerſten kirchlichen Spitze bisher in wirklichen Kampf
gegen das Revival einzulaßen und inſofern eine ähnliche Stellung
dazu einnimmt, wie ohne Zweifel die lutheriſche Kirche, wenigſtens
in ihrer äußerſten Rechten, dagegen einzunehmen verſucht ſein
mag. Die wirkliche Nutzanwendung aber auf unſere deutſchen
Reformationskirchen behalte ich mir für den nächſten Brief vor,
wenn Sie mir auch auf dies heikelſte Gebiet folgen mögen, wo
denn auch die Erledigung der Frage nach der Berechtigung nationaler
Jdioſynkraſieen dem Revival gegenüber ſich um ſo eher anſchließen
kann, da zumal die lutheriſche Kirche ſo weſentlich einen national
deutſchen Typus trägt. Bis dahin u. ſ. w.
Sechſter Brief.
Jndem ich mich anſchicke, geehrteſter Freund, auf die Frage
einzugehen: ob und wieweit das Revival wirklich im Gegenſatz,
wohl gar in unbedingtem Gegenſatz zu unſeren kirchlichen Bekennt-
niſſen und Ordnungen ſteht — oder ob und wieweit wir daraus
Beiſpiele, Lehren, Waffen, Werkzeuge, Kräfte, Mittel für ein wirk-
ſames Heilverfahren gegen unſere kirchlichen Nothſtände entnehmen
können und dürfen, finde ich mich ſogleich der leidigen Vorfrage
gegenüber: was gilt denn eigentlich bei uns formal und faktiſch als
kirchliche Ordnung — für die Lutheriſchen, Calviniſchen oder Unio-
niſtiſchen Kirchen — was iſt in dieſen wieder wirkliche Ordnung, was
bloße Praxis, was bloße Routine? Die Erörterung der erſten Frage
kann ich vielleicht Jhnen und mir dadurch erſparen, daß ich mich
lediglich an die lutheriſche Kirche halte, was ſich hoffentlich ohne
Verletzung der beiden übrigen durch die Vorausſetzung rechtfertigen
läßt: daß Conceſſionen, welche ſogar die lutheriſche Kirche dem
Revival machen kann, gewiß bei keiner andern Reformationskirche
auf ein ernſtliches Bedenken ſtoßen dürften — wenigſtens nicht
von Seiten der ecclesia militans oder loborans. Denn freilich was
die ecclesia doctorans, die Kirche der Wißenſchaft, die Theologen
und ihre Schulen betrifft, welcher Kirche ſie auch angehören mögen,
ſo iſt durchaus kein ſicheres Prognoſtikon zu ſtellen, gegen welche
Seite ſich ihre gelehrte Kritik wenden und in welche Punkte ſie ſich
verbeißen können Jndem ich dies ſchreibe, kommt mir ein zweites, nämlich das Schmieder’ſche
Referat über die methodiſtiſche Erweckung (Berliner Paſtoralconfereuz von
1861) zur Hand, und ich finde darin mit Schrecken einen neuen Beweis,
wie wenig der einfache Laienverſtand hoffen kann, in dieſen Dingen durch
die bedenklichſten Jrrthümer gegen irgend ein theologiſches Syſtem zu ver-
ſtoßen. Danach nämlich wäre die methodiſtiſche Erweckung (und ſomit auch
das Revival) ſchriftwidrig, weil ſie auf Erſchütterung des Gemüths,
der Seele des Sünders beruht, in der Heiligen Schrift aber nirgends die
Anwendung dieſes Mittels ausdrücklich geboten iſt. Dagegen iſt uns
Laien wohl geſtattet, uns vorläufig darauf zu berufen, daß die Heilige
Schrift ſpricht: „Gottes Wort iſt ein Hammer, der Felſen zerſchmeißt.‟
Der HErr ſäuſelt wohl, aber er wettert auch! Jedenfalls darf man wohl aus allgemeinen
Gründen annehmen und namentlich aus den bei Gelegenheit der
Elberfelder Waiſenhausſache laut gewordenen, zum Theil officell
kirchlichen Stimmen ſchließen, daß von der reformirt-unioniſtiſchen
Kirche ein allgemeines poſitiv ungünſtiges Vorurtheil gegen das
Revival auch für Deutſchland nicht zu erwarten iſt, ſondern eher
das Gegentheil. Weshalb dennoch bisher auch von dieſer Seite
wenig oder nichts gethan worden, um etwanige Sympathieen zu
bewähren — weshalb es auch dort noch nicht einmal zu irgend
gründlichen Erörterungen der praktiſchen Bedeutung und Berech-
tigung der Sache für uns gekommen, iſt dann freilich um ſo mehr —
die Frage!
Zu einer wirklichen und erſchöpfenden Beantwortung der hier
einſchlagenden Fragen nach den in der lutheriſchen Kirche gegebenen
Normen finde ich nun, wie ich ſchon von vorne herein erklärt habe,
keinen genügenden Beruf, ſondern ich muß mich damit begnügen,
jene Fragen zu formuliren und mit einigen Randbemerkungen Denen
zur Beantwortung vorzulegen, deren höhern Beruf ich mit Freuden
anerkenne und woran es ja auch in Jhrem Kreiſe, geehrteſter
Freund, nicht fehlen wird. Zunächſt bedarf wohl die Voraus-
ſetzung keiner weitern Begründung, daß die lutheriſche Kirche, oder,
allgemeiner geſagt, lutheriſches Weſen in der Hauptſache dieſelben
Bedenken dem Revival gegenüber haben wird, wie die anglikaniſche,
wenigſtens in den ſtriktern Richtungen, welche in der Lehre von den
Sakramenten lutheriſiren. Denn, wenn auch dort auf das Amt (in
Folge der vermeintlichen Apoſtoliſchen Succeſſion u. ſ. w.) noch weit
mehr Gewicht gelegt wird, als bei uns und überhaupt die kirchliche
Excluſivität viel weiter getrieben wird, ſo genügt doch auch die
bisherige lutheriſche Auffaßung dieſer Dinge vollkommen, um eine
Betheiligung an einem Revival im Sinn und Form der engliſchen
mit ihrer Promiscuität von Geiſtlichen und Laien aus allen Kirchen
zwar nicht zu einer innerlichen Unmöglichkeit zu machen, doch jeden-
falls mit außerordentlichen Schwierigkeiten zu umgeben. Und, wohl-
gemerkt, ich habe hier nicht etwa die peſſimiſtiſchen Zerrbilder des
Revivals im Auge, wonach z. B. auch Laien die Kanzel beſtiegen
hätten, woran kein wahres Wort, ſondern ich rede von den That-
ſachen, die ich ſelbſt in meiner Darſtellung anerkannt habe. Zu
dieſen ſpecifiſch kirchlichen Bedenken kommt nun noch die Jdioſyn-
kraſie des deutſchen Gemüths, der deutſchen Jnnerlichkeit
— vielleicht auch der deutſchen Menſchenfurcht und Schwer-
fälligkeit gegen ſo manche Einzelnheiten namentlich in der ſeel-
ſorgeriſchen Praxis des Revivals, worauf ich hier nicht zurück zu
kommen brauche. Dinge, die allerdings auch außerhalb der luthe-
riſchen Kirche die nationale Jdioſynkraſie mehr oder weniger her-
vorrufen werden, aber doch nicht in dem Maaße, wie da, wo ſie
durch kirchliche Bedenken getragen und geſchärft wird. Uebrigens
fehlt auch die nationale Jdioſynkraſie in England keineswegs (wie
ich ſchon früher andeutete), obgleich es ganz falſch iſt, wenn man
in dem Revival eine Wirkung ſpecifiſch keltiſcher Nationalität
hat ſehen wollen. Denn auch Ulſter iſt ganz überwiegend nicht
keltiſchen, ſondern nordengliſchen (niederſchottiſchen) Blutes; von
irgend erheblicher Betheiligung des keltiſchen Hochſchottland wird
nichts gemeldet. Wenn aber Wales ſehr ſchnell und heftig ergriffen
wurde, ſo hat das mit der keltiſchen (kymriſchen) Nationalität ſehr
wenig zu ſchaffen, ſondern hängt mit dem Vorherrſchen des Metho-
dismus im Fürſtenthum zuſammen, welche eine Folge der unendlich
dürftigen Ausſtattung und dadurch bedingten geringen Wirkſamkeit
der Landeskirche in jenen Diöceſen iſt. Aber in der engliſchen
Nationalität ſelbſt tritt oft genug, namentlich im religiöſen Leben
(z. B. im Methodismus) ein ſcharfer Gegenſatz hervor zwiſchen einer
gewißen ſtoiſchen Zurückhaltung und Unbeweglichkeit, die freilich mit
dem deutſchen Gemüth wenig gemein hat, und einer Aufgeregtheit,
die gar keine Rückſicht für die Oeffentlichkeit ihrer Demonſtrationen
kennt. Dieſe Widerſprüche zu erklären, kann hier nicht der Ort
ſein, doch iſt eine gewiße Wahlverwandtſchaft jener mehr ariſto-
kratiſchen Verſchloßenheit mit der Landeskirche nicht zu verkennen.
