Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

ihrer ganzen Größe. Zu jedem Fenster blickte die
Auferstehungsfarbe herein, -- denn die Abend-
röthe deutet mir immer auf Vollendung, so wie
die Morgenröthe mir Wehmuth und Sorge er-
weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O
was wartet deiner! seufz ich mit vollem Herzen.
Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz steigt
auf, und zieht die keinen Wolken in sich hinein,
und Ruhe gießt sich aus über den Himmel, so
schwingt sich die Seele auf in diese Farbenherrlich-
keit, die sie immer nur als Schleier des Schönern
empfindet, das sie verbirgt, als Bild des Erhabnern,
das sie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze stand
der prächtige gesprengte Thurm im Schatten.
Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die
tiefen Gewölbe, und oben über ihm und neben
ihm aus allen Mauerspalten nickte grünes und
blühendes Gesträuch und bekränzte die Zerstörung
mit stets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der
Tiefe der abgerissene Theil des Thurms, wie ein
mächtiger Granitblock auf andre Felsen gestützt.
Wie schmerzlich muß dieser herrliche Ort dem
Menschen seyn, die in der Zerstörung keine neue
Schöpfung erblicken. Denn hier ist alles Zerstö-
rung, alles neues Leben und Schöpfung. Ich

ihrer ganzen Groͤße. Zu jedem Fenſter blickte die
Auferſtehungsfarbe herein, — denn die Abend-
roͤthe deutet mir immer auf Vollendung, ſo wie
die Morgenroͤthe mir Wehmuth und Sorge er-
weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O
was wartet deiner! ſeufz ich mit vollem Herzen.
Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz ſteigt
auf, und zieht die keinen Wolken in ſich hinein,
und Ruhe gießt ſich aus uͤber den Himmel, ſo
ſchwingt ſich die Seele auf in dieſe Farbenherrlich-
keit, die ſie immer nur als Schleier des Schoͤnern
empfindet, das ſie verbirgt, als Bild des Erhabnern,
das ſie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze ſtand
der praͤchtige geſprengte Thurm im Schatten.
Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die
tiefen Gewoͤlbe, und oben uͤber ihm und neben
ihm aus allen Mauerſpalten nickte gruͤnes und
bluͤhendes Geſtraͤuch und bekraͤnzte die Zerſtoͤrung
mit ſtets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der
Tiefe der abgeriſſene Theil des Thurms, wie ein
maͤchtiger Granitblock auf andre Felſen geſtuͤtzt.
Wie ſchmerzlich muß dieſer herrliche Ort dem
Menſchen ſeyn, die in der Zerſtoͤrung keine neue
Schoͤpfung erblicken. Denn hier iſt alles Zerſtoͤ-
rung, alles neues Leben und Schoͤpfung. Ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="9"/>
ihrer ganzen Gro&#x0364;ße. Zu jedem Fen&#x017F;ter blickte die<lb/>
Aufer&#x017F;tehungsfarbe herein, &#x2014; denn die Abend-<lb/>
ro&#x0364;the deutet mir immer auf Vollendung, &#x017F;o wie<lb/>
die Morgenro&#x0364;the mir Wehmuth und Sorge er-<lb/>
weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O<lb/>
was wartet deiner! &#x017F;eufz ich mit vollem Herzen.<lb/>
Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz &#x017F;teigt<lb/>
auf, und zieht die keinen Wolken in &#x017F;ich hinein,<lb/>
und Ruhe gießt &#x017F;ich aus u&#x0364;ber den Himmel, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chwingt &#x017F;ich die Seele auf in die&#x017F;e Farbenherrlich-<lb/>
keit, die &#x017F;ie immer nur als Schleier des Scho&#x0364;nern<lb/>
empfindet, das &#x017F;ie verbirgt, als Bild des Erhabnern,<lb/>
das &#x017F;ie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze &#x017F;tand<lb/>
der pra&#x0364;chtige ge&#x017F;prengte Thurm im Schatten.<lb/>
Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die<lb/>
tiefen Gewo&#x0364;lbe, und oben u&#x0364;ber ihm und neben<lb/>
ihm aus allen Mauer&#x017F;palten nickte gru&#x0364;nes und<lb/>
blu&#x0364;hendes Ge&#x017F;tra&#x0364;uch und bekra&#x0364;nzte die Zer&#x017F;to&#x0364;rung<lb/>
mit &#x017F;tets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der<lb/>
Tiefe der abgeri&#x017F;&#x017F;ene Theil des Thurms, wie ein<lb/>
ma&#x0364;chtiger Granitblock auf andre Fel&#x017F;en ge&#x017F;tu&#x0364;tzt.<lb/>
Wie &#x017F;chmerzlich muß die&#x017F;er herrliche Ort dem<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;eyn, die in der Zer&#x017F;to&#x0364;rung keine neue<lb/>
Scho&#x0364;pfung erblicken. Denn hier i&#x017F;t alles Zer&#x017F;to&#x0364;-<lb/>
rung, alles neues Leben und Scho&#x0364;pfung. Ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0023] ihrer ganzen Groͤße. Zu jedem Fenſter blickte die Auferſtehungsfarbe herein, — denn die Abend- roͤthe deutet mir immer auf Vollendung, ſo wie die Morgenroͤthe mir Wehmuth und Sorge er- weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O was wartet deiner! ſeufz ich mit vollem Herzen. Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz ſteigt auf, und zieht die keinen Wolken in ſich hinein, und Ruhe gießt ſich aus uͤber den Himmel, ſo ſchwingt ſich die Seele auf in dieſe Farbenherrlich- keit, die ſie immer nur als Schleier des Schoͤnern empfindet, das ſie verbirgt, als Bild des Erhabnern, das ſie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze ſtand der praͤchtige geſprengte Thurm im Schatten. Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die tiefen Gewoͤlbe, und oben uͤber ihm und neben ihm aus allen Mauerſpalten nickte gruͤnes und bluͤhendes Geſtraͤuch und bekraͤnzte die Zerſtoͤrung mit ſtets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der Tiefe der abgeriſſene Theil des Thurms, wie ein maͤchtiger Granitblock auf andre Felſen geſtuͤtzt. Wie ſchmerzlich muß dieſer herrliche Ort dem Menſchen ſeyn, die in der Zerſtoͤrung keine neue Schoͤpfung erblicken. Denn hier iſt alles Zerſtoͤ- rung, alles neues Leben und Schoͤpfung. Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/23
Zitationshilfe: Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/23>, abgerufen am 21.11.2024.