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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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Erster Abschnitt. Aussicht in die Gärten

Es ist ausgemacht, daß keine der schönen Künste bey den Chinesern zur
Vollkommenheit emporgestiegen ist. *) Von der Perspectiv haben sie nicht den ge-
ringsten Begriff. In der Malerey klecken sie Landschaften, worin weder Sehepunkt
noch Ferne ist. Die dem Gesicht sich entfernenden Linien sind ihnen eben so unbekannt,
als der Punkt, worin sie sich vereinigen müssen, indem sie nicht die geringste Kennt-
niß von den Regeln haben, denen die Wirkungen des Lichts unterworfen sind. Mit
den Gegenstellungen oder den großen Massen von Schatten sind sie, wie man leicht
hinzudenken kann, ebenfalls ganz unbekannt. Sie wissen nichts von der Kunst, die
Farben zu brechen und zu versetzen. Sie müßten also sehr verlegen seyn, wenn sie
den Prospect eines Gartens vorstellen sollten. Ihre Zeichnung ist, wie man weiß,
sehr schlecht. Nicht einmal den Blumen, die doch so häufig gemalt werden, verste-
hen sie die Richtigkeit der Zeichnung zu geben. Ihre wilde Einbildungskraft zieht
sie von dem Studium der Natur ab, die eine ruhige und bedächtige Betrachtung er-
fordert, wozu die Chineser so wenig, als andere morgenländische Völker, aufge-
legt sind.

Schon aus diesen allgemeinen Bemerkungen wird man eben keine große Er-
wartung schöpfen, daß die schöne Gartenkunst von den Chinesern geliebt und mit
Glück getrieben werde, vielweniger daß sie Gärten von so vorzüglichen Schönheiten
besitzen, wie man uns überreden will.

China ist kein Reich, das erst seit einigen Jahren von den Europäern besucht
wurde, oder wohin nur Leute ohne Einsicht, ohne Beobachtungsgeist, ohne Geschmack
gekommen wären. Woher kömmt es, daß so viele Reisebeschreiber so vieles und seit
einer so langen Zeit von China berichten, ohne der so herrlichen Gärten der Nation
zu erwähnen, und daß man erst in der letzten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts
angefangen hat, sie mit einer Art von Begeisterung zu rühmen? Vielleicht waren
sie in den ältern Zeiten noch nicht vorhanden, nicht einmal hie und da in einem vor-
bereitenden Anfange vorhanden. Allein in diesem Jahrhunderte mußten sie doch da
seyn. Es sollen ja Gärten seyn, die bey der Nation gewöhnlich, die nicht blos die-
sem oder jenem Großen eigen sind, Gärten, welche die Nation ohne Beyhülfe, ohne
Beyspiel, durch ihr eigenes Genie hervorgebracht hat. Es läßt sich nicht wohl den-
ken, daß solche Gärten so ganz neu seyn oder so verborgen liegen sollten, daß sie nur
erst vor etwa dreyßig Jahren von einem Reisenden hätten bemerkt werden können.
Wenigstens schon hie und da hätten sie längst vorhanden seyn müssen. Die chinesi-
sche
Nation ist unstreitig keine solche, die auf einmal plötzliche Fortg[ä]nge in einer

Wissen-
*) Recherches philosophiques sur les Egyptiens & les Chinois, par Mr. de P. 1773.
Tom. I. Sect. IV.
Erſter Abſchnitt. Ausſicht in die Gaͤrten

Es iſt ausgemacht, daß keine der ſchoͤnen Kuͤnſte bey den Chineſern zur
Vollkommenheit emporgeſtiegen iſt. *) Von der Perſpectiv haben ſie nicht den ge-
ringſten Begriff. In der Malerey klecken ſie Landſchaften, worin weder Sehepunkt
noch Ferne iſt. Die dem Geſicht ſich entfernenden Linien ſind ihnen eben ſo unbekannt,
als der Punkt, worin ſie ſich vereinigen muͤſſen, indem ſie nicht die geringſte Kennt-
niß von den Regeln haben, denen die Wirkungen des Lichts unterworfen ſind. Mit
den Gegenſtellungen oder den großen Maſſen von Schatten ſind ſie, wie man leicht
hinzudenken kann, ebenfalls ganz unbekannt. Sie wiſſen nichts von der Kunſt, die
Farben zu brechen und zu verſetzen. Sie muͤßten alſo ſehr verlegen ſeyn, wenn ſie
den Proſpect eines Gartens vorſtellen ſollten. Ihre Zeichnung iſt, wie man weiß,
ſehr ſchlecht. Nicht einmal den Blumen, die doch ſo haͤufig gemalt werden, verſte-
hen ſie die Richtigkeit der Zeichnung zu geben. Ihre wilde Einbildungskraft zieht
ſie von dem Studium der Natur ab, die eine ruhige und bedaͤchtige Betrachtung er-
fordert, wozu die Chineſer ſo wenig, als andere morgenlaͤndiſche Voͤlker, aufge-
legt ſind.

Schon aus dieſen allgemeinen Bemerkungen wird man eben keine große Er-
wartung ſchoͤpfen, daß die ſchoͤne Gartenkunſt von den Chineſern geliebt und mit
Gluͤck getrieben werde, vielweniger daß ſie Gaͤrten von ſo vorzuͤglichen Schoͤnheiten
beſitzen, wie man uns uͤberreden will.