Wie dem auch ſei, ſo wird man in England unter den höheren
und gebildeten Ständen, abgeſehen von andern Gründen der Miß-
liebigkeit des Revivals jeden Augenblick auch den hören: these
things are quite unenglish! Was ich aber daraus folgere, iſt
ganz einfach dies: wenn ehrenwerthe, tüchtige und durchaus eng-
liſche, aber ſpecifiſch chriſtlich erweckte, angeregte, durchdrungene
und bis auf einen gewißen Punkt geweihte Naturen ſich durch die
geiſtlichen und ſittlichen Nothſtände ihrer engliſchen Brüder gedrungen
und gerechtfertigt finden, an ſolch’ unengliſchem Treiben Theil zu
nehmen, ſo mögen wir uns doch wohl bedenken, ob es für uns ge-
nügt zu ſagen: „dies und das iſt gar zu undeutſch!‟ Daß übri-
gens die politiſche oder polizeiliche Freiheit und die allgemeine Ge-
wohnheit der Oeffentlichkeit nicht ohne Einfluß auf das reliögiöſe
Gebiet iſt, verſteht ſich von ſelbſt — doch nur in dem Sinn, daß auch
hier dem demonſtrativen Trieb nicht die Schranken im Wege ſtehen,
die er bei uns erſt durchbrechen müßte, wenn er vorhanden wäre.
Werden Sie nun, geehrteſter Freund, mit mir eine Art deutſch
lutheriſcher Jdioſynkraſie gegen das Revival an ſich und im All-
gemeinen nicht nur begreifen, ſondern auch theilen, ſo fürchte ich
doch, es darf damit unter den obwaltenden Umſtänden nicht Alles
geſagt ſein; die Akten ſind damit wahrlich nicht geſchloßen! — Unſere
ſchweren geiſtlichen Nothſtände, die tauſende von todten Gemeinen,
die zehn- und hundertauſende von todten oder zum Tode kranken
und wunden Glieder unſerer Kirche zwingen uns unbeweislich, die
Frage noch als eine ganz offene anzuerkennen: ob jene Jdioſyn-
kraſieen wirklich in dem eigentlichen innerſten Kern und Weſen der
lutheriſchen Kirche und den darin wurzelnden als unbedingt feſt anzu-
ſehenden Lehren und Ordnungen ihre Berechtigung finden, oder nur
in einer gewißen mehr oder weniger oder zum Theil gar nicht berech-
tigten Praxis und Routine? Wie aber dann, wenn ſich die erſte Vor-
ausſetzung wirklich erweiſen ließe und es fände ſich, daß dieſe Ordnungen
unter den hier in Frage ſtehenden Umſtänden mit dem Wort Gottes
in Widerſpruch treten? Heben wir einen beſtimmten Punkt heraus!
Es hat Diener der lutheriſchen Kirche, lutheriſche Theologen und Rechts-
gelehrte gegeben und gibt ſolche noch heut’ zu Tage — das wißen
Sie ſo gut, wie ich — die behaupten, die lutheriſche Kirche, d. h.
der lutheriſche Paſtor habe keinen Beruf noch Pflicht, noch Recht,
den entfremdeten, verlorenen oder extravagirenden Schafen der ihm
anvertrauten Heerde mit ſeiner Seelſorge nachzugehen, ſie aufzu-
ſuchen u. ſ. w. Die Kirche ſteht ihnen zu geſetzten Zeiten, das
Paſtorat nach Bequemlichkeit offen, dahin ſollen ſie kommen, wenn
die Seelennoth ſie treibt, oder ſie ſollen den Hirten rufen laßen.
Wer das nicht thun mag, der ſpricht ſich ſelbſt ſein Urtheil — ſein
Blut iſt auf ſeinem Haupte! — Jſt das nun wirklich lutheriſche
Ordnung, ſo gibt es kaum einen ſchreiendern Widerſpruch, als
zwiſchen dieſer ſichtbar kirchlichen Ordnung und dem Gebot der
unſichtbaren Kirche in Gottes Wort und in dem Munde ihres
unſichtbaren Hauptes und großen Oberhirten, wie denn jedes
Kind aus ſeinem Katechismus den „guten Hirten‟ kennt, der
die verirrten Schafe in der Wüſte aufſucht und wieder zur Heerde
bringt, wie die Mutter ein verirrtes Kindlein. Sie werden, ge-
ehrteſter Freund, ſagen: das ſind aber keine allgemein anerkannte
Ordnungen unſerer Kirche, ſondern extrem einſeitige Richtungen,
getragen und vertreten von wahlverwandten Jndividualitäten. Da-
bei können Sie ſich auf ſchlagende Beiſpiele im entgegengeſetzten
Sinn, auf Kirchenordnungen und landesbiſchöfliche Reſkripte aus
der beſten „alten Zeit‟, der Blüthe der lutheriſchen Orthodoxie und
Correktheit und noch viel mehr auf die, Gottlob, faſt allgemeine
Praxis des gegenwärtigen „argen und entarteten Geſchlechts‟ berufen.
