Hoffmann, E. T. A.: Das Fräulein von Scuderi. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [203]–312. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.eines Individuums, das von seiner Mutter in dunkler Stunde einen dämonischen Zug geerbt hat, durch welchen es zum psychologischen Gespenste wird. Die Entwicklung greift tief in das sogenannte Nachtgebiet der menschlichen Natur und schweift weit in das Gebiet der äußersten Ausnahmefälle hinaus, ohne jedoch als baare Unmöglichkeit zu erscheinen. Dagegen hat die Erzählung einen sehr bedenklichen Punkt. Ein junger Mann von reinem Herzen liebt ein Mädchen und hängt um dieser Liebe willen auch an dem Vater des Mädchens, obgleich dieser ein Verbrecher ist: ein rührend menschlicher Zug, wenn nämlich der Verbrecher gerichtet und von der übrigen Menschheit ausgestoßen wäre; allein das ist keineswegs der Fall, vielmehr schleicht das Ungeheuer, von welchem Niemand Arges ahnt, in strafloser Sicherheit jede Nacht auf Mord aus, und der Jüngling weiß dies, verharrt aber nichtsdestoweniger geraume Zeit in solcher Umgebung, ohne die voraussichtlichen Opfer ihrem Schicksale zu entreißen. In diesem Punkte wird man es mehr mit der Criminaljustiz als mit der Poesie halten; und der Dichter hilft sich nur unzulänglich durch den Kunstgriff, daß die Criminaljustiz sehr abschreckend geschildert ist. Ungeachtet dieser Flüchtigkeit jedoch, die so leicht zu verbessern wäre, dürfte sich die Erzählung vermöge ihrer verhältnißmäßigen Frische und Freiheit von Manier in der Reihe der besseren und erhaltungswerthen deutschen Novellen behaupten. eines Individuums, das von seiner Mutter in dunkler Stunde einen dämonischen Zug geerbt hat, durch welchen es zum psychologischen Gespenste wird. Die Entwicklung greift tief in das sogenannte Nachtgebiet der menschlichen Natur und schweift weit in das Gebiet der äußersten Ausnahmefälle hinaus, ohne jedoch als baare Unmöglichkeit zu erscheinen. Dagegen hat die Erzählung einen sehr bedenklichen Punkt. Ein junger Mann von reinem Herzen liebt ein Mädchen und hängt um dieser Liebe willen auch an dem Vater des Mädchens, obgleich dieser ein Verbrecher ist: ein rührend menschlicher Zug, wenn nämlich der Verbrecher gerichtet und von der übrigen Menschheit ausgestoßen wäre; allein das ist keineswegs der Fall, vielmehr schleicht das Ungeheuer, von welchem Niemand Arges ahnt, in strafloser Sicherheit jede Nacht auf Mord aus, und der Jüngling weiß dies, verharrt aber nichtsdestoweniger geraume Zeit in solcher Umgebung, ohne die voraussichtlichen Opfer ihrem Schicksale zu entreißen. In diesem Punkte wird man es mehr mit der Criminaljustiz als mit der Poesie halten; und der Dichter hilft sich nur unzulänglich durch den Kunstgriff, daß die Criminaljustiz sehr abschreckend geschildert ist. Ungeachtet dieser Flüchtigkeit jedoch, die so leicht zu verbessern wäre, dürfte sich die Erzählung vermöge ihrer verhältnißmäßigen Frische und Freiheit von Manier in der Reihe der besseren und erhaltungswerthen deutschen Novellen behaupten. <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0010"/> eines Individuums, das von seiner Mutter in dunkler Stunde einen dämonischen Zug geerbt hat, durch welchen es zum psychologischen Gespenste wird. Die Entwicklung greift tief in das sogenannte Nachtgebiet der menschlichen Natur und schweift weit in das Gebiet der äußersten Ausnahmefälle hinaus, ohne jedoch als baare Unmöglichkeit zu erscheinen. Dagegen hat die Erzählung einen sehr bedenklichen Punkt. Ein junger Mann von reinem Herzen liebt ein Mädchen und hängt um dieser Liebe willen auch an dem Vater des Mädchens, obgleich dieser ein Verbrecher ist: ein rührend menschlicher Zug, wenn nämlich der Verbrecher gerichtet und von der übrigen Menschheit ausgestoßen wäre; allein das ist keineswegs der Fall, vielmehr schleicht das Ungeheuer, von welchem Niemand Arges ahnt, in strafloser Sicherheit jede Nacht auf Mord aus, und der Jüngling weiß dies, verharrt aber nichtsdestoweniger geraume Zeit in solcher Umgebung, ohne die voraussichtlichen Opfer ihrem Schicksale zu entreißen. In diesem Punkte wird man es mehr mit der Criminaljustiz als mit der Poesie halten; und der Dichter hilft sich nur unzulänglich durch den Kunstgriff, daß die Criminaljustiz sehr abschreckend geschildert ist.</p><lb/> <p>Ungeachtet dieser Flüchtigkeit jedoch, die so leicht zu verbessern wäre, dürfte sich die Erzählung vermöge ihrer verhältnißmäßigen Frische und Freiheit von Manier in der Reihe der besseren und erhaltungswerthen deutschen Novellen behaupten.</p><lb/> <byline> <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118778277">K.</persName> </byline><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </front> </text> </TEI> [0010]
eines Individuums, das von seiner Mutter in dunkler Stunde einen dämonischen Zug geerbt hat, durch welchen es zum psychologischen Gespenste wird. Die Entwicklung greift tief in das sogenannte Nachtgebiet der menschlichen Natur und schweift weit in das Gebiet der äußersten Ausnahmefälle hinaus, ohne jedoch als baare Unmöglichkeit zu erscheinen. Dagegen hat die Erzählung einen sehr bedenklichen Punkt. Ein junger Mann von reinem Herzen liebt ein Mädchen und hängt um dieser Liebe willen auch an dem Vater des Mädchens, obgleich dieser ein Verbrecher ist: ein rührend menschlicher Zug, wenn nämlich der Verbrecher gerichtet und von der übrigen Menschheit ausgestoßen wäre; allein das ist keineswegs der Fall, vielmehr schleicht das Ungeheuer, von welchem Niemand Arges ahnt, in strafloser Sicherheit jede Nacht auf Mord aus, und der Jüngling weiß dies, verharrt aber nichtsdestoweniger geraume Zeit in solcher Umgebung, ohne die voraussichtlichen Opfer ihrem Schicksale zu entreißen. In diesem Punkte wird man es mehr mit der Criminaljustiz als mit der Poesie halten; und der Dichter hilft sich nur unzulänglich durch den Kunstgriff, daß die Criminaljustiz sehr abschreckend geschildert ist.
Ungeachtet dieser Flüchtigkeit jedoch, die so leicht zu verbessern wäre, dürfte sich die Erzählung vermöge ihrer verhältnißmäßigen Frische und Freiheit von Manier in der Reihe der besseren und erhaltungswerthen deutschen Novellen behaupten.
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Zitationshilfe: | Hoffmann, E. T. A.: Das Fräulein von Scuderi. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [203]–312. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_scuderi_1910/10>, abgerufen am 06.07.2024. |