reinfte, sittsamste Mädchen wird in solchen Fällen listig und schlau!) -- dafür Sorge, ihn vollkommen sicher zu machen. Jn solchem Gefühle der Sicher- heit, kläglich gelangweilt von ihren faden Diskursen, schlief der tapfere Krieger regelmäßig ein, und wenn sie ihn schnarchen hörten; wenn seinem Halse die unharmonischen Töne entquollen, die ihr Flüstern überboten, -- welche Melodie, welcher Nachtigallen- gesang wäre ihnen denn anmuthiger erschienen? Dann tauschten sie Erinnerungen, Gedanken, Ge- fühle gegenseitig aus. Dann zog Anton zehnmal in einer Minute seine Uhr hervor, ohne sie anzublicken, nur um die schwarze Schnur an seine Lippen zu pressen. Dann erzählte Hedwig unzähligemale, und immer wieder auf's Neue von ihm dazu aufgefor- dert, wie sie ihn gleich am ersten Tage seiner Ankunft durch ihre Gasse schreiten sah; wie sie nicht Ruhe gefunden, bis sie erfahren, wo und warum er hier weile. Ach, sie dachten nicht der Gegenwart, nicht des Betruges, den sie an einem angebeteten Vater übten; sie gedachten nicht der Zukunft, die ihren menschlichen Ansichten und Erwartungen gemäß nur Gram verhieß; sie lebten beide nur in der Vergan- genheit; in der unschuldigen Sehnsucht, die sie sich
reinfte, ſittſamſte Maͤdchen wird in ſolchen Faͤllen liſtig und ſchlau!) — dafuͤr Sorge, ihn vollkommen ſicher zu machen. Jn ſolchem Gefuͤhle der Sicher- heit, klaͤglich gelangweilt von ihren faden Diskurſen, ſchlief der tapfere Krieger regelmaͤßig ein, und wenn ſie ihn ſchnarchen hoͤrten; wenn ſeinem Halſe die unharmoniſchen Toͤne entquollen, die ihr Fluͤſtern uͤberboten, — welche Melodie, welcher Nachtigallen- geſang waͤre ihnen denn anmuthiger erſchienen? Dann tauſchten ſie Erinnerungen, Gedanken, Ge- fuͤhle gegenſeitig aus. Dann zog Anton zehnmal in einer Minute ſeine Uhr hervor, ohne ſie anzublicken, nur um die ſchwarze Schnur an ſeine Lippen zu preſſen. Dann erzaͤhlte Hedwig unzaͤhligemale, und immer wieder auf’s Neue von ihm dazu aufgefor- dert, wie ſie ihn gleich am erſten Tage ſeiner Ankunft durch ihre Gaſſe ſchreiten ſah; wie ſie nicht Ruhe gefunden, bis ſie erfahren, wo und warum er hier weile. Ach, ſie dachten nicht der Gegenwart, nicht des Betruges, den ſie an einem angebeteten Vater uͤbten; ſie gedachten nicht der Zukunft, die ihren menſchlichen Anſichten und Erwartungen gemaͤß nur Gram verhieß; ſie lebten beide nur in der Vergan- genheit; in der unſchuldigen Sehnſucht, die ſie ſich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0208"n="204"/>
reinfte, ſittſamſte Maͤdchen wird in ſolchen Faͤllen<lb/>
liſtig und ſchlau!) — dafuͤr Sorge, ihn vollkommen<lb/>ſicher zu machen. Jn ſolchem Gefuͤhle der Sicher-<lb/>
heit, klaͤglich gelangweilt von ihren faden Diskurſen,<lb/>ſchlief der tapfere Krieger regelmaͤßig ein, und wenn<lb/>ſie ihn ſchnarchen hoͤrten; wenn ſeinem Halſe die<lb/>
unharmoniſchen Toͤne entquollen, die ihr Fluͤſtern<lb/>
uͤberboten, — welche Melodie, welcher Nachtigallen-<lb/>
geſang waͤre ihnen denn anmuthiger erſchienen?<lb/>
Dann tauſchten ſie Erinnerungen, Gedanken, Ge-<lb/>
fuͤhle gegenſeitig aus. Dann zog Anton zehnmal in<lb/>
einer Minute ſeine Uhr hervor, ohne ſie anzublicken,<lb/>
nur um die ſchwarze Schnur an ſeine Lippen zu<lb/>
preſſen. Dann erzaͤhlte Hedwig unzaͤhligemale, und<lb/>
immer wieder auf’s Neue von ihm dazu aufgefor-<lb/>
dert, wie ſie ihn gleich am erſten Tage ſeiner Ankunft<lb/>
durch ihre Gaſſe ſchreiten ſah; wie ſie nicht Ruhe<lb/>
gefunden, bis ſie erfahren, wo und warum er hier<lb/>
weile. Ach, ſie dachten nicht der Gegenwart, nicht<lb/>
des Betruges, den ſie an einem angebeteten Vater<lb/>
uͤbten; ſie gedachten nicht der Zukunft, die ihren<lb/>
menſchlichen Anſichten und Erwartungen gemaͤß nur<lb/>
Gram verhieß; ſie lebten beide nur in der Vergan-<lb/>
genheit; in der unſchuldigen Sehnſucht, die ſie ſich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[204/0208]
reinfte, ſittſamſte Maͤdchen wird in ſolchen Faͤllen
liſtig und ſchlau!) — dafuͤr Sorge, ihn vollkommen
ſicher zu machen. Jn ſolchem Gefuͤhle der Sicher-
heit, klaͤglich gelangweilt von ihren faden Diskurſen,
ſchlief der tapfere Krieger regelmaͤßig ein, und wenn
ſie ihn ſchnarchen hoͤrten; wenn ſeinem Halſe die
unharmoniſchen Toͤne entquollen, die ihr Fluͤſtern
uͤberboten, — welche Melodie, welcher Nachtigallen-
geſang waͤre ihnen denn anmuthiger erſchienen?
Dann tauſchten ſie Erinnerungen, Gedanken, Ge-
fuͤhle gegenſeitig aus. Dann zog Anton zehnmal in
einer Minute ſeine Uhr hervor, ohne ſie anzublicken,
nur um die ſchwarze Schnur an ſeine Lippen zu
preſſen. Dann erzaͤhlte Hedwig unzaͤhligemale, und
immer wieder auf’s Neue von ihm dazu aufgefor-
dert, wie ſie ihn gleich am erſten Tage ſeiner Ankunft
durch ihre Gaſſe ſchreiten ſah; wie ſie nicht Ruhe
gefunden, bis ſie erfahren, wo und warum er hier
weile. Ach, ſie dachten nicht der Gegenwart, nicht
des Betruges, den ſie an einem angebeteten Vater
uͤbten; ſie gedachten nicht der Zukunft, die ihren
menſchlichen Anſichten und Erwartungen gemaͤß nur
Gram verhieß; ſie lebten beide nur in der Vergan-
genheit; in der unſchuldigen Sehnſucht, die ſie ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/208>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.