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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852.

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Volkslied stummen steinernen italienischen Palästen
vor, die da in den Sternenhimmel hinein schauten.
Ueberall herrschten Schlaf und Schweigen. Nur ihm
gegenüber in dem oberen Stockwerk eines hohen
Hauses schimmerte Licht durch zwei Fenster, deren
eines auch offen stand. Es bedünkte ihn, als rege
sich's da drüben! Und wirklich, er hatte kaum die
Weise seines Liedes einigemale durchgegeigt, so riefen
von dort herüber schon die Klänge einer ihm ant-
wortenden Violine. Aber welch' einer! Und was
für Klänge!? Die seinigen galten ihm dagegen so
dünn, so marklos, daß er beschämt inne hielt und
lauschte.

Welche Kraft! Welche Fülle! Welcher Wohl-
laut: rief er aus, ließ seinen Bogen sinken und trank
mit durstigem Ohre. Nicht lange blieb der Künstler
im anderen Hause bei Anton's Melodie; er fing an
zu variiren, ging sonach in Doppelgriffe und Kadenzen
über, arbeitete sich durch kühne Uebergänge, und ließ
aus chaotischem Gewirre von Tönen, wie aus einem
Korbe voll durcheinander geworfener Blätter und
Blüthen unerwartet eine ganz einfache Volksweise
dringen, die dem singenden Vogel vergleichbar, aus

Volkslied ſtummen ſteinernen italieniſchen Palaͤſten
vor, die da in den Sternenhimmel hinein ſchauten.
Ueberall herrſchten Schlaf und Schweigen. Nur ihm
gegenuͤber in dem oberen Stockwerk eines hohen
Hauſes ſchimmerte Licht durch zwei Fenſter, deren
eines auch offen ſtand. Es beduͤnkte ihn, als rege
ſich’s da druͤben! Und wirklich, er hatte kaum die
Weiſe ſeines Liedes einigemale durchgegeigt, ſo riefen
von dort heruͤber ſchon die Klaͤnge einer ihm ant-
wortenden Violine. Aber welch’ einer! Und was
fuͤr Klaͤnge!? Die ſeinigen galten ihm dagegen ſo
duͤnn, ſo marklos, daß er beſchaͤmt inne hielt und
lauſchte.

Welche Kraft! Welche Fuͤlle! Welcher Wohl-
laut: rief er aus, ließ ſeinen Bogen ſinken und trank
mit durſtigem Ohre. Nicht lange blieb der Kuͤnſtler
im anderen Hauſe bei Anton’s Melodie; er fing an
zu variiren, ging ſonach in Doppelgriffe und Kadenzen
uͤber, arbeitete ſich durch kuͤhne Uebergaͤnge, und ließ
aus chaotiſchem Gewirre von Toͤnen, wie aus einem
Korbe voll durcheinander geworfener Blaͤtter und
Bluͤthen unerwartet eine ganz einfache Volksweiſe
dringen, die dem ſingenden Vogel vergleichbar, aus

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[59/0063] Volkslied ſtummen ſteinernen italieniſchen Palaͤſten vor, die da in den Sternenhimmel hinein ſchauten. Ueberall herrſchten Schlaf und Schweigen. Nur ihm gegenuͤber in dem oberen Stockwerk eines hohen Hauſes ſchimmerte Licht durch zwei Fenſter, deren eines auch offen ſtand. Es beduͤnkte ihn, als rege ſich’s da druͤben! Und wirklich, er hatte kaum die Weiſe ſeines Liedes einigemale durchgegeigt, ſo riefen von dort heruͤber ſchon die Klaͤnge einer ihm ant- wortenden Violine. Aber welch’ einer! Und was fuͤr Klaͤnge!? Die ſeinigen galten ihm dagegen ſo duͤnn, ſo marklos, daß er beſchaͤmt inne hielt und lauſchte. Welche Kraft! Welche Fuͤlle! Welcher Wohl- laut: rief er aus, ließ ſeinen Bogen ſinken und trank mit durſtigem Ohre. Nicht lange blieb der Kuͤnſtler im anderen Hauſe bei Anton’s Melodie; er fing an zu variiren, ging ſonach in Doppelgriffe und Kadenzen uͤber, arbeitete ſich durch kuͤhne Uebergaͤnge, und ließ aus chaotiſchem Gewirre von Toͤnen, wie aus einem Korbe voll durcheinander geworfener Blaͤtter und Bluͤthen unerwartet eine ganz einfache Volksweiſe dringen, die dem ſingenden Vogel vergleichbar, aus

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/63>, abgerufen am 28.11.2024.