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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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Schwester und ich, werden, wie ich hoffe,
satt werden, wenn wir Mutterchen essen se-
hen. Diese fußfällige Bitte beantwortete
der Vater mit einem Stoß und dem Aus-
schrey: Comödie! Vortreflich! Madam hat
nicht einst nöthig zu soufliren, brumte er hin-
ter drein. Das arme Weib verlohr über
dieser Geschichte den letzten warmen Tropfen
Fassung, und unserm Jacquchen (ich will ihn
lieber Jacob nennen) spielte der Schlaf den
Streich, daß er kein Auge schliessen konnte.
Die Mutter schluchzte, und der kleine Junge
weinte so bitterlich, so, daß er bis Morgens
um fünfe darüber vergaß, daß er hungrig
war! -- Die Curländerin lebte mit ihren
Kindern von ihrer Hände Arbeit. Das Mäd-
chen muste spinnen und Jacobchen die Wolle
auseinander ziehen. Sie wolte ehr ihren
Ismael und seine Schwester Hungers sterben
sehen, als auf unrechtem Wege Nahrung und
Kleider suchen. Sie erfuhr in Wahrheit,
daß der Mensch nicht vom Brod allein lebe,
sondern vom Worte aus dem Munde Gottes,
vom Bewustseyn recht und richtig zu wan-
deln. Ich war nie böse, sagte sie, allein
mein trauriges Schicksal brachte mich weiter,
ich ward fromm, gut, so wie es Menschen

seyn

Schweſter und ich, werden, wie ich hoffe,
ſatt werden, wenn wir Mutterchen eſſen ſe-
hen. Dieſe fußfaͤllige Bitte beantwortete
der Vater mit einem Stoß und dem Aus-
ſchrey: Comoͤdie! Vortreflich! Madam hat
nicht einſt noͤthig zu ſoufliren, brumte er hin-
ter drein. Das arme Weib verlohr uͤber
dieſer Geſchichte den letzten warmen Tropfen
Faſſung, und unſerm Jacquchen (ich will ihn
lieber Jacob nennen) ſpielte der Schlaf den
Streich, daß er kein Auge ſchlieſſen konnte.
Die Mutter ſchluchzte, und der kleine Junge
weinte ſo bitterlich, ſo, daß er bis Morgens
um fuͤnfe daruͤber vergaß, daß er hungrig
war! — Die Curlaͤnderin lebte mit ihren
Kindern von ihrer Haͤnde Arbeit. Das Maͤd-
chen muſte ſpinnen und Jacobchen die Wolle
auseinander ziehen. Sie wolte ehr ihren
Iſmael und ſeine Schweſter Hungers ſterben
ſehen, als auf unrechtem Wege Nahrung und
Kleider ſuchen. Sie erfuhr in Wahrheit,
daß der Menſch nicht vom Brod allein lebe,
ſondern vom Worte aus dem Munde Gottes,
vom Bewuſtſeyn recht und richtig zu wan-
deln. Ich war nie boͤſe, ſagte ſie, allein
mein trauriges Schickſal brachte mich weiter,
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[118/0124] Schweſter und ich, werden, wie ich hoffe, ſatt werden, wenn wir Mutterchen eſſen ſe- hen. Dieſe fußfaͤllige Bitte beantwortete der Vater mit einem Stoß und dem Aus- ſchrey: Comoͤdie! Vortreflich! Madam hat nicht einſt noͤthig zu ſoufliren, brumte er hin- ter drein. Das arme Weib verlohr uͤber dieſer Geſchichte den letzten warmen Tropfen Faſſung, und unſerm Jacquchen (ich will ihn lieber Jacob nennen) ſpielte der Schlaf den Streich, daß er kein Auge ſchlieſſen konnte. Die Mutter ſchluchzte, und der kleine Junge weinte ſo bitterlich, ſo, daß er bis Morgens um fuͤnfe daruͤber vergaß, daß er hungrig war! — Die Curlaͤnderin lebte mit ihren Kindern von ihrer Haͤnde Arbeit. Das Maͤd- chen muſte ſpinnen und Jacobchen die Wolle auseinander ziehen. Sie wolte ehr ihren Iſmael und ſeine Schweſter Hungers ſterben ſehen, als auf unrechtem Wege Nahrung und Kleider ſuchen. Sie erfuhr in Wahrheit, daß der Menſch nicht vom Brod allein lebe, ſondern vom Worte aus dem Munde Gottes, vom Bewuſtſeyn recht und richtig zu wan- deln. Ich war nie boͤſe, ſagte ſie, allein mein trauriges Schickſal brachte mich weiter, ich ward fromm, gut, ſo wie es Menſchen ſeyn

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/124>, abgerufen am 06.05.2024.