Ohne Zweifel und glücklicherweiſe iſt dem wirklich ſo; und eben-
ſo gewiß mit manchen andern Punkten, wo die vermeintliche
kirchliche Ordnung ganz einfach auf eine nach Art und Zeit be-
ſchränkte und wechſelnde Praxis hinausläuft, die dann mit einer
bloßen Routine ſo nahe verwandt iſt, daß es ſich nicht lohnt, die
Gränzen aufzuſuchen. Wie heftig ſträubt man ſich, um ein anderes
allerdings weniger prägnantes Beiſpiel zu nehmen, von manchen
Seiten auch heut zu Tage noch gegen jede aktive Verwendung und
Berechtigung des Laienelements in der lutheriſchen Kirche als cal-
viniſirenden Bruch lutheriſcher Correktheit hinſichtlich des geiſtlichen
Amts, und ohne Zweifel hat dieſe Oppoſition, wenn auch keine
unbedingte, doch eine relativ gute Berechtigung gegenüber mancher
der neueſten Anordnungen auf dieſem Gebiet. Abgeſehen aber von
ſolchen wenigſtens theoretiſch offenen Detailfragen, wißen wir Alle,
wäre es auch nur aus Tholuck’s „Lebenszeugniſſen‟, daß in eben
jener lutheriſchen Muſterperiode — die freilich zugleich eine Periode
des ärgſten Verfalls der Zucht und des Wandels bei Hoch und
Niedrig, Geiſtlichen und Laien war — mehr denn ein höchſt ortho-
doxer Landesbiſchof und Theologe Dinge anordnete und befürwortete,
die einem Presbyterium im Keime ſo ähnlich ſehen, wie ein Ei
dem andern. Wieweit man auch dabei ſich auf beſtimmte evan-
geliſche Gebote, auf die Praxis der Apoſtel u. ſ. w. berufen kann,
laße ich dahin geſtellt — denn ubi doctores dissentiunt etc.! Es
genügt zur allgemeinen evangeliſchen Berechtigung der Sache, daß
es gewiß Niemanden einfallen wird, ſie als ſchriftwidrig zu ver-
werfen, eben weil ſie handgreiflich in das Gebiet fällt, wo die
mannigfaltigſte weitere poſitive Entwicklung der in der Heiligen
Schrift nur im Allgemeinen nach Geiſt und Sinn angedeuteten
oder implicirten Momente den freieſten Raum findet. Nach alle
dem und in allen Punkten wo nicht über allen Zweifel und von
einer anerkannten gemeinſamen Autorität beſtimmt iſt, was Ord-
nung der lutheriſchen Kirche iſt, ſind wir wohl berechtigt anzunehmen,
daß unſere Kirche ſich überhaupt durch keine ſogenannte feſte Ord-
nung jenen Raum hat verſchließen und beſchränken laßen wollen,
ſondern daß ſie ſich vorbehalten hat, nach Umſtänden und Bedürfniß,
ja nach Zeit und Ort, ſchriftmäßig evangeliſche Momente poſitiver
oder negativer, beſtimmter oder unbeſtimmter Art, Gebot oder Zu-
laßung in neuen Ordnungen oder eben durch Zulaßung thatſächlich
zu entwickeln. Wer das Gegentheil behaupten — wer damit zu-
geben wollte: „es gibt wirklich große dringende geiſtliche Noth-
ſtände, in deren Abhülfe ſchriftgemäße oder doch nicht ſchriftwidrige
Mittel ſich nachweiſen laßen oder ſchon bewährt haben, wozu auch
die lutheriſche Kirche die Elemente, Material und Kräfte hat, deren
Abhülfe aber durch Entwicklung dieſer Kräfte der Kirche in ihren
Ordnungen, ihrem Geiſt und ihrem Weſen verboten iſt‟ — wer eine
ſolche Behauptung aufſtellte und hinreichend zu begründen vermöchte,
der würde damit der lutheriſchen Kirche den ſchlechteſten Dienſt
leiſten, das kläglichſte testimonium paupertatis, das vollſtändigſte
Jnſolvenzzeugniß ſtellen — ja, das ſchmählichſte Todesurtheil
ſprechen. Er würde dies, ſoweit er ſolcher Ueberzeugung auch
praktiſche Geltung zu geben vermöchte, auch exequiren. Und meint
man im Ernſt der darin liegenden furchtbaren Verantwortlichkeit zu
entgehen durch die Berufung auf die typiſchen Gegenſäße der
Martha und Maria, bei deren Deutung und Applikation dann
Fleiſch und Blut und ſeine Neigung und Bequemlichkeit nur all-
zuviel Raum finden? Dem iſt aber glücklicherweiſe nicht ſo — von
einer ſolchen allgemein anerkannten unſeligen Entſcheidung ſolcher kirch-
lichen Lebensfragen iſt uns Nichts bekannt. Wir brauchen alſo gar nicht
einmal die verhängnißvolle Frage zu ſtellen: wie dann, wenn nun
doch unſere Kirche ſich ſelbſt ſolche Rettungswege verſchloßen hätte,
die von und in Gottes Wort entweder geboten und gewieſen oder
doch offen gelaßen und verſtattet ſind? Wir halten vielmehr un-
verzagt an dem feſt: was wirklich Noth thut in ſolchen Dingen
und was Gottes Wort gebietet oder geſtattet iſt auch lutheriſch —
jedenfalls in posse, wenn die Noth wirklich da iſt auch in esse! —
Und wenn auch, oder ſo lange die Kirche verhindert iſt in dieſem
Sinne als Ganzes aufzutreten, ſo kann ſie jedenfalls ihren ein-
zelnen lokalen Organen und Gliedern eine ſo freie Bewegung ver-
ſtatten, wie die Sache es dann fordern mag — aber nur ſoweit,
daß die Sache ſelbſt nicht weſentlich darunter leidet und eben des-
halb nicht immer blos negativ, ſondern auch poſitiv. Dem iſt nicht
ſo! Wie wollte denn ſonſt die beſte Zeit, die erſte Liebe der luthe-
riſchen Reformation, wie wollte unſer Luther ſelbſt vor jenem Maaß-
ſtabe lutheriſcher Correktheit beſtehen? Er müßte als undeutſch und
unlutheriſch auf den Jndex ſeiner neuſten Jünger! Oder meint
man, es ſei bei der Reformation ohne maſſenhafte Aufregung, ohne
Erſchütterung, ohne Mitwirkung von Laien u. ſ. w. abgelaufen?
Oder entſpricht etwa Luther dem, was man oft mit allzuviel
weichlicher Selbſtgefälligkeit den Marientypus nennt? War er, der
gewaltige Pfleger, Ordner, Schaffner und Diener der neuen Kirche,
nicht eben ſo gut die perſonificirte Martha?
Jn alle Dem iſt nicht entfernt von einer willkürlich erwählten
Nachahmung und Ueberpflanzung fremder Ordnungen oder gar
Unordnungen die Rede. Der wirklich nationale und kirchliche
Typus iſt durchaus vorbehalten — ſoweit die nachweisliche Pflicht
gegen die Sache es zuläßt. Jn alle Dem ferner gilt die Vor-
ausſetzung eines wirklich dringenden Bedürfniſſes, einer wirklich
zwingenden Gefahr und Noth und einer vernünftigen, wo möglich
erfahrungsmäßigen Ausſicht auf entſprechende Wirkſamkeit des Heil-
verfahrens. Der bloßen polypragmatiſchen Unruhe und Willkür
gegenüber hat ſogar die Routine, wenn ſie nicht in notoriſch ſchwere
Verſündigung ausläuft, ihr gutes Recht — zumal ſo lange noch
eine Ausſicht vorhanden, daß die in ihrem Bereich liegenden Mittel
noch nicht erſchöpft ſind, daß von ihnen noch eine Abhülfe etwa
durch energiſchere Anwendung möglich iſt. Dürfen und müßen wir
nun die Geltung kirchlicher Routine, kirchlicher Praxis — ja, wirk-
licher kirchlicher Ordnungen, ſoweit ſolche feſtſtehen, den Forderungen
thatſächlicher Nothſtände gegenüber auf ein ſo beſcheidenes Maaß
zurückführen und ſie an die höchſte Jnſtanz der Heiligen Schrift
verweiſen, ſo bedarf es kaum einer weiteren Ausführung, daß noch
viel weniger blos nationalen oder gar individuellen Antipathieen
über dieſe Gränzen hinaus Rechnung getragen werden kann. Kein
Einzelner (innerhalb ſeines beſondern oder allgemeinen Berufs),
keine Nationalität kann ſich der Pflicht, Nothſtänden und zwar durch
die eben unbedingt erforderlichen Mittel, ſofern ſie ihr zugänglich
ſind, abzuhelfen, unter dem Vorwande entziehen: „das Mittel, das
Verfahren behagt mir nicht — es wird mir ſchwer, mich dazu zu
entſchließen, daran zu gewöhnen u. ſ. w.‟ Bei dem Einzelnen kann
die Frage ſein, ob dies oder jenes wirklich zu ſeinem Beruf gehört
und gewiß wird Niemand Jedem zumuthen, Jedes anzugreifen,
was etwa bei den kirchlichen Nothſtänden an Arbeit vorkommen
mag. Einer Nation, oder (wenn hier das Abſtraktum eintreten
darf!) einer Nationalität iſt jene Entſchuldigung, ſoweit ſie eben
bei der Kirche und kirchlichen Nothſtänden betheiligt iſt, unbedingt
verſchloßen, wenn ſie nicht eben ſich ſelbſt, oder ihre chriſtliche Würde
und Weihe aufgeben ſoll — wie die Kirche ſich ſelbſt aufgeben
würde, wenn ſie ſich weigerte oder für unfähig erklärte praestanda
praestandi. Die Nationalität (wie eventuell der Einzelne) muß ſich
eben zwingen, muß ſich zuſammennehmen, dann findet ſich auch in
der reichen individuellen Mannigfaltigkeit ihrer Elemente die nöthige
Vertretung zu jeder nöthigen Arbeit. Das hat auch in ihrem
Revival die engliſche Nationalität ſattſam bewieſen. Warum aber
wir es uns in dieſer Sache bei gleicher Noth bequemer machen
dürfen, als unſere überſtolzen überſeeiſchen Geſchlechtsvettern, iſt
wahrlich nicht abzuſehen.
