ihrer ganzen Größe. Zu jedem Fenster blickte die Auferstehungsfarbe herein, -- denn die Abend- röthe deutet mir immer auf Vollendung, so wie die Morgenröthe mir Wehmuth und Sorge er- weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O was wartet deiner! seufz ich mit vollem Herzen. Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz steigt auf, und zieht die keinen Wolken in sich hinein, und Ruhe gießt sich aus über den Himmel, so schwingt sich die Seele auf in diese Farbenherrlich- keit, die sie immer nur als Schleier des Schönern empfindet, das sie verbirgt, als Bild des Erhabnern, das sie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze stand der prächtige gesprengte Thurm im Schatten. Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die tiefen Gewölbe, und oben über ihm und neben ihm aus allen Mauerspalten nickte grünes und blühendes Gesträuch und bekränzte die Zerstörung mit stets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der Tiefe der abgerissene Theil des Thurms, wie ein mächtiger Granitblock auf andre Felsen gestützt. Wie schmerzlich muß dieser herrliche Ort dem Menschen seyn, die in der Zerstörung keine neue Schöpfung erblicken. Denn hier ist alles Zerstö- rung, alles neues Leben und Schöpfung. Ich
ihrer ganzen Groͤße. Zu jedem Fenſter blickte die Auferſtehungsfarbe herein, — denn die Abend- roͤthe deutet mir immer auf Vollendung, ſo wie die Morgenroͤthe mir Wehmuth und Sorge er- weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O was wartet deiner! ſeufz ich mit vollem Herzen. Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz ſteigt auf, und zieht die keinen Wolken in ſich hinein, und Ruhe gießt ſich aus uͤber den Himmel, ſo ſchwingt ſich die Seele auf in dieſe Farbenherrlich- keit, die ſie immer nur als Schleier des Schoͤnern empfindet, das ſie verbirgt, als Bild des Erhabnern, das ſie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze ſtand der praͤchtige geſprengte Thurm im Schatten. Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die tiefen Gewoͤlbe, und oben uͤber ihm und neben ihm aus allen Mauerſpalten nickte gruͤnes und bluͤhendes Geſtraͤuch und bekraͤnzte die Zerſtoͤrung mit ſtets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der Tiefe der abgeriſſene Theil des Thurms, wie ein maͤchtiger Granitblock auf andre Felſen geſtuͤtzt. Wie ſchmerzlich muß dieſer herrliche Ort dem Menſchen ſeyn, die in der Zerſtoͤrung keine neue Schoͤpfung erblicken. Denn hier iſt alles Zerſtoͤ- rung, alles neues Leben und Schoͤpfung. Ich
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ihrer ganzen Groͤße. Zu jedem Fenſter blickte die
Auferſtehungsfarbe herein, — denn die Abend-
roͤthe deutet mir immer auf Vollendung, ſo wie
die Morgenroͤthe mir Wehmuth und Sorge er-
weckt, wie der Anblick einer jungen Braut. O
was wartet deiner! ſeufz ich mit vollem Herzen.
Sinkt aber die Sonne und der rothe Glanz ſteigt
auf, und zieht die keinen Wolken in ſich hinein,
und Ruhe gießt ſich aus uͤber den Himmel, ſo
ſchwingt ſich die Seele auf in dieſe Farbenherrlich-
keit, die ſie immer nur als Schleier des Schoͤnern
empfindet, das ſie verbirgt, als Bild des Erhabnern,
das ſie bedarf. Mitten in dem Lichtglanze ſtand
der praͤchtige geſprengte Thurm im Schatten.
Wie in ein ungeheures Grab blickte man in die
tiefen Gewoͤlbe, und oben uͤber ihm und neben
ihm aus allen Mauerſpalten nickte gruͤnes und
bluͤhendes Geſtraͤuch und bekraͤnzte die Zerſtoͤrung
mit ſtets erneutem Leben. Noch dunkler lag in der
Tiefe der abgeriſſene Theil des Thurms, wie ein
maͤchtiger Granitblock auf andre Felſen geſtuͤtzt.
Wie ſchmerzlich muß dieſer herrliche Ort dem
Menſchen ſeyn, die in der Zerſtoͤrung keine neue
Schoͤpfung erblicken. Denn hier iſt alles Zerſtoͤ-
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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/23>, abgerufen am 21.11.2024.
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