Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.der Alten und der Neuen. Wissenschaft oder Kunst gemacht hätte; ihr Genie hat immer nur einen schleichendenGang genommen, nie einen glücklichen Sprung gewagt; das Vorurtheil für alles, was bey ihr alt geworden, unterstützt ihre natürliche Trägheit. Die paradisischen Gärten hätten also schon lange blühen müssen, in einer so auffallenden Schönheit, mit so eigenen hervorstechenden Reizen, daß jedes fremde Auge sie mit Bewunderung hätte wahrnehmen müssen. Und doch ein so tiefes Stillschweigen von so vielen Rei- senden, die sie sehen konnten und sehen mußten! Vielleicht waren diese Reisende nicht alle Kenner. Der größte Theil der nach China reisenden Gelehrten bestand aus französischen Jesuiten, die vielleicht entweder keine Einsicht in die Gartenkunst haben, oder voll Vorurtheil für die Manier ihres Vaterlandes seyn konnten. Es mag seyn. Aber so hätten sie doch wenigstens das Eigenthümliche und das Abwei- chende in dem chinesischen Geschmack bemerken können. Außerdem waren verschie- dene von diesen Missionarien geschickte Architekten und Maler. Die hohen Schön- heiten der Natur, welche die chinesischen Gärten darstellen sollen, sind jedem Auge bemerkbar. Und der französische Jesuit hätte hier immer eine Ausnahme seyn sollen? Man weiß, wie sorgfältig diese Missionarien gewesen, alles merkwürdige in China aufzuzeichnen und ihrem Hofe zu berichten; man weiß, wie beredt sie zum Theil erzählen, wie gerne sie ausschmücken. Sie beschreiben sehr ausführlich die Beschaffenheit des Erdreichs, des Ackerbaues, der Gartengewächse und aller Früchte. Und doch bey den nächsten Veranlassungen, von den Lustgärten zu reden, schweigen sie entweder ganz, [Spaltenumbruch] *) oder geben uns nur einige flüchtige Anzeigen, die nichts weni- ger als den stolzen Begriff erregen, den man von den Wundern der chinesischen Gärten hat. Chambers ist es indessen, der nach seiner Zurückkunft aus China diese Gär- weniger *) Ich muß hier wohl die seltsame Be- schreibung ausnehmen, die der gute Pater Attiret von den Gärten des Kaisers zu Peking bekannt gemacht hat, (Lettres edi- fiantes, Recueil XXVII, publie en 1749.) [Spaltenumbruch] die mehr seine blinde Bewunderung eines fast mit nichts als Gebäuden und Canä- len angefüllten Platzes, als Geschmack und richtige Einsicht in die Gartenkunst entdecken. I Band. N
der Alten und der Neuen. Wiſſenſchaft oder Kunſt gemacht haͤtte; ihr Genie hat immer nur einen ſchleichendenGang genommen, nie einen gluͤcklichen Sprung gewagt; das Vorurtheil fuͤr alles, was bey ihr alt geworden, unterſtuͤtzt ihre natuͤrliche Traͤgheit. Die paradiſiſchen Gaͤrten haͤtten alſo ſchon lange bluͤhen muͤſſen, in einer ſo auffallenden Schoͤnheit, mit ſo eigenen hervorſtechenden Reizen, daß jedes fremde Auge ſie mit Bewunderung haͤtte wahrnehmen muͤſſen. Und doch ein ſo tiefes Stillſchweigen von ſo vielen Rei- ſenden, die ſie ſehen konnten und ſehen mußten! Vielleicht waren dieſe Reiſende nicht alle Kenner. Der groͤßte Theil der nach China reiſenden Gelehrten beſtand aus franzoͤſiſchen Jeſuiten, die vielleicht entweder keine Einſicht in die Gartenkunſt haben, oder voll Vorurtheil fuͤr die Manier ihres Vaterlandes ſeyn konnten. Es mag ſeyn. Aber ſo haͤtten ſie doch wenigſtens das Eigenthuͤmliche und das Abwei- chende in dem chineſiſchen Geſchmack bemerken koͤnnen. Außerdem waren verſchie- dene von dieſen Miſſionarien geſchickte Architekten und Maler. Die hohen Schoͤn- heiten der Natur, welche die chineſiſchen Gaͤrten darſtellen ſollen, ſind jedem Auge bemerkbar. Und der franzoͤſiſche Jeſuit haͤtte hier immer eine Ausnahme ſeyn ſollen? Man weiß, wie ſorgfaͤltig dieſe Miſſionarien geweſen, alles merkwuͤrdige in China aufzuzeichnen und ihrem Hofe zu berichten; man weiß, wie beredt ſie zum Theil