Auf dem bisherigen Wege, geehrteſter Freund, ſind wir wieder
zu einem weit früheren Punkte zurückgekommen, nämlich zu der
Frage: liegt bei uns ein genügender Grund vor, aus unſeren
lutheriſchen, oder calviniſchen, oder unioniſtiſchen Ordnungen oder
Praxis, oder doch wenigſtens Routine und zwar auch gegen damit
mehr oder weniger verbundene nationale Jdioſynkraſieen ſo weit
herauszugehen und die Bahnen des Revivals zu betreten, als es
Gottes Wort geſtattet? Liegt damit allerwenigſtens ein
genügender Grund vor, dieſe Frage im Allgemeinen und Beſondern
ſo oft und ſo gründlich und ernſtlich zu beſprechen, wie irgend eine
andere kirchliche Frage, und bis wir poſitiv oder negativ zu einem
praktiſchen Reſultat gekommen ſind, bei dem ſich das kirchliche oder
chriſtliche Gewißen beruhigen kann oder muß? Noch einmal aber —
es verſteht ſich von ſelbſt, daß wir bei der Beantwortung dieſer
Frage durchaus nicht an eine Nachahmung, an die unmittel-
bare Verpflanzung eines weſentlich und poſitiv fremden Ge-
wächſes zu denken haben. Es wird vielmehr gerade ein Haupt-
punkt für uns immer der bleiben: wie weit können und müßen die
dort angewendeten Mittel und Kräfte bei uns eine den Eigenthüm-
lichkeiten des nationalen Lebens entſprechende Modifikation erlangen?
Ja, es handelt ſich namentlich darum: wie weit ſind wir berufen,
eben durch und in unſeren nationalen und kirchlichen Eigenthüm-
lichkeiten, durch die uns verliehenen eigenthümlichen Charismen
gewiße unläugbare Fehler, Uebelſtände, Gefahren, Aergerniſſe des
engliſchen Revivals in deutſcher Erweckung zu vermeiden und ſtatt
des Mißbrauchs oder Jrrthums die rechte Erkenntniß und ent-
ſprechende Praxis herzuſtellen?
Jſt nun auch die Antwort, welche die Thatſachen auf dieſe
Fragen geben — zunächſt ſchon auf die Vorfrage: ob die Be-
ſprechung derſelben wirklich Noth thut? — eine ſehr wenig er-
freuliche, inſofern eben von irgend ernſtlichen und möglicher weiſe
erſprießlichen Verhandlungen der Art kaum irgend etwas zu ſpüren
iſt, ſo läßt ſich dieſe Erſcheinung nur durch drei eventuelle Vor-
ausſetzungen erklären: entweder wir haben keine dringenden Noth-
ſtände der Art, wie ein Revival ſie vorausſetzt; oder wir, und zu-
mal die Diener der Kirche, haben keine genügende Kenntniß oder
Erkenntniß und Gefühl für dieſe Nothſtände; oder ſie ſind der
Meinung, daß die bisherigen Mittel, Kräfte und Ordnungen, Praxis
oder Routine der Kirche ohne Entwickelung irgend weſentlich neuer
Organe, Funktionen, Maaßregeln und Handhabungen zur Abhülfe
genügen; oder endlich ſie verzweifeln überhaupt an der Möglichkeit
einer Abhülfe.
Was die erſte Alternative betrifft, ſo würde ſie Angeſichts der
himmelſchreienden notoriſchen Thatſachen, z. B. des Leichengeruchs
unſerer meiſten Gemeinen, eine ſolche Stumpfheit und Gleichgültig-
keit, einen ſolchen Mangel an geiſtlichem Hirtenberuf bezeugen, daß
wir ſie, wenigſtens in Beziehung auf die große Mehrzahl unſerer
Geiſtlichkeit, keinen Augenblick feſthalten dürfen, wenn es auch noch
viel ſchwerer wäre, die Thatſache, worauf ſie ſich bezieht, auf andere
Weiſe zu erklären, als wirklich der Fall iſt. Jn der That aber
liegen genug, wenn auch nicht eben erfreuliche, ſo doch an ſich
ziemlich veniale Urſachen vor, weshalb die große Mehrzahl ſich
überhaupt ſo wenig um Dinge bekümmert, die nur mit einer gewißen
Anſtrengung oder Opfer über die Gränzen der täglichen Routine
hinaus zugänglich wären — wozu denn allerdings auch das Revival
gehört. Weshalb unter den nicht an ſo enge Gränzen beſchränkten
Notabilitäten und Autoritäten Niemand ſich findet, um eine ſolche
Jnformation zu vermitteln, muß ich freilich dahin geſtellt ſein laßen!
Was die zweite Vorausſetzung betrifft, ſo dürfte ſie ſchon mit der
erſten ſich inſofern erledigen, als es ſchwer zu begreifen iſt, wie
man eben Angeſichts und in richtiger Würdigung der Nothſtände
und der dadurch erwieſenen Unzulänglichkeit der bisher dagegen
angewendeten Mittel, die Zulänglichkeit der letzteren behaupten kann.
Man müßte denn dabei an eine ſolche Steigerung, Vervielfältigung
und Entwickelung denken und glauben, die thatſächlich und im
Weſentlichen eben dem Betreten einer neuen Bahn, einem neuen
Heilverfahren ſo nahe käme, daß höchſtens Raum zu einem leeren
Wortſtreit bliebe. Aber auch zu einer ſolchen Abhülfe findet ſich
nirgends ein thatkräftiger Beweis des vorhandenen guten Glaubens!
Mit Vorbehalt übrigens, auf dieſe Frage zurückzukommen, will ich
nur noch die letzte Alternative berühren, zu deren Erledigung wenige
Worte genügen. Jene Verzweiflung an der möglichen Wirkſamkeit
irgend eines neuen Mittels hat nämlich, abgeſehen von höheren
Motiven, namentlich in Beziehung auf das Revival gar keine Be-
rechtigung, ſo lange nicht eben jener Vorbedingung auch nur leid-
licher Jnformation über die betreffenden Thatſachen und der gründ-
lichen Erörterung der einſchlagenden Fragen beßer genügt iſt. Jch
müßte mich ſehr irren, oder wenn man z. B. nur ſich nicht mehr durch
den Popanz der Befalle, oder durch die Verwechſelung einiger aus-
nahmsweiſen Extravaganzen mit dem Revival ſelbſt, oder durch immer-
hin dem deutſchen Weſen mißliebige allgemeinere Züge befangen
machen läßt, und wenn man anderſeits ſich unſere Nothſtände in
ſo manchen ihrer allgemeinſten Züge anſchaulich macht, ſo wird kaum
ein lebendiges Glied, kaum ein geiſtlich berufener eifrig ernſter
Diener unſerer Kirche anſtehen zu bekennen, daß jene Uebel unend-
lich viel geringer ſind, als dieſe. Es iſt wahr, da und dort kom-
men wirklich ärgerliche Auftritte, Momente ſowohl auf Seiten ein-
zelner Revivalprediger und Seelſorger, Geiſtlichen und Laien, als
bei Denen vor, deren Erweckung betrieben wird — aber neben einem
ſolchen Fall finden wir unzählige, wo entweder ohne oder trotz
ſolchen Aergerniſſes die große Frage zum Durchbruch kommt: „was
ſoll ich thun u. ſ. w.‟ — wo es wirklich zur Erweckung und allen
ihren geiſtlichen Früchten kommt. Was wiegt nun ſchwerer?!
Abgeſehen aber davon, iſt ja unſere Vorausſetzung immer noch die,
es werde unter den bei uns gegebenen Umſtänden und Bedingungen
noch gar manche Ermäßigung jener Mißſtände möglich ſein, ohne
5
die Wirkuug der Heilmittel weſentlich zu beſchränken. Wieweit dieſe
Hoffnung als plauſibel gelten mag, wird aber eben auch nur dann
zu beſtimmen ſein, wenn ſich competente Autoritäten und ein unter
ihrem Einfluß ſich bildender Conſenſus der betheiligten Kreiſe von
Geiſtlichen und Laien erſt darüber verſtändigt haben, worin die
notoriſche Unzulänglichkeit unſerer kirchlichen Ordnungen oder Praxis
liegt, was unſerer Kirche in ihren gegenwärtigen Zuſtänden noch
fehlt, um im Kampfe gegen ihre Nothſtände durch die Mittel des
Revivals — ſofern kein anderes und wirkſameres Heilverfahren
nachzuweiſen iſt — in Anwendung zu bringen, und wieweit und
in welcher Form ihr dies möglich ſein dürſte. Ueber dieſe Punkte
geſtatten Sie mir in meinem nächſten und in dieſer Angelegenheit
jedenfalls letzten Schreiben noch einige ganz unmaaßgebliche Be-
merkungen. Bis dahin u. ſ. w.
