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Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862.

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men, unter den verschiedenartigsten äußern Umständen einen so ent-
scheidenden und charakteristischen Zug der ganzen Bewegung bildet --
von dem Gebet des Einzelnen im stillen Kämmerlein, beim Gottes-
dienste in Kirchen, bis zu den Massengebeten der open air meetings
von vielen Tausenden und der gruppenweisen, oder auch individuellen
Gebetsbearbeitung in diesen Massen -- dann alle dazwischen liegen-
den Abstufungen und die Anwendung auf jedes in dem Begriff der
Erweckung liegendes Bedürfniß Einzelner und der ganzen Christen-
heit nebst allen dazwischen liegenden Kreisen menschlicher Gemein-
schaft. Als mit wenig Ausnahme gemeinsamer Zug dieser ganzen
Gebetsarbeit muß wohl der subjektive Charakter hervorgehoben wer-
den im Gegensatz zu dem objektiv und rituellen kirchlichen Gebet,
welches ohnehin bei den im Revival vorherrschend vertretenen De-
nominationen sehr zurücktritt. Auch bei den Vertretern der so über-
wiegend rituellen Landeskirche findet in solcher Gemeinschaft und
unter solchen Verhältnissen dieses kirchliche Moment weniger Raum
als sonst, sondern muß der freien subjektiven Behandlung weichen,
wobei denn namentlich auch die Gränzen zwischen Gebet und Pre-
digt sehr flüßig zu werden pflegen. Noch ein Moment muß ich
hervorheben, welches ebenfalls seinem Wesen nach zwischen Predigt
und Gebet schwankt und sich nur durch die poetische Form und den
Hebel der Melodie unterscheidet -- das geistliche Lied, welches
in dem Revival eine so außerordentlich bedeutende Rolle spielt,
ohne daß auch hier der poetische Werth durchschnittlich höher stände,
als der oratorische der Predigt. Zwar sind unter den ältern eng-
lischen hymns und psalms manche, die sich unserem beßern Kirchen-
lied, was den poetischen Werth betrifft, wenigstens annähernd ver-
gleichen laßen, während freilich hinsichtlich der Melodie der niedri-
gen musikalischen Anlage oder doch geringen Bildung der Engländer
Rechnung zu tragen ist *). Aber die meisten der sehr zahlreichen
ad hoc gedichteten oder doch verfertigten Revivallieder zeichnen sich,
abgesehen von dem gegebenen erbaulichen Thema, nur durch einen
gänzlichen Mangel an Poesie und oft durch positive Rohheit und
Geschmacklosigkeit auch in der Form aus. An erfreulichen Aus-

*) Bekanntlich ist neuerdings, besonders durch Hullah und seine zahlreichen
Schüler, das angelsächsische Singorgan des englischen Volks gleichsam wie-
der entdeckt und zu bedeutenden würdigen Leistungen entwickelt worden.

men, unter den verſchiedenartigſten äußern Umſtänden einen ſo ent-
ſcheidenden und charakteriſtiſchen Zug der ganzen Bewegung bildet —
von dem Gebet des Einzelnen im ſtillen Kämmerlein, beim Gottes-
dienſte in Kirchen, bis zu den Maſſengebeten der open air meetings
von vielen Tauſenden und der gruppenweiſen, oder auch individuellen
Gebetsbearbeitung in dieſen Maſſen — dann alle dazwiſchen liegen-
den Abſtufungen und die Anwendung auf jedes in dem Begriff der
Erweckung liegendes Bedürfniß Einzelner und der ganzen Chriſten-
heit nebſt allen dazwiſchen liegenden Kreiſen menſchlicher Gemein-
ſchaft. Als mit wenig Ausnahme gemeinſamer Zug dieſer ganzen
Gebetsarbeit muß wohl der ſubjektive Charakter hervorgehoben wer-
den im Gegenſatz zu dem objektiv und rituellen kirchlichen Gebet,
welches ohnehin bei den im Revival vorherrſchend vertretenen De-
nominationen ſehr zurücktritt. Auch bei den Vertretern der ſo über-
wiegend rituellen Landeskirche findet in ſolcher Gemeinſchaft und
unter ſolchen Verhältniſſen dieſes kirchliche Moment weniger Raum
als ſonſt, ſondern muß der freien ſubjektiven Behandlung weichen,
wobei denn namentlich auch die Gränzen zwiſchen Gebet und Pre-
digt ſehr flüßig zu werden pflegen. Noch ein Moment muß ich
hervorheben, welches ebenfalls ſeinem Weſen nach zwiſchen Predigt
und Gebet ſchwankt und ſich nur durch die poetiſche Form und den
Hebel der Melodie unterſcheidet — das geiſtliche Lied, welches
in dem Revival eine ſo außerordentlich bedeutende Rolle ſpielt,
ohne daß auch hier der poetiſche Werth durchſchnittlich höher ſtände,
als der oratoriſche der Predigt. Zwar ſind unter den ältern eng-
liſchen hymns und psalms manche, die ſich unſerem beßern Kirchen-
lied, was den poetiſchen Werth betrifft, wenigſtens annähernd ver-
gleichen laßen, während freilich hinſichtlich der Melodie der niedri-
gen muſikaliſchen Anlage oder doch geringen Bildung der Engländer
Rechnung zu tragen iſt *). Aber die meiſten der ſehr zahlreichen
ad hoc gedichteten oder doch verfertigten Revivallieder zeichnen ſich,
abgeſehen von dem gegebenen erbaulichen Thema, nur durch einen
gänzlichen Mangel an Poeſie und oft durch poſitive Rohheit und
Geſchmackloſigkeit auch in der Form aus. An erfreulichen Aus-