China iſt kein Reich, das erſt ſeit einigen Jahren von den Europaͤern beſucht
wurde, oder wohin nur Leute ohne Einſicht, ohne Beobachtungsgeiſt, ohne Geſchmack
gekommen waͤren. Woher koͤmmt es, daß ſo viele Reiſebeſchreiber ſo vieles und ſeit
einer ſo langen Zeit von China berichten, ohne der ſo herrlichen Gaͤrten der Nation
zu erwaͤhnen, und daß man erſt in der letzten Haͤlfte des gegenwaͤrtigen Jahrhunderts
angefangen hat, ſie mit einer Art von Begeiſterung zu ruͤhmen? Vielleicht waren
ſie in den aͤltern Zeiten noch nicht vorhanden, nicht einmal hie und da in einem vor-
bereitenden Anfange vorhanden. Allein in dieſem Jahrhunderte mußten ſie doch da
ſeyn. Es ſollen ja Gaͤrten ſeyn, die bey der Nation gewoͤhnlich, die nicht blos die-
ſem oder jenem Großen eigen ſind, Gaͤrten, welche die Nation ohne Beyhuͤlfe, ohne
Beyſpiel, durch ihr eigenes Genie hervorgebracht hat. Es laͤßt ſich nicht wohl den-
ken, daß ſolche Gaͤrten ſo ganz neu ſeyn oder ſo verborgen liegen ſollten, daß ſie nur
erſt vor etwa dreyßig Jahren von einem Reiſenden haͤtten bemerkt werden koͤnnen.
Wenigſtens ſchon hie und da haͤtten ſie laͤngſt vorhanden ſeyn muͤſſen. Die chineſi-
ſche
Nation iſt unſtreitig keine ſolche, die auf einmal ploͤtzliche Fortg[aͤ]nge in einer

Wiſſen-
*) Recherches philoſophiques ſur les Egyptiens & les Chinois, par Mr. de P. 1773.
Tom. I. Sect. IV.
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[96/0110] Erſter Abſchnitt. Ausſicht in die Gaͤrten Es iſt ausgemacht, daß keine der ſchoͤnen Kuͤnſte bey den Chineſern zur Vollkommenheit emporgeſtiegen iſt. *) Von der Perſpectiv haben ſie nicht den ge- ringſten Begriff. In der Malerey klecken ſie Landſchaften, worin weder Sehepunkt noch Ferne iſt. Die dem Geſicht ſich entfernenden Linien ſind ihnen eben ſo unbekannt, als der Punkt, worin ſie ſich vereinigen muͤſſen, indem ſie nicht die geringſte Kennt- niß von den Regeln haben, denen die Wirkungen des Lichts unterworfen ſind. Mit den Gegenſtellungen oder den großen Maſſen von Schatten ſind ſie, wie man leicht hinzudenken kann, ebenfalls ganz unbekannt. Sie wiſſen nichts von der Kunſt, die Farben zu brechen und zu verſetzen. Sie muͤßten alſo ſehr verlegen ſeyn, wenn ſie den Proſpect eines Gartens vorſtellen ſollten. Ihre Zeichnung iſt, wie man weiß, ſehr ſchlecht. Nicht einmal den Blumen, die doch ſo haͤufig gemalt werden, verſte- hen ſie die Richtigkeit der Zeichnung zu geben. Ihre wilde Einbildungskraft zieht ſie von dem Studium der Natur ab, die eine ruhige und bedaͤchtige Betrachtung er- fordert, wozu die Chineſer ſo wenig, als andere morgenlaͤndiſche Voͤlker, aufge- legt ſind. Schon aus dieſen allgemeinen Bemerkungen wird man eben keine große Er- wartung ſchoͤpfen, daß die ſchoͤne Gartenkunſt von den Chineſern geliebt und mit Gluͤck getrieben werde, vielweniger daß ſie Gaͤrten von ſo vorzuͤglichen Schoͤnheiten beſitzen, wie man uns uͤberreden will. China iſt kein Reich, das erſt ſeit einigen Jahren von den Europaͤern beſucht wurde, oder wohin nur Leute ohne Einſicht, ohne Beobachtungsgeiſt, ohne Geſchmack gekommen waͤren. Woher koͤmmt es, daß ſo viele Reiſebeſchreiber ſo vieles und ſeit einer ſo langen Zeit von China berichten, ohne der ſo herrlichen Gaͤrten der Nation zu erwaͤhnen, und daß man erſt in der letzten Haͤlfte des gegenwaͤrtigen Jahrhunderts angefangen hat, ſie mit einer Art von Begeiſterung zu ruͤhmen? Vielleicht waren ſie in den aͤltern Zeiten noch nicht vorhanden, nicht einmal hie und da in einem vor- bereitenden Anfange vorhanden. Allein in dieſem Jahrhunderte mußten ſie doch da ſeyn. Es ſollen ja Gaͤrten ſeyn, die bey der Nation gewoͤhnlich, die nicht blos die- ſem oder jenem Großen eigen ſind, Gaͤrten, welche die Nation ohne Beyhuͤlfe, ohne Beyſpiel, durch ihr eigenes Genie hervorgebracht hat. Es laͤßt ſich nicht wohl den- ken, daß ſolche Gaͤrten ſo ganz neu ſeyn oder ſo verborgen liegen ſollten, daß ſie nur erſt vor etwa dreyßig Jahren von einem Reiſenden haͤtten bemerkt werden koͤnnen. Wenigſtens ſchon hie und da haͤtten ſie laͤngſt vorhanden ſeyn muͤſſen. Die chineſi- ſche Nation iſt unſtreitig keine ſolche, die auf einmal ploͤtzliche Fortgaͤnge in einer Wiſſen- *) Recherches philoſophiques ſur les Egyptiens & les Chinois, par Mr. de P. 1773. Tom. I. Sect. IV.

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/110>, abgerufen am 25.11.2024.