Siebenter Brief.
Jhre mir immer wieder ziemlich unerwartete und um ſo erfreu-
lichere Zuſtimmung zu dem weſentlichen Jnhalt meines letzten Brie-
fes, geehrteſter Freund, und die daran geknüpfte Erwartung hin-
ſichtlich meiner Behandlung des für dieſes Schreiben vorbehaltenen
Themas kann und darf mich doch nicht verleiten, to go beyond my
depth, wie ein ſehr bezeichnender engliſcher Ausdruck ſagt, und mich
auf ein weiteres Ziel einzulaßen, als was ich mir von vorne herein
geſtellt, nämlich durch praktiſche und theoretiſche Sachkunde beßer
berufene Männer dazu anzuregen, dieſen Fragen die Beachtung
auch in öffentlichen Verhandlungen zu geben und zu verſchaffen, die
ſie verdient und bisher nicht gefunden hat.
Zugegeben alſo, daß unſere kirchliche Arbeit dem aus unſern
geiſtlichen Nothſtänden erwachſenden Bedürfniß nicht genügt — und
zwar zugegeben trotz der vollſten Anerkennung deſſen, was ſeit
Jahren nach verſchiedenen Seiten zur Verſtärkung der Wirkſamkeit
der in der bisherigen Praxis gegebenen Faktoren, Lehre, Predigt,
Liturgie, Seelſorge, Werke chriſtlicher Liebe im weiteſten Sinne, ſowohl
von Seiten des geiſtlichen Amtes als von freien Kräften geſchehen
iſt — zugegeben, daß von alle dem nichts etwa aufgegeben werden
ſoll, ſondern daß es in allen Stücken und immer gelten und heißen
muß: das Eine thun und das Andere nicht laßen! — dies Alles
zugegeben, ſo frägt ſich eben, was kann ferner und zwar zunächſt
mit den vorhandenen Kräften, Mitteln und Einrichtungen geſchehen?
Woran z. B. fehlt es der Predigt, um ſich wirkſamer gegen die
dringendſten geiſtlichen und ſittlichen Schäden, zumal alſo gegen den
Tod der Gemeinden zeigen zu können. Eine heikle Frage, die ich
nur mit Gegenfragen beantworten möchte, oder mit Verweiſung auf
ſchon gegebene Antworten von gewichtigern Stimmen. Abgeſehen
von Ausnahmen, die ſich entſchieden über oder unter dieſem Niveau
halten, reicht ohne Zweifel der Durchſchnitt der vielen Tauſende
allſonntäglicher Predigten vollkommen hin, um in Verbindung mit
der Liturgie einem gewißen Durchſchnitt andächtiger Zuhörer eine
gewiße Art durchſchnittlicher Erbauung zu gewähren, wobei man
wohl es nicht allzugenau nehmen darf, ob es blos eine vorüber-
gehend mäßige Rührung und Erhebung oder eine nachhaltige Stär-
kung des geiſtlichen Lebens iſt. Jedenfalls iſt die Gefahr einer
allzuheftigen „Erſchütterung‟, welche ja ſchriftwidrig wäre,
nicht ſehr häufig oder groß! — Aber iſt das Alles genug? Genügt
es auch nur dem wirklichen, wenn auch freilich nicht immer bewußten
Bedürfniß, auch nur der leider meiſt geringen Minorität der Ge-
meineglieder, welche die Kirche wirklich mehr als nur ausnahms-
weiſe ſelten beſuchen. Sind darunter nicht gar manche, denen es,
eben weil ſie ſich deſſen nicht bewußt ſind, hoch Noth thäte, ſie aus
ihrer geiſtlichen Trägheit, Sicherheit, Selbſtgerechtigkeit zu dem
vollen Gefühl ihres Sündenſtandes — zu der Frage: „was ſoll ich
thun u. ſ. w.‟ — zu wecken? Wie viele deren, wenn auch noch ſo tief
verſchüttetes Sündenbewußtſein ſie durch Kleinmuth zum Unglauben,
zu einem Verzweifeln an ſich ſelbſt und an der Erlöſungsgnade und
Wirkung des Heiligen Geiſtes treibt — zu einer Stimmung, die
darum nicht weniger gefährlich iſt, weil ſie nicht zu einer gewaltſam
tragiſchen Kataſtrophe, ſondern nur zu einer allmählichen Lähmung
aller ſittlichen Kräfte führt! — Wenn aber gar einmal, was denn
doch auch vorkommt, ein wirklich und poſitiv feindſelig Ungläubiger,
der vielleicht auch in ſeinem Wandel die Früchte des Unglaubens
zeigt, ſich in die Kirche verirrt — wie viele von jenen vielen Tauſen-
den von Predigten ſind irgend geeignet, ſolche Herzen zu treffen, zu
5 *
erſchüttern, bis zu dem noch vorhandenen geiſtlichen Lebensnerv durch-
zudringen und ihn anzuregen, zu beleben, zu wecken? — Und wenn
notoriſch gar viele, wahrſcheinlich die ſehr große Mehrzahl dieſer
Predigten dazu nicht angethan ſind, woran liegt es? Sind ſie zu
kurz oder zu lang? — zu weich oder zu hart? — zu ſtark oder
zu ſchwach? — zu ſtumpf oder zu ſpitz? — zu dürr oder zu ſaf-
tig? — zu grau und ſchwarz oder zu bunt? — zu einfältig oder
zu künſtlich? — zu ungelehrt oder zu gelehrt? — zu allgemein
oder zu beſonders? — zu wenig oder zu viel auf einzelne Perſonen
oder Vorgänge oder Zuſtände der Gemeine gerichtet? Legen ſie zu
viel oder zu wenig Gewicht auf die trivialen Anfänge ſolcher ſünd-
lichen Entwickelungen, deren Extreme erſt als grobe Begehungs-
ſünden, wohl gar Verbrechen hervorſpringen? Fehlt es vielleicht
überhaupt und beſonders an pſychologiſcher Bildung? Jch könnte dieſe
interrogatoriſchen Monologe noch weit fortſpinnen! — Sie haben
jedoch vielleicht ſchon jetzt an das bekannte Sprichwort von thörichten
Fragen und weiſen Antworten gedacht. Jedenfalls aber habe ich nur
auf die erſtgeſtellte Alternative eine Antwort, die Jhnen vielleicht
gar ſehr den Eindruck eines Stoßſeufzers machen wird, wenn ich
bekenne: neun Zehntel aller Predigten und ein gut Theil aller Gebete
(beſonders ex tempore) ſind in der That viel zu lang!
Steht die Sache aber ſo hinſichtlich der Kirchenbeſucher,
was ſollen wir von Denen ſagen, die gar nicht in den Fall kom-
men, ſich der Wirkſamkeit dieſer Predigten auszuſetzen — d. h. leider
durchſchnittlich der ſehr großen Majorität aller Gemeineglieder und
der ſonſt irgendwie bürgerlich oder polizeilich dazu zu rechnenden
Leute? — Hier würde die außerkirchliche Predigt, — die Predigt
unter freiem Himmel u. ſ. w. aushelfen können, welche ſich dann auch
ausnahmsweiſe, z. B. bei Miſſionsfeſten durchaus, wenn auch nicht
erſchöpfend bewährt hat. So lange aber, abgeſehen von ſeltenen Aus-
nahmen, nur in den Kirchen gepredigt wird oder gepredigt werden
darf, bleibt dem geiſtlichen Amt kein anderes Mittel dieſen Seelen
wenigſtens theilweiſe beizukommen, als die Seelſorge. Niemand
aber wird ſich darüber täuſchen, daß in unzähligen Fällen die bisher
verwendbaren ſeelſorgeriſchen Kräfte ſowohl der Quantität als Qua-
lität nach durchaus nicht hinreichen, um auf dieſem Wege dieſem
Bedürfniß zu genügen. Ueberhaupt iſt ja ſehr die Frage, ob die
Seelſorge, ganz getrennt von der Predigt, irgend auf erheblichen
Erfolg rechnen kann. So gilt auch hier wieder, das Eine thun, und
das Andere nicht laßen! Die Frage, ob die freie Predigt ſich mit
dem lutheriſchen Amtsbegriff unbedingt nicht verträgt, will ich hier
nicht erörtern, ſondern ihr mit der Gegenfrage begegnen: ſteht
Gottes Wort und die Ordnung und Praxis der apoſtoliſchen ſowie
der erſten reformatoriſchen Kirche dieſer Ausdehnung der Thätig-
keit des Amts am Wort entgegen? Die ſchon ſowohl aus der
Vergangenheit, z. B. von Luther ſelbſt, vorliegenden Beiſpiele
ſcheinen jedenfalls in dieſer Beziehung, wahrſcheinlich aber doch jenen
erſten und ſpecifiſch lutheriſchen Bedenken gegenüber, das Gegentheil
zu beweiſen. Der noch geſteigerte Amtsbegriff der anglikaniſchen
Kirche hat zu keiner Zeit die Predigt im Freien principiell ausge-
ſchloßen. Sie iſt nur in dem Todesſchlaf der letzten anderthalb
Jahrhunderte abgekommen, neuerdings aber, z. B. von dem Biſchof
von Oxford, wieder erweckt worden, und zwar mit großer Wirkung.