erzaͤhlen, wie gerne ſie ausſchmuͤcken. Sie beſchreiben ſehr ausfuͤhrlich die Beſchaffenheit des Erdreichs, des Ackerbaues, der Gartengewaͤchſe und aller Fruͤchte. Und doch bey den naͤchſten Veranlaſſungen, von den Luſtgaͤrten zu reden, ſchweigen ſie entweder ganz, [Spaltenumbruch] *) oder geben uns nur einige fluͤchtige Anzeigen, die nichts weni- ger als den ſtolzen Begriff erregen, den man von den Wundern der chineſiſchen Gaͤrten hat. Chambers iſt es indeſſen, der nach ſeiner Zuruͤckkunft aus China dieſe Gaͤr- weniger *) Ich muß hier wohl die ſeltſame Be- ſchreibung ausnehmen, die der gute Pater Attiret von den Gaͤrten des Kaiſers zu Peking bekannt gemacht hat, (Lettres édi- fiantes, Recueil XXVII, publié en 1749.) [Spaltenumbruch] die mehr ſeine blinde Bewunderung eines faſt mit nichts als Gebaͤuden und Canaͤ- len angefuͤllten Platzes, als Geſchmack und richtige Einſicht in die Gartenkunſt entdecken. I Band. N
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Wiſſenſchaft oder Kunſt gemacht haͤtte; ihr Genie hat immer nur einen ſchleichenden
Gang genommen, nie einen gluͤcklichen Sprung gewagt; das Vorurtheil fuͤr alles,
was bey ihr alt geworden, unterſtuͤtzt ihre natuͤrliche Traͤgheit. Die paradiſiſchen
Gaͤrten haͤtten alſo ſchon lange bluͤhen muͤſſen, in einer ſo auffallenden Schoͤnheit,
mit ſo eigenen hervorſtechenden Reizen, daß jedes fremde Auge ſie mit Bewunderung
haͤtte wahrnehmen muͤſſen. Und doch ein ſo tiefes Stillſchweigen von ſo vielen Rei-
ſenden, die ſie ſehen konnten und ſehen mußten! Vielleicht waren dieſe Reiſende
nicht alle Kenner. Der groͤßte Theil der nach China reiſenden Gelehrten beſtand
aus franzoͤſiſchen Jeſuiten, die vielleicht entweder keine Einſicht in die Gartenkunſt
haben, oder voll Vorurtheil fuͤr die Manier ihres Vaterlandes ſeyn konnten. Es
mag ſeyn. Aber ſo haͤtten ſie doch wenigſtens das Eigenthuͤmliche und das Abwei-
chende in dem chineſiſchen Geſchmack bemerken koͤnnen. Außerdem waren verſchie-
dene von dieſen Miſſionarien geſchickte Architekten und Maler. Die hohen Schoͤn-
heiten der Natur, welche die chineſiſchen Gaͤrten darſtellen ſollen, ſind jedem Auge
bemerkbar. Und der franzoͤſiſche Jeſuit haͤtte hier immer eine Ausnahme ſeyn
ſollen? Man weiß, wie ſorgfaͤltig dieſe Miſſionarien geweſen, alles merkwuͤrdige in
China aufzuzeichnen und ihrem Hofe zu berichten; man weiß, wie beredt ſie zum
Theil erzaͤhlen, wie gerne ſie ausſchmuͤcken. Sie beſchreiben ſehr ausfuͤhrlich die
Beſchaffenheit des Erdreichs, des Ackerbaues, der Gartengewaͤchſe und aller Fruͤchte.
Und doch bey den naͤchſten Veranlaſſungen, von den Luſtgaͤrten zu reden, ſchweigen
ſie entweder ganz,
*) oder geben uns nur einige fluͤchtige Anzeigen, die nichts weni-
ger als den ſtolzen Begriff erregen, den man von den Wundern der chineſiſchen
Gaͤrten hat.
Chambers iſt es indeſſen, der nach ſeiner Zuruͤckkunft aus China dieſe Gaͤr-
ten in Ruf brachte. Man iſt ſehr geneigt, einen Reiſenden, der aus einem entfern-
ten Welttheil koͤmmt, wohin ohnedies nur noch wenig Englaͤnder gedrungen waren,
erzaͤhlen zu hoͤren. Man hoͤrt ihn deſto aufmerkſamer, je mehr er durch das Neue
und Unerwartete ſich der Verwunderung zu bemeiſtern weiß; man hoͤrt ihn mit Zu-
trauen, wenn er als ein Mann von Verſtand, und mit Vergnuͤgen, wenn er als ein
Mann von Geſchmack erzaͤhlt. Chambers mußte Eingang finden, wenn er gleich
weniger
*) Ich muß hier wohl die ſeltſame Be-
ſchreibung ausnehmen, die der gute Pater
Attiret von den Gaͤrten des Kaiſers zu
Peking bekannt gemacht hat, (Lettres édi-
fiantes, Recueil XXVII, publié en 1749.)
die mehr ſeine blinde Bewunderung eines
faſt mit nichts als Gebaͤuden und Canaͤ-
len angefuͤllten Platzes, als Geſchmack
und richtige Einſicht in die Gartenkunſt
entdecken.
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