Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach-
senen Laube erschien, wedelten ihm des Freiherrn
Hunde zutraulich entgegen und rieben sich an seinen
Knieen, als an denen eines guten Freundes.

Anton küßte dem Baron die Hand, worauf dieser
ihn in die Wange kniff und in bester Weinlaune sagte:
"Na, Schlingel?" Sonst achtete Niemand sonderlich
auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von sei-
nen Reisen und Abentheuern zu erzählen. Anton
legte die schlechte Geige auf einen leeren Stuhl und
hörte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden
gefesselt, aufmerksam zu.

Der sogenannte Musikdirektor schien ein Mann
von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Sein Beneh-
men war das eines viel gereiseten, nach allen Rich-
tungen bekannten und gebildeten Menschen. Wo war
er nicht überall gewesen? Was hatte er nicht gese-
hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen
Kleinbürgers, des wohlehrsamen Weißgerbers Karich,
war er vor länger als zwanzig Jahren mit einer
Bande musizirender Bergknappen aus dem Erzge-
birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino,
bei einem kleinen Fürsten am Rhein für Kapellmeister
angestellt, in die Heimath auf Besuch, in welcher

Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach-
ſenen Laube erſchien, wedelten ihm des Freiherrn
Hunde zutraulich entgegen und rieben ſich an ſeinen
Knieen, als an denen eines guten Freundes.

Anton kuͤßte dem Baron die Hand, worauf dieſer
ihn in die Wange kniff und in beſter Weinlaune ſagte:
„Na, Schlingel?“ Sonſt achtete Niemand ſonderlich
auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von ſei-
nen Reiſen und Abentheuern zu erzaͤhlen. Anton
legte die ſchlechte Geige auf einen leeren Stuhl und
hoͤrte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden
gefeſſelt, aufmerkſam zu.

Der ſogenannte Muſikdirektor ſchien ein Mann
von dreißig bis fuͤnfunddreißig Jahren. Sein Beneh-
men war das eines viel gereiſeten, nach allen Rich-
tungen bekannten und gebildeten Menſchen. Wo war
er nicht uͤberall geweſen? Was hatte er nicht geſe-
hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen
Kleinbuͤrgers, des wohlehrſamen Weißgerbers Karich,
war er vor laͤnger als zwanzig Jahren mit einer
Bande muſizirender Bergknappen aus dem Erzge-
birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino,
bei einem kleinen Fuͤrſten am Rhein fuͤr Kapellmeiſter
angeſtellt, in die Heimath auf Beſuch, in welcher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0077" n="61"/>
        <p>Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach-<lb/>
&#x017F;enen Laube er&#x017F;chien, wedelten ihm des Freiherrn<lb/>
Hunde zutraulich entgegen und rieben &#x017F;ich an &#x017F;einen<lb/>
Knieen, als an denen eines guten Freundes.</p><lb/>
        <p>Anton ku&#x0364;ßte dem Baron die Hand, worauf die&#x017F;er<lb/>
ihn in die Wange kniff und in be&#x017F;ter Weinlaune &#x017F;agte:<lb/>
&#x201E;Na, Schlingel?&#x201C; Son&#x017F;t achtete Niemand &#x017F;onderlich<lb/>
auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von &#x017F;ei-<lb/>
nen Rei&#x017F;en und Abentheuern zu erza&#x0364;hlen. Anton<lb/>
legte die &#x017F;chlechte Geige auf einen leeren Stuhl und<lb/>
ho&#x0364;rte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden<lb/>
gefe&#x017F;&#x017F;elt, aufmerk&#x017F;am zu.</p><lb/>
        <p>Der &#x017F;ogenannte Mu&#x017F;ikdirektor &#x017F;chien ein Mann<lb/>
von dreißig bis fu&#x0364;nfunddreißig Jahren. Sein Beneh-<lb/>
men war das eines viel gerei&#x017F;eten, nach allen Rich-<lb/>
tungen bekannten und gebildeten Men&#x017F;chen. Wo war<lb/>
er nicht u&#x0364;berall gewe&#x017F;en? Was hatte er nicht ge&#x017F;e-<lb/>
hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen<lb/>
Kleinbu&#x0364;rgers, des wohlehr&#x017F;amen Weißgerbers Karich,<lb/>
war er vor la&#x0364;nger als zwanzig Jahren mit einer<lb/>
Bande mu&#x017F;izirender Bergknappen aus dem Erzge-<lb/>
birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino,<lb/>
bei einem kleinen Fu&#x0364;r&#x017F;ten am Rhein fu&#x0364;r Kapellmei&#x017F;ter<lb/>
ange&#x017F;tellt, in die Heimath auf Be&#x017F;uch, in welcher<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0077] Wie Anton am Eingang der langen dichtverwach- ſenen Laube erſchien, wedelten ihm des Freiherrn Hunde zutraulich entgegen und rieben ſich an ſeinen Knieen, als an denen eines guten Freundes. Anton kuͤßte dem Baron die Hand, worauf dieſer ihn in die Wange kniff und in beſter Weinlaune ſagte: „Na, Schlingel?“ Sonſt achtete Niemand ſonderlich auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von ſei- nen Reiſen und Abentheuern zu erzaͤhlen. Anton legte die ſchlechte Geige auf einen leeren Stuhl und hoͤrte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden gefeſſelt, aufmerkſam zu. Der ſogenannte Muſikdirektor ſchien ein Mann von dreißig bis fuͤnfunddreißig Jahren. Sein Beneh- men war das eines viel gereiſeten, nach allen Rich- tungen bekannten und gebildeten Menſchen. Wo war er nicht uͤberall geweſen? Was hatte er nicht geſe- hen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen Kleinbuͤrgers, des wohlehrſamen Weißgerbers Karich, war er vor laͤnger als zwanzig Jahren mit einer Bande muſizirender Bergknappen aus dem Erzge- birge davongelaufen und kehrte nun als Herr Carino, bei einem kleinen Fuͤrſten am Rhein fuͤr Kapellmeiſter angeſtellt, in die Heimath auf Beſuch, in welcher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/77
Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/77>, abgerufen am 06.05.2024.