Jſt aber von einer ſolchen Ausdehnung der geiſtlichen Amts-
thätigkeit die Rede, wie ſie die gänzliche Entfremdung einer großen
Mehrheit der namenchriſtlichen Bevölkerung zu ihrer Erweckung
auch nur in ſehr beſchränkten Gränzen, geſchweige denn in irgend
allgemeiner Ausdehnung erfordert, ſo wird wohl von allen Seiten
die Unzulänglichkeit ſchon allein der phyſiſchen Kräfte und der
Zeit zur Abwehr einer ſolchen Zumuthung geltend gemacht werden,
womit denn die allzu heikle Frage nach der durchſchnittlichen geiſt-
lichen, ſittlichen und intellektuellen Begabung glücklich beſeitigt iſt.
Gilt ultra posse von allen dieſen Stücken, ſo kann die Anwendung
auf jene beiden ſo entſcheidenden Momente auch ohne alle Ver-
letzung der „Susceptibilitäten‟ des Standes oder der Perſonen
Statt finden. Soweit indeßen wird es auch uns Laien um ſo eher
erlaubt ſein, hier wenigſtens mit beſcheidener Anfrage herauszugehen,
als uns noch kürzlich das Zeugniß einer der ehrwürdigſten und
gewichtigſten Stimmen aus den geiſtlichen Kreiſen in Gnadau einen
Einblick geſtattet hat in das Verhältniß zwiſchen Arbeit und Ruhe
mit Genuß oder Erholung bei dem Durchſchnitt unſerer geiſtlichen
Hirten. Danach dürfte ein leiſer Zweifel wohl nicht ganz unge-
rechtfertigt ſein: ob nicht z. B. die durchſchnittlich unter der Con-
ſtellation des Schlafrocks, der Pantoffeln, der Cigarre und des
Kaffees, ſowie einer über das Bedürfniß der Sache ausgedehnten
Converſation ſtehende Zeit in vielen Fällen einer großen Beſchrän-
kung fähig wäre, ohne daß ein erheblicher perſönlicher Nachtheil zu
befürchten. Eine weitere Erörterung dieſer Punkte und der damit
zuſammenhängenden ſittlichen und geiſtigen Zuſtände eines im Uebrigen
ſehr ehrenwerthen Durchſchnitts der geiſtlichen Maſſe würde viel zu
weit führen. Namentlich würde dies ſehr bald auch die Frage heran-
ziehen: ob die ganze Bildung, welche unſere Schulen und dann
beſonders unſere Univerſitäten, Seminare und endlich das Haus-
lehrerweſen dem geiſtlichen Nachwuchs geben, auf die Länge auch den
mäßigſten Anforderungen, die aus unſeren geiſtlichen Nothſtänden
ſich in ſteigendem Maaße aufdrängen, zu genügen im Stande ſein
kann — ſobald man mehr verlangt als ein leidliches Maaß theo-
logiſcher Kenntniſſe und negativer Sittlichkeit? Wie die äußere und
innere Zerfahrenheit, das unbedingte ſubjektive Sichgehenlaßen,
der Mangel aller Disciplinirung in Gewohnheiten, Ordnung und
Regel des Lebens, das durchſchnittlich und vielleicht zunehmend
niedrige, triviale Niveau der ganzen Amts- und Lebensanſchauung
u. ſ. w. — dann das Uebergangsgebiet des Conditionirens für die
meiſten Candidaten! — ob und wie dies Alles eine Vorbereitung
zu ſolchen geiſtlichen Arbeitskämpfen ſein ſoll, die in England auf
dem Felde und mit den Werkzeugen und Waffen des Revivals ge-
führt werden und die auch bei uns in irgend einer Weiſe geführt
werden müßen — das iſt freilich nicht abzuſehen!
Aber auch im allerbeſten Falle und bei der äußerſten Entwicke-
lung und Anſtrengung aller wirklich vorhandenen und aus unſeren
allenfalls reformirten (ſoweit ſie reformirbar!) Univerſitäten
regelmäßig zu rekrutirenden geiſtlichen Amtskräften — ja, auch wenn
wir z. B. die wißenſchaftlichen Anforderungen relativ und unter
gewißen Bedingungen und Verhältniſſen für eine gewiße Claſſe von
Geiſtlichen niedriger ſtellen wollten, was ja eine ſehr ſchwierige
Frage iſt — auch dann bleibt das Mißverhältniß zwiſchen dem
Bedürfniß und den zu ſeiner Befriedigung verwendbaren Mitteln
noch immer ſo groß, daß wir Laien uns der Ueberzeugung nicht
erwehren können: wenn nicht anderswoher ſich neue Quellen geiſt-
licher Arbeitskräfte eröffnen, ſo iſt an eine Verminderung der geiſt-
lichen Nothſtände auch nur in ihren dringendſten Erſcheinungen nicht
zu denken. Der ſichere Zuwachs des Uebels wird den möglichen
Zuwachs der Hülfe immer und mehr und mehr überflügeln. So
ſtehen wir denn vor einer der Fragen, die in allen Kirchen im
engeren Sinne, und wo das geiſtliche Amt noch eine wirkliche Be-
deutung hat, mit Recht als eine der ſchwierigſten anerkannt wird:
die Betheiligung von Laien an Predigt und Seelſorge im weiteren
Sinne, wie ſie namentlich eben in England das Revival aufweiſet.
Auch bei uns fehlt es daran, namentlich in und durch die ſoge-
nannte innere Miſſion, nicht ganz; aber es bedarf hier keiner
weiteren Nachweiſung, daß wenigſtens in ihrer bisherigen Ausdeh-
nung, Organiſation und Thätigkeit auch die innere Miſſion jenem
zunehmenden Bedürfniß keineswegs entſprechen kann. Daß gerade
hier die geeignetſten Anknüpfungspunkte und Grundlagen zu weiterer
Entwickelung gegeben ſind, werden auch Sie, geehrteſter Freund,
nicht in Abrede ſtellen, obgleich unſere Anſichten über die Sache
ſelbſt in mancher Hinſicht auseinander gehen. Jedenfalls aber wird
eben eine ſolche Entwickelung um ſo mehr die Frage hervortreten
laßen: wie ſoll ſie ſich zu den kirchlichen Ordnungen, Praxis, Routine
— namentlich alſo zum geiſtlichen Amte verhalten? Und hier iſt
nun ohne Weiteres und wiederholt zuzugeben, daß die Löſung der
Frage gerade in der lutheriſchen Kirche ihre beſonderen Schwierig-
keiten hat. Doch aber wird anderſeits kaum in Abrede zu ſtellen
ſein, daß wenn die biſchöfliche Kirche in England, bei ihrem noch
viel ſtrikteren und excluſiveren Amtsbegriff, ſich die Gemeinſchaft
von Laien im Revival gefallen laßen konnte — wenn ſie jedenfalls
als ſolche ſich nicht dagegen erklärt, ſondern ihren Dienern darin
freie Hand läßt, ſo kann doch in der lutheriſchen Kirche kaum ein
wirklich unüberſteigliches Hinderniß vorhanden ſein, ſofern ſie ſich
den Recurs auf die Heilige Schrift, auf die erſte Kirche in ihrem
Bekehrungswerk und auf die Reformation nicht verſperrt!
