Im Fall er aber blos spaßt, ist er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann, der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge- meinhin, ein Zweifler sey kein Vielwisser; allein er ist es im eigentlichsten Verstande, und es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wis- sen bläset auf. Wer Dinge, die gäng und gäbe sind, beprüft, und keinen Stein auf den andern läßt, ist kein Zweifler, sondern ein Prüfer; im Fall er nemlich aus pro und contra, aus links und rechts, sich etwas auspunktirt, was Stich hält. Solch ein Mann ist nicht aufgeblasen, sondern beschei- den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr- heit und zum Leben. -- Ein Lehrer der Naturphilosophie kann von sich und seinen Jüngern sagen; ich leb', und ihr solt auch leben. -- Wer hat je mit den Pietisten über die Wahrheit der christlichen Religion gestrit- ten? Wer so lebt, als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein- zusprechen. Man ist heut zu Tage von der Naturphilosophie so abgekommen, daß man den, der so lebt, als er lehrt oder glaubt, einen Schwärmer nennt. -- Sehr unrich- tig! --
Meine
P 2
Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann, der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge- meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer; allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ- ſen blaͤſet auf. Wer Dinge, die gaͤng und gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und contra, aus links und rechts, ſich etwas auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei- den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr- heit und zum Leben. — Ein Lehrer der Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen Juͤngern ſagen; ich leb’, und ihr ſolt auch leben. — Wer hat je mit den Pietiſten uͤber die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit- ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein- zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt, einen Schwaͤrmer nennt. — Sehr unrich- tig! —
Meine
P 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0235"n="227"/>
Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein<lb/>
Scheinzweifler, und ein Mann, der alles<lb/>
der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge-<lb/>
meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer;<lb/>
allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und<lb/>
es kann gemeinhin von ihm heißen: <hirendition="#fr">das Wiſ-<lb/>ſen blaͤſet auf.</hi> Wer Dinge, die gaͤng und<lb/>
gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf<lb/>
den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern<lb/>
ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus <hirendition="#aq">pro</hi> und<lb/><hirendition="#aq">contra,</hi> aus links und rechts, ſich etwas<lb/>
auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein<lb/>
Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei-<lb/>
den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den<lb/>
rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr-<lb/>
heit und zum Leben. — Ein Lehrer der<lb/>
Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen<lb/>
Juͤngern ſagen; <hirendition="#fr">ich leb’, und ihr ſolt auch<lb/>
leben.</hi>— Wer hat je mit den Pietiſten uͤber<lb/>
die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit-<lb/>
ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur<lb/>
bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein-<lb/>
zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der<lb/>
Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man<lb/>
den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt,<lb/>
einen Schwaͤrmer nennt. — Sehr unrich-<lb/>
tig! —</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Meine</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[227/0235]
Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein
Scheinzweifler, und ein Mann, der alles
der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge-
meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer;
allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und
es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ-
ſen blaͤſet auf. Wer Dinge, die gaͤng und
gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf
den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern
ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und
contra, aus links und rechts, ſich etwas
auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein
Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei-
den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den
rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr-
heit und zum Leben. — Ein Lehrer der
Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen
Juͤngern ſagen; ich leb’, und ihr ſolt auch
leben. — Wer hat je mit den Pietiſten uͤber
die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit-
ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur
bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein-
zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der
Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man
den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt,
einen Schwaͤrmer nennt. — Sehr unrich-
tig! —
Meine
P 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/235>, abgerufen am 05.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.