Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

selten blieb er die ganze Zeit der Ferien im Dorf,
sondern wanderte ins Gebirge, an das ihn die wach¬
sende Leidenschaft für die Natur fesselte.

Die Jahre gingen ihren einförmigen Gang. Die
Alten welkten langsam, und die Jungen erblühten
rasch. -- Als Clemens einmal wieder um Ostern zu
Marlenen kam und sie vom Spinnrad aufstand,
staunte er, wie stattlich sie sich in der Zeit seit dem
Herbst entfaltet hatte. "Du bist ein Fräulein gewor¬
den," sagte er. "Aber ich bin auch kein Kind mehr.
Fühl nur, wie mir der Bart gewachsen ist über dem
winterlangen Studiren." Sie erröthete flüchtig, als
er ihre Hand ergriff und an sein Kinn führte, daß
sie den zarten Flaum fühlen sollte. Er hatte ihr
auch schon Anderes zu erzählen, als in der ersten
Zeit. Der Lehrer, bei dem er wohnte, hatte Töchter
und diese Töchter Freundinnen. Die mußte er ihr
alle aufs genaueste beschreiben. "Ich mache mir
nichts aus den Mädchen. Sie sind albern und eitel,
und schwatzen so viel. Eine ist da, Cäcilie, die mag
ich noch am besten leiden, weil sie wenig spricht und
keine Gesichter schneidet, um schön zu sein. Aber
was gehn sie mich Alle an? Neulich, wie ich Abends
in mein Zimmer komme, find' ich einen Blumenstrauß
auf dem Tisch. Ich ließ ihn so liegen und stellt'
ihn nicht einmal ins Wasser, obwohl mich die Blu¬
men dauerten, denn es verdroß mich; und andern

ſelten blieb er die ganze Zeit der Ferien im Dorf,
ſondern wanderte ins Gebirge, an das ihn die wach¬
ſende Leidenſchaft für die Natur feſſelte.

Die Jahre gingen ihren einförmigen Gang. Die
Alten welkten langſam, und die Jungen erblühten
raſch. — Als Clemens einmal wieder um Oſtern zu
Marlenen kam und ſie vom Spinnrad aufſtand,
ſtaunte er, wie ſtattlich ſie ſich in der Zeit ſeit dem
Herbſt entfaltet hatte. „Du biſt ein Fräulein gewor¬
den,“ ſagte er. „Aber ich bin auch kein Kind mehr.
Fühl nur, wie mir der Bart gewachſen iſt über dem
winterlangen Studiren.“ Sie erröthete flüchtig, als
er ihre Hand ergriff und an ſein Kinn führte, daß
ſie den zarten Flaum fühlen ſollte. Er hatte ihr
auch ſchon Anderes zu erzählen, als in der erſten
Zeit. Der Lehrer, bei dem er wohnte, hatte Töchter
und dieſe Töchter Freundinnen. Die mußte er ihr
alle aufs genaueſte beſchreiben. „Ich mache mir
nichts aus den Mädchen. Sie ſind albern und eitel,
und ſchwatzen ſo viel. Eine iſt da, Cäcilie, die mag
ich noch am beſten leiden, weil ſie wenig ſpricht und
keine Geſichter ſchneidet, um ſchön zu ſein. Aber
was gehn ſie mich Alle an? Neulich, wie ich Abends
in mein Zimmer komme, find' ich einen Blumenſtrauß
auf dem Tiſch. Ich ließ ihn ſo liegen und ſtellt'
ihn nicht einmal ins Waſſer, obwohl mich die Blu¬
men dauerten, denn es verdroß mich; und andern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0050" n="38"/>
&#x017F;elten blieb er die ganze Zeit der Ferien im Dorf,<lb/>
&#x017F;ondern wanderte ins Gebirge, an das ihn die wach¬<lb/>
&#x017F;ende Leiden&#x017F;chaft für die Natur fe&#x017F;&#x017F;elte.</p><lb/>
          <p>Die Jahre gingen ihren einförmigen Gang. Die<lb/>
Alten welkten lang&#x017F;am, und die Jungen erblühten<lb/>
ra&#x017F;ch. &#x2014; Als Clemens einmal wieder um O&#x017F;tern zu<lb/>
Marlenen kam und &#x017F;ie vom Spinnrad auf&#x017F;tand,<lb/>
&#x017F;taunte er, wie &#x017F;tattlich &#x017F;ie &#x017F;ich in der Zeit &#x017F;eit dem<lb/>
Herb&#x017F;t entfaltet hatte. &#x201E;Du bi&#x017F;t ein Fräulein gewor¬<lb/>
den,&#x201C; &#x017F;agte er. &#x201E;Aber ich bin auch kein Kind mehr.<lb/>
Fühl nur, wie mir der Bart gewach&#x017F;en i&#x017F;t über dem<lb/>
winterlangen Studiren.&#x201C; Sie erröthete flüchtig, als<lb/>
er ihre Hand ergriff und an &#x017F;ein Kinn führte, daß<lb/>
&#x017F;ie den zarten Flaum fühlen &#x017F;ollte. Er hatte ihr<lb/>
auch &#x017F;chon Anderes zu erzählen, als in der er&#x017F;ten<lb/>
Zeit. Der Lehrer, bei dem er wohnte, hatte Töchter<lb/>
und die&#x017F;e Töchter Freundinnen. Die mußte er ihr<lb/>
alle aufs genaue&#x017F;te be&#x017F;chreiben. &#x201E;Ich mache mir<lb/>
nichts aus den Mädchen. Sie &#x017F;ind albern und eitel,<lb/>
und &#x017F;chwatzen &#x017F;o viel. Eine i&#x017F;t da, Cäcilie, die mag<lb/>
ich noch am be&#x017F;ten leiden, weil &#x017F;ie wenig &#x017F;pricht und<lb/>
keine Ge&#x017F;ichter &#x017F;chneidet, um &#x017F;chön zu &#x017F;ein. Aber<lb/>
was gehn &#x017F;ie mich Alle an? Neulich, wie ich Abends<lb/>
in mein Zimmer komme, find' ich einen