Ein dringendes Bedürfniß iſt jedenfalls nicht zu verkennen,
welches ſich vielleicht am beſten durch ein Gleichniß aus dem welt-
lich fleiſchlichen Kriegsweſen veranſchaulichen läßt. Ein Heer ohne
leichte Truppen, wenn ſeine ſchweren Linientruppen auch den höchſten
Anforderungen entſprächen, wird nie als vollkommen kriegstüchtig
gelten, nie nachhaltige Eroberungen machen können, ſondern ſich
meiſt auf eine nachtheilige Defenſive beſchränken müßen. Wer möchte
aber läugnen, daß es gerade der lutheriſchen Kirche ganz an leichten
Truppen fehlt? Der römiſchen Kirche hat es daran nie gefehlt
und wenn ſie dieſelben zu verſchiedenen Zeiten in ihren geiſtlichen
Orden der ſtrengſten Disciplin zu unterwerfen verſtand, ſo iſt doch
wahrlich deren Wirkſamkeit dadurch nicht geſchwächt worden. Aber
auch die freiere Geſtaltung in ihren Laienbrüderſchaften fehlt ihr
nicht. Ueberhaupt möchte ich, geehrteſter Freund, obgleich die römiſche
Kirche ausdrücklich von dieſen Betrachtungen ausgeſchloßen iſt, dar-
auf hinweiſen, daß dieſelbe z. B. mit ihren „Miſſionen‟ jeden
Augenblick ein ſehr wirkſames Revival eröffnen kann und gelegent-
lich mit einiger Steigerung über ihr gewöhnliches Niveau auch ſehr
ähnliche Erſcheinungen und Reſultate erlangt hat. Was England
betrifft, ſo hat das Diſſenterweſen in gewißem Sinne der Landes-
kirche thatſächlich die Mühe einer ſolchen Organiſation erſpart und
freilich ſie auch gänzlich ihrer Controle entzogen! Der Methodis-
mus zumal war auf dem beſten Wege, der Kirche die beſten leichten
Truppen zu liefern, die ſie wünſchen konnte und wenn er ſich dann
ſpäter emancipirte und den Kampf auf eigene Hand fortſetzte, ſo
lag die Schuld mindeſtens ſehr gleichmäßig auf beiden Seiten.
Seitdem bot nun wieder die ſogenannte „evangeliſche‟ Richtung
eine Möglichkeit der Befriedigung desſelben Bedürfniſſes, die nament-
lich eben in der Betheiligung an der home mission, am Revival u. ſ. w.
ſich einigermaßen verwirklicht hat — freilich in einer individuellen
Willkür und Promiscuität, die ohne Zweifel eine große Schwäche
des kirchlichen Organismus beweiſt. Auch die hochkirchlichen Elemente
haben (wie ſchon bemerkt) in der mehr kirchlichen Form von
Bruder- und Schweſterſchaften wenigſtens einen Anfang in dieſem
Sinne gemacht. Und der lutheriſchen Kirche ſollte Aehnliches ab-
ſolut unmöglich ſein?! Damit wäre ihr überhaupt die Möglichkeit
abgeſprochen, in den Kämpfen der Zeit auch nur ihren bisherigen
Beſtand zu bewahren; denn eine Feſtung, deren Beſatzung ſich nicht
über das Glacis hinauswagen kann, iſt verloren. So ſei uns denn,
geehrteſter Freund, vergönnt, ſo lange es irgend möglich, die Vor-
ausſetzung feſtzuhalten, daß nicht die unabänderlichen Ordnungen
unſerer Kirche, nicht ihre beßere Praxis jener Entwickelung ihrer
Streit- und Arbeitskräfte im Wege ſteht, ſondern nur ihre leidige
Routine. Laßen Sie uns weiter an der Hoffnung feſthalten, daß
eben durch eine organiſche Entwickelung aus den gegebenen Ord-
nungen und Organen ſich diejenigen Erſcheinungen des engliſchen
Revival großentheils werden vermeiden laßen, die dem würdigern
und berechtigten deutſchen und lutheriſchen Geiſt und Gemüth wirk-
lich zum Aergerniß oder Schaden gereichen können, während wir
uns zugleich von einer gewißen Aengſtlichkeit, Peinlichkeit und Be-
quemlichkeit, einer geradezu pedantiſchen oder weibiſchen und mit
der wahren evangeliſchen Freiheit nicht verträglichen Gebundenheit
emancipiren. Dabei iſt aber noch ein Punkt zu berückſichtigen, worin
unſere Zuſtände ſich günſtiger erweiſen als die engliſchen, obgleich
auch wieder gerade daraus viele Bedenken erhoben werden mögen.
Die zahlreichen Sektenbildungen in England — oder brauchen
wir den euphemiſtiſchen Ausdruck der Denominationen — iſt ohne
Zweifel die Quelle vieler und mannigfacher Uebelſtände auch auf
dem Gebiet des Revivals; aber dennoch iſt kein Zweifel, daß ſie
nicht nur eine unvermeidliche und jedenfalls ſubjektiv berechtigte
Folge des ſchmählichen Verfalls der Landeskirche in banauſiſcher
oder ariſtokratiſcher Verweltlichung und formaler, wie dogmatiſcher
Erſtarrung war, ſondern es muß auch anerkannt werden, daß nur
dadurch das geiſtliche Salz wenigſtens der Haupt- und Kernlehren
des Evangeliums und nicht ohne mannigfaltige Erweiſungen und
Früchte des Heiligen Geiſtes in dem nationalen Leben weit und
breit gerade da lebendig erhalten wurde, wo die Kirche mit ihrem
dumm gewordenen Salze — vor ihrem neuern großen Aufſchwung
und Selbſt revival jedenfalls — nicht mehr hinreichte. Laßen wir
dahin geſtellt, wieweit unſere Kirche es ſich zum Verdienſt, unſere
Nationalität es ſich zum Ruhm anrechnen kann, daß bei uns die
Sektenbildung nur einen kaum merklichen Raum einnimmt. Der
tiefſte Verfall der Kirche hat zwar einen unermeßlich großen that-
ſächlichen Abfall herbeigeführt, wobei aber dieſe Elemente mit wenig
Ausnahmen nicht einmal ſo viel geiſtliches Leben und Bedürfniß
mitnehmen oder mitzunehmen fanden, wie eben zu einer Sekten-
bildung gehört. Wie dem auch ſei, daß wir es nur mit — je nach-
dem man den Begriff der Union auffaßt! — zwei oder drei
wirklichen evangeliſchen Kirchen zu thun haben, würde ein deutſches
Revival gar ſehr vereinfachen und erleichtern — vorausgeſetzt,
daß man ſich wenigſtens auf dieſem Felde zu einer praktiſchen
Union vereinigen könnte — nicht in der blos thatſächlich tumul-
tuariſchen Weiſe des engliſchen Revivals, ſondern mit gutem Vor-
bedacht und Ordnung. Bis auf einen gewißen Punkt iſt in dieſer
Beziehung ſchon durch und in der äußern und innern Miſſion, den
Kirchentagen und manchen andern Erſcheinungen — ja überhaupt
in der Union die Frage günſtig entſchieden: ob ein ſolches Zu-
ſammenwirken auf einem gewißermaßen neutralen Gebiet ohne Ver-
letzung auch des lutheriſchen Bewußtſeins möglich? Denn der
Widerſpruch einzelner Vertreter abſoluter lutheriſcher Excluſivität
kann dem lutheriſchen Recht und Charakter Derer, die zu einer
ſolchen Union die Freudigkeit fühlen, eben ſo wenig Eintrag
thun, als die abſorbirenden Tendenzen in der Union! Ob aber
am Tage des Gerichts die Hauptfrage ſein wird, nach einer gewißen
Art von lutheriſcher Correktheit, oder nach dem Heil Tauſender
von Seelen, die um dieſer Correktheit willen unter den Augen ihrer
correkten lutheriſchen Hirten zu Grunde gegangen ſind, iſt doch auch
eine Frage! Jmmerhin aber laßen Sie uns die Hoffnung feſthalten,
daß mehr und mehr die feſte Organiſation und Geſtaltung der
lutheriſchen Kirche und die unerſchütterliche Bewahrung ihres Berufs
als Verwahrerin und Verwalterin der Fülle der Lehre und der
Realität der Sakramente ſie nicht nur nicht hindern, ſondern im
Gegentheil ſie recht eigentlich befähigen wird auf thatſächlich ge-
meinſamem Gebiet, wozu doch ohne allen Zweifel die Erweckung
gehört, auch wirklich in eine Union der Liebesarbeit und des
Glaubenskampfes mit allen den Kirchen und deren Gliedern und
Dienern zu treten, die eben ſoweit jene Gemeinſchaft anerkennen,
darüber hinaus aber keiner Kirche zumuthen, das aufzugeben,
worin der Kern ihrer Eigenthümlichkeit liegt. So lange dieſer
fortwährend angefochten, gefährdet wird, iſt freilich eine Steigerung
der Reaktion der Selbſterhaltung auch über die Gränzen des Nöthigen
und Erſprießlichen unvermeidlich und ſoweit berechtigt. Nur eine
ſchwache oder in ihrem innerſten Weſen bedrohte Kirche iſt berech-
tigt und genöthigt, ſich ſchärfer abzuſchließen.
