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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Im Fall er aber blos spaßt, ist er nur ein
Scheinzweifler, und ein Mann, der alles
der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge-
meinhin, ein Zweifler sey kein Vielwisser;
allein er ist es im eigentlichsten Verstande, und
es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wis-
sen bläset auf.
Wer Dinge, die gäng und
gäbe sind, beprüft, und keinen Stein auf
den andern läßt, ist kein Zweifler, sondern
ein Prüfer; im Fall er nemlich aus pro und
contra, aus links und rechts, sich etwas
auspunktirt, was Stich hält. Solch ein
Mann ist nicht aufgeblasen, sondern beschei-
den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den
rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr-
heit und zum Leben. -- Ein Lehrer der
Naturphilosophie kann von sich und seinen
Jüngern sagen; ich leb', und ihr solt auch
leben.
-- Wer hat je mit den Pietisten über
die Wahrheit der christlichen Religion gestrit-
ten? Wer so lebt, als er lehrt, darf nur
bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein-
zusprechen. Man ist heut zu Tage von der
Naturphilosophie so abgekommen, daß man
den, der so lebt, als er lehrt oder glaubt,
einen Schwärmer nennt. -- Sehr unrich-
tig! --

Meine
P 2

Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein
Scheinzweifler, und ein Mann, der alles
der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge-
meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer;
allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und
es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ-
ſen blaͤſet auf.
Wer Dinge, die gaͤng und
gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf
den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern
ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und
contra, aus links und rechts, ſich etwas
auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein
Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei-
den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den
rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr-
heit und zum Leben. — Ein Lehrer der
Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen
Juͤngern ſagen; ich leb’, und ihr ſolt auch
leben.
— Wer hat je mit den Pietiſten uͤber
die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit-
ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur
bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein-
zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der
Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man
den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt,
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tig! —

Meine
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[227/0235] Im Fall er aber blos ſpaßt, iſt er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann, der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt ge- meinhin, ein Zweifler ſey kein Vielwiſſer; allein er iſt es im eigentlichſten Verſtande, und es kann gemeinhin von ihm heißen: das Wiſ- ſen blaͤſet auf. Wer Dinge, die gaͤng und gaͤbe ſind, bepruͤft, und keinen Stein auf den andern laͤßt, iſt kein Zweifler, ſondern ein Pruͤfer; im Fall er nemlich aus pro und contra, aus links und rechts, ſich etwas auspunktirt, was Stich haͤlt. Solch ein Mann iſt nicht aufgeblaſen, ſondern beſchei- den. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahr- heit und zum Leben. — Ein Lehrer der Naturphiloſophie kann von ſich und ſeinen Juͤngern ſagen; ich leb’, und ihr ſolt auch leben. — Wer hat je mit den Pietiſten uͤber die Wahrheit der chriſtlichen Religion geſtrit- ten? Wer ſo lebt, als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bey ihm ein- zuſprechen. Man iſt heut zu Tage von der Naturphiloſophie ſo abgekommen, daß man den, der ſo lebt, als er lehrt oder glaubt, einen Schwaͤrmer nennt. — Sehr unrich- tig! — Meine P 2

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/235>, abgerufen am 23.11.2024.