Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer
Unschuld eingebüßt, seitdem sie sich täglich gegenüber
saßen.

Wenn sodann der Vater aufwachte; zuerst mit
fragenden, weitaufgerissenen Augen umherstarrte, als
wollte er den Terrain rekognosziren; wenn er dann
fragte: "hab' ich geschlafen?" und die Tochter
lächelnd erwiederte: "ein Wenig, lieber Vater!"
wenn Anton sich ehrerbietig empfahl, dringend auf-
gefordert, sich morgen Nachmittag wieder einzufin-
den! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnütz
war! ... wenn er nun hochbeglückt heimging und
einen Himmel im Herzen vor das Lager der kranken
Frau trat! ... Welch' ein Gegensatz!

Und dennoch weilte der in Liebe glühende Anton
auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des
schon entstellten Angesichtes redete. Dennoch hörte
die Sterbende mit regem Antheil seine Geständnisse,
begleitete jedes Wort, welches ihr über Hedwig
gesagt wurde, mit aufmerksamer Empfänglichkeit.
Es war, wie wenn sie scheidend von dieser Erde,
einen Bund segnen wollte, den sie nicht mehr mit
leiblichen Augen sehen, dessen sie sich vielleicht in
einer andern Welt geistig freuen dürfte. Sie war

aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer
Unſchuld eingebuͤßt, ſeitdem ſie ſich taͤglich gegenuͤber
ſaßen.

Wenn ſodann der Vater aufwachte; zuerſt mit
fragenden, weitaufgeriſſenen Augen umherſtarrte, als
wollte er den Terrain rekognosziren; wenn er dann
fragte: „hab’ ich geſchlafen?“ und die Tochter
laͤchelnd erwiederte: „ein Wenig, lieber Vater!“
wenn Anton ſich ehrerbietig empfahl, dringend auf-
gefordert, ſich morgen Nachmittag wieder einzufin-
den! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnuͤtz
war! ... wenn er nun hochbegluͤckt heimging und
einen Himmel im Herzen vor das Lager der kranken
Frau trat! ... Welch’ ein Gegenſatz!

Und dennoch weilte der in Liebe gluͤhende Anton
auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des
ſchon entſtellten Angeſichtes redete. Dennoch hoͤrte
die Sterbende mit regem Antheil ſeine Geſtaͤndniſſe,
begleitete jedes Wort, welches ihr uͤber Hedwig
geſagt wurde, mit aufmerkſamer Empfaͤnglichkeit.
Es war, wie wenn ſie ſcheidend von dieſer Erde,
einen Bund ſegnen wollte, den ſie nicht mehr mit
leiblichen Augen ſehen, deſſen ſie ſich vielleicht in
einer andern Welt geiſtig freuen duͤrfte. Sie war

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0209" n="205"/>
aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer<lb/>
Un&#x017F;chuld eingebu&#x0364;ßt, &#x017F;eitdem &#x017F;ie &#x017F;ich ta&#x0364;glich gegenu&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;aßen.</p><lb/>
        <p>Wenn &#x017F;odann der Vater aufwachte; zuer&#x017F;t mit<lb/>
fragenden, weitaufgeri&#x017F;&#x017F;enen Augen umher&#x017F;tarrte, als<lb/>
wollte er den Terrain rekognosziren; wenn er dann<lb/>
fragte: &#x201E;hab&#x2019; ich ge&#x017F;chlafen?&#x201C; und die Tochter<lb/>
la&#x0364;chelnd erwiederte: &#x201E;ein Wenig, lieber Vater!&#x201C;<lb/>
wenn Anton &#x017F;ich ehrerbietig empfahl, dringend auf-<lb/>
gefordert, &#x017F;ich morgen Nachmittag wieder einzufin-<lb/>
den! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnu&#x0364;tz<lb/>
war! ... wenn er nun hochbeglu&#x0364;ckt heimging und<lb/>
einen Himmel im Herzen vor das Lager der kranken<lb/>
Frau trat! ... Welch&#x2019; ein Gegen&#x017F;atz!</p><lb/>
        <p>Und dennoch weilte der in Liebe glu&#x0364;hende Anton<lb/>
auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des<lb/>
&#x017F;chon ent&#x017F;tellten Ange&#x017F;ichtes redete. Dennoch ho&#x0364;rte<lb/>
die Sterbende mit regem Antheil &#x017F;eine Ge&#x017F;ta&#x0364;ndni&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
begleitete jedes Wort, welches ihr u&#x0364;ber Hedwig<lb/>
ge&#x017F;agt wurde, mit aufmerk&#x017F;amer Empfa&#x0364;nglichkeit.<lb/>
Es war, wie wenn &#x017F;ie &#x017F;cheidend von die&#x017F;er Erde,<lb/>
einen Bund &#x017F;egnen wollte, den &#x017F;ie nicht mehr mit<lb/>
leiblichen Augen &#x017F;ehen, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich vielleicht in<lb/>
einer andern Welt gei&#x017F;tig freuen du&#x0364;rfte. Sie war<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0209] aus der Ferne bewahrt, die aber nichts an ihrer Unſchuld eingebuͤßt, ſeitdem ſie ſich taͤglich gegenuͤber ſaßen. Wenn ſodann der Vater aufwachte; zuerſt mit fragenden, weitaufgeriſſenen Augen umherſtarrte, als wollte er den Terrain rekognosziren; wenn er dann fragte: „hab’ ich geſchlafen?“ und die Tochter laͤchelnd erwiederte: „ein Wenig, lieber Vater!“ wenn Anton ſich ehrerbietig empfahl, dringend auf- gefordert, ſich morgen Nachmittag wieder einzufin- den! ... eine Aufforderung, die wahrlich unnuͤtz war! ... wenn er nun hochbegluͤckt heimging und einen Himmel im Herzen vor das Lager der kranken Frau trat! ... Welch’ ein Gegenſatz! Und dennoch weilte der in Liebe gluͤhende Anton auch gern bei ihr, wo der Tod aus jedem Zuge des ſchon entſtellten Angeſichtes redete. Dennoch hoͤrte die Sterbende mit regem Antheil ſeine Geſtaͤndniſſe, begleitete jedes Wort, welches ihr uͤber Hedwig geſagt wurde, mit aufmerkſamer Empfaͤnglichkeit. Es war, wie wenn ſie ſcheidend von dieſer Erde, einen Bund ſegnen wollte, den ſie nicht mehr mit leiblichen Augen ſehen, deſſen ſie ſich vielleicht in einer andern Welt geiſtig freuen duͤrfte. Sie war

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/209
Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/209>, abgerufen am 17.05.2024.