Habe ich Sie, geehrteſter Freund, recht verſtanden, ſo würden
Sie gegen dieſe Auffaßung an ſich wenig einzuwenden haben, ſon-
dern nur die Opportunität des gegenwärtigen Moments zu
irgend einer Erweiterung des kirchlichen Organismus und kirch-
licher Thätigkeit bezweifeln. Jch gebe gern zu, daß der gegen-
wärtige Zuſtand der lutheriſchen Kirche — der übrigens in gar
mancher Hinſicht, was man auch ſagen mag, nicht ſchlimmer,
ſondern relativ beßer iſt, als in der vermeintlich guten alten Zeit
— und noch viel mehr die durch falſche, wenn auch gutge-
meinte Unionsbeſtrebungen nach allen Seiten erzeugte Confuſion und
Disunion jedes erſprießliche Vorgehen nach irgend einer Seite —
zumal gemeinſam und wirklich unioniſtiſche Lebensbewegung unendlich
erſchwert; aber folgt daraus ſchon, daß Alles unterbleiben ſoll?
Welche andere als die verderblichſten Wirkungen, die Steigerung
aller Schäden und Nothſtände ſind von einem ſolchen weit über das
Maaß der durch äußere oder innere Bande bedingten Nothwendig-
keit gehenden gleichſam freiwilligen willkürlichen Starrkrampfe zu
erwarten! Laßen Sie uns vielmehr nicht vergeßen, daß die er-
ſprießliche Uebung, Anſtrengung und Verwendung der Kräfte, der
Organe, die noch nicht wirklich gelähmt ſind und ſoweit ſie es nicht
ſind, das beſte Mittel iſt auch die ſchon gelähmten wieder zu ſtärken,
zu beleben, zu befreien. Um aber zu wißen, ob und wieweit man
noch gehen kann, muß man eben gehen! Bedarf es einer innern
Reform zu jeder kräftigen Aktive nach Außen, ſo wird auch durch
jede geſunde Kraftentwicklung nach Außen die innere Reform befördert.
Sie heben in Jhrem letzten Schreiben noch ein Bedenken her-
vor, was ich indeßen nur mit wenig Worten zu berühren brauche.
Allerdings nämlich dürfte die ſtrickte bureaukratiſch-polizeiliche Be-
vormundung die nun einmal eine — bis auf einen gewißen Punkt
durch die Umſtände und Verhältniſſe unſeres kirchlichen und poli-
tiſchen Lebens ſeit drei Jahrhunderten unabweislich motivirte
Bedingung jeder in die breitere Oeffentlichkeit der Maſſen ein-
tretenden Bewegung iſt, auch an einer noch ſo ſehr gemäßigten Er-
weckungsbewegung großen Anſtoß nehmen und dieſelbe auf den
möglichſt geringſten Raum und die größtmögliche Stille zu beſchränken
ſuchen. Und zwar würde dies ohne Zweifel auch bei an ſich nicht
übelwollender Geſinnung geſchehen, ſchon aus bloßem bureaukratiſch-
polizeilichem Jnſtinkt — geſchweige denn bei der unläugbaren (mit
wenig Ausnahmen) Antipathie der Bureaukratie gegen lebendiges,
poſitives Kirchen- und Chriſtenthum. Es würde auch unter ander-
weitig günſtigen, d. h. ruhigſten Verhältniſſen geſchehen — geſchweige
denn in dieſem Augenblick, wo beſten Falls Feigheit und Schwäche
mindeſtens eben ſo ſehr wie 1848 das Verhalten der Behörden gegen
die aufgeregten Elemente politiſcher, ſocialer oder kirchlicher Zucht-
loſigkeit charakteriſirt. Ohne Zweifel würden z. B. auch ſonſt nicht
feindſelige Beamten einer chriſtlichen Erweckungspredigt im Freien
oder in einem Bahnhof oder Theater oder Reitbahn ſchon deshalb
entgegentreten, weil man ja dann auch allen Gegnern des Chriſten-
thums freie Hand oder Zunge laßen müße. Wenn wir durch Pöbel-
gewalt in unſerer ehrlichen Arbeit geſtört werden, ſo wird man dem
Unfug einfach dadurch ſteuern, daß man uns die Hände bindet.
Wenn ich nun zugebe, daß dieſe Umſtände vorläufig die Operationen
chriſtlicher Erweckung mehr oder weniger beſchränken dürften, ſo
muß ich doch erſtlich dagegen geltend machen, daß, wer auf rechten
Wegen iſt, niemals berechtigt iſt, diesſeits des Ziels ſtehen zu
bleiben, ſo lange er nicht wirklich und effektiv aufgehalten, verhindert
wird. Dieſe Fragen ſtehen natürlich im nächſten Zuſammenhang
zu dem Verhältniß zwiſchen Staat und Kirche überhaupt. So wenig
ich aber auch nur mit einem Wunſch oder Gedanken zu der Auf-
hebung des bisher beſtandenen Verhätniſſes beitragen möchte, ſo
kann ich doch die wohl kaum lange zurückzuhaltende Eventualität einer
Aufhebung desſelben keineswenigs als ein ſo großes Uebel anſehen,
wie es von manchen Seiten geſchieht — am wenigſten für die
Kirche, die ſo ſchweren Schaden eben durch jenes Verhältniß ge-
litten hat. Aber auch der Staat braucht darum noch kein heid-
niſcher oder athée zu ſein und dürften überdies Erfahrungen nicht
ausbleiben, die auch von dieſer Seite eine Wiedervereinigung unter
allſeitig erſprießlichern Bedingungen vorbereiten werden. Unter
allen Umſtänden aber wird es gar ſehr unſere Schuld ſein, wenn
wir nicht wenigſtens das erreichen, daß die allgemeine Licenz, welche
im Anzuge iſt, auch uns und unſeren Erweckungen zu Gute komme.
Wie dem aber auch ſei, immerhin würden auch ſchon jetzt die
Gränzen einer erweckenden Bewegung von Seiten der Kirche ſich
mindeſtens ſehr viel weiter ausdehnen laßen, als ſie jetzt gehen,
wenn die in dem engliſchen Revival gegebenen Erfahrungen nur
einiger praktiſchen Anwendung auf unſere geiſtlichen Nothſtände fähig
wären und ſolche fänden. Ob und wieweit dies wirklich der Fall
ſein mag — die Entſcheidung dieſer Frage muß ich Andern überlaßen.
Meine beſcheidene Aufgabe aber glaube ich erfüllt zu haben, wenn
ich wenigſtens zu der Jnformation und zu den Erwägungen, welche
einer ſolchen Entſcheidung vorhergehen müßen, zunächſt bei Jhnen
und in Jhrem Kreiſe eine fruchtbar erſprießliche Anregung gegeben
haben ſollte. Womit denn u. ſ. w.
Druck von Kohler & Teller in Offenbach a. M.