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[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817.

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ließ sie sich ganz dem trostlosesten Schmerz und
bald waren es wild und schauerlich tönende,
bald tiefklagende Romanzen, mit denen sie das
Kloster erfüllte, denn überall hörte man ihre
durchdringende Glockenstimme. Es begab sich,
daß wir einst um Mitternacht im Chor der Kir¬
che versammelt waren und die Hora nach jener
wundervollen heiligen Weise absangen, die der hohe
Meister des Gesanges, Ferreras, uns lehrte.
Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema
in der offnen Pforte des Chors stehend und mit
ernstem Blick still und andächtig hineinschauend;
als wir Paarweise daherziehend den Chor ver¬
ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines
Marienbildes. Den andern Tag sang sie keine
Romanze, sondern blieb still und in sich gekehrt.
Bald versuchte sie auf der tiefgestimmten Zither
die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche
gesungen, und dann fing sie an leise leise zu sin¬
gen, ja selbst die Worte unsers Gesanges zu ver¬
suchen, die sie freilich wunderlich wie mit gebun¬

ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und
bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende,
bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das
Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre
durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich,
daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬
che verſammelt waren und die Hora nach jener
wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe
Meiſter des Geſanges, Ferreras, uns lehrte.
Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema
in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit
ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend;
als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬
ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines
Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine
Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt.
Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither
die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche
geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬
gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬
ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬

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[302/0310] ließ ſie ſich ganz dem troſtloſeſten Schmerz und bald waren es wild und ſchauerlich toͤnende, bald tiefklagende Romanzen, mit denen ſie das Kloſter erfuͤllte, denn uͤberall hoͤrte man ihre durchdringende Glockenſtimme. Es begab ſich, daß wir einſt um Mitternacht im Chor der Kir¬ che verſammelt waren und die Hora nach jener wundervollen heiligen Weiſe abſangen, die der hohe Meiſter des Geſanges, Ferreras, uns lehrte. Ich bemerkte im Schein der Lichter Zulema in der offnen Pforte des Chors ſtehend und mit ernſtem Blick ſtill und andaͤchtig hineinſchauend; als wir Paarweiſe daherziehend den Chor ver¬ ließen, kniete Zulema im Gange unfern eines Marienbildes. Den andern Tag ſang ſie keine Romanze, ſondern blieb ſtill und in ſich gekehrt. Bald verſuchte ſie auf der tiefgeſtimmten Zither die Akkorde jenes Chorals, den wir in der Kirche geſungen, und dann fing ſie an leiſe leiſe zu ſin¬ gen, ja ſelbſt die Worte unſers Geſanges zu ver¬ ſuchen, die ſie freilich wunderlich wie mit gebun¬

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Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/310>, abgerufen am 02.05.2024.