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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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ben so gern in der Einbildung, träumen uns
so gern in angenehme, reizende Gefilde;
überall erscheinen uns Rosen -- Täuschung ver-
birgt die Dornen, die sie umgeben. Tausend
Bilder schweben vor unsern Blicken; die Ein-
bildung mahlt die aus der Zukunft entlehnten
mit lebhaftern Farben, wir greifen darnach,
und -- es war ein Traum, der uns wachend
dem wirklich Träumenden ähnlich machte. Das
Erwachen ist unangenehm, es erinnert uns an
eine Veränderung, an etwas das nicht mehr ist.

Was sind doch Veränderungen! Abschnitte
des menschlichen Lebens, ohne welche wir nichts,
oder doch das nicht wären, was wir sind. Nur
allein in ihnen empfinden wir unser Daseyn.
Aber warum sind sie oft bitter diese Abschnitte
des Lebens? warum ließ der weise Schöpfer --
Veränderung, das Gelenk in der Kette unsert Le-
bens, unserer Schicksale seyn, an welchem die
übrigen festbangen? Mein Blick ist zu trübe und
mein Auge zu kurzsichtig, diese große Kette mei-
ner Schicksale zu übersehen. Einst, hoffe ich,
wird die Vergangenheit deutlicher vor mir lie-
gen, dann wird sich das Räthsel meines Da-
seyns auflösen.

Mich traf schon manche Veränderung, aber
keine hat so auf mich gewirkt als die Letzte.
Sie verstehen mich. Sie entriß mich einem herz-

ben ſo gern in der Einbildung, traͤumen uns
ſo gern in angenehme, reizende Gefilde;
uͤberall erſcheinen uns Roſen — Taͤuſchung ver-
birgt die Dornen, die ſie umgeben. Tauſend
Bilder ſchweben vor unſern Blicken; die Ein-
bildung mahlt die aus der Zukunft entlehnten
mit lebhaftern Farben, wir greifen darnach,
und — es war ein Traum, der uns wachend
dem wirklich Traͤumenden aͤhnlich machte. Das
Erwachen iſt unangenehm, es erinnert uns an
eine Veraͤnderung, an etwas das nicht mehr iſt.

Was ſind doch Veraͤnderungen! Abſchnitte
des menſchlichen Lebens, ohne welche wir nichts,
oder doch das nicht waͤren, was wir ſind. Nur
allein in ihnen empfinden wir unſer Daſeyn.
Aber warum ſind ſie oft bitter dieſe Abſchnitte
des Lebens? warum ließ der weiſe Schoͤpfer —
Veraͤnderung, das Gelenk in der Kette unſert Le-
bens, unſerer Schickſale ſeyn, an welchem die
uͤbrigen feſtbangen? Mein Blick iſt zu truͤbe und
mein Auge zu kurzſichtig, dieſe große Kette mei-
ner Schickſale zu uͤberſehen. Einſt, hoffe ich,
wird die Vergangenheit deutlicher vor mir lie-
gen, dann wird ſich das Raͤthſel meines Da-
ſeyns aufloͤſen.

Mich traf ſchon manche Veraͤnderung, aber
keine hat ſo auf mich gewirkt als die Letzte.
Sie verſtehen mich. Sie entriß mich einem herz-

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[4/0004] ben ſo gern in der Einbildung, traͤumen uns ſo gern in angenehme, reizende Gefilde; uͤberall erſcheinen uns Roſen — Taͤuſchung ver- birgt die Dornen, die ſie umgeben. Tauſend Bilder ſchweben vor unſern Blicken; die Ein- bildung mahlt die aus der Zukunft entlehnten mit lebhaftern Farben, wir greifen darnach, und — es war ein Traum, der uns wachend dem wirklich Traͤumenden aͤhnlich machte. Das Erwachen iſt unangenehm, es erinnert uns an eine Veraͤnderung, an etwas das nicht mehr iſt. Was ſind doch Veraͤnderungen! Abſchnitte des menſchlichen Lebens, ohne welche wir nichts, oder doch das nicht waͤren, was wir ſind. Nur allein in ihnen empfinden wir unſer Daſeyn. Aber warum ſind ſie oft bitter dieſe Abſchnitte des Lebens? warum ließ der weiſe Schoͤpfer — Veraͤnderung, das Gelenk in der Kette unſert Le- bens, unſerer Schickſale ſeyn, an welchem die uͤbrigen feſtbangen? Mein Blick iſt zu truͤbe und mein Auge zu kurzſichtig, dieſe große Kette mei- ner Schickſale zu uͤberſehen. Einſt, hoffe ich, wird die Vergangenheit deutlicher vor mir lie- gen, dann wird ſich das Raͤthſel meines Da- ſeyns aufloͤſen. Mich traf ſchon manche Veraͤnderung, aber keine hat ſo auf mich gewirkt als die Letzte. Sie verſtehen mich. Sie entriß mich einem herz-

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/4>, abgerufen am 26.04.2024.