*) Bekanntlich iſt neuerdings, beſonders durch Hullah und ſeine zahlreichen
Schüler, das angelſächſiſche Singorgan des engliſchen Volks gleichſam wie-
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[20/0026] men, unter den verſchiedenartigſten äußern Umſtänden einen ſo ent- ſcheidenden und charakteriſtiſchen Zug der ganzen Bewegung bildet — von dem Gebet des Einzelnen im ſtillen Kämmerlein, beim Gottes- dienſte in Kirchen, bis zu den Maſſengebeten der open air meetings von vielen Tauſenden und der gruppenweiſen, oder auch individuellen Gebetsbearbeitung in dieſen Maſſen — dann alle dazwiſchen liegen- den Abſtufungen und die Anwendung auf jedes in dem Begriff der Erweckung liegendes Bedürfniß Einzelner und der ganzen Chriſten- heit nebſt allen dazwiſchen liegenden Kreiſen menſchlicher Gemein- ſchaft. Als mit wenig Ausnahme gemeinſamer Zug dieſer ganzen Gebetsarbeit muß wohl der ſubjektive Charakter hervorgehoben wer- den im Gegenſatz zu dem objektiv und rituellen kirchlichen Gebet, welches ohnehin bei den im Revival vorherrſchend vertretenen De- nominationen ſehr zurücktritt. Auch bei den Vertretern der ſo über- wiegend rituellen Landeskirche findet in ſolcher Gemeinſchaft und unter ſolchen Verhältniſſen dieſes kirchliche Moment weniger Raum als ſonſt, ſondern muß der freien ſubjektiven Behandlung weichen, wobei denn namentlich auch die Gränzen zwiſchen Gebet und Pre- digt ſehr flüßig zu werden pflegen. Noch ein Moment muß ich hervorheben, welches ebenfalls ſeinem Weſen nach zwiſchen Predigt und Gebet ſchwankt und ſich nur durch die poetiſche Form und den Hebel der Melodie unterſcheidet — das geiſtliche Lied, welches in dem Revival eine ſo außerordentlich bedeutende Rolle ſpielt, ohne daß auch hier der poetiſche Werth durchſchnittlich höher ſtände, als der oratoriſche der Predigt. Zwar ſind unter den ältern eng- liſchen hymns und psalms manche, die ſich unſerem beßern Kirchen- lied, was den poetiſchen Werth betrifft, wenigſtens annähernd ver- gleichen laßen, während freilich hinſichtlich der Melodie der niedri- gen muſikaliſchen Anlage oder doch geringen Bildung der Engländer Rechnung zu tragen iſt *). Aber die meiſten der ſehr zahlreichen ad hoc gedichteten oder doch verfertigten Revivallieder zeichnen ſich, abgeſehen von dem gegebenen erbaulichen Thema, nur durch einen gänzlichen Mangel an Poeſie und oft durch poſitive Rohheit und Geſchmackloſigkeit auch in der Form aus. An erfreulichen Aus- *) Bekanntlich iſt neuerdings, beſonders durch Hullah und ſeine zahlreichen Schüler, das angelſächſiſche Singorgan des engliſchen Volks gleichſam wie- der entdeckt und zu bedeutenden würdigen Leiſtungen entwickelt worden.

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Zitationshilfe: Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_revival_1862/26>, abgerufen am 19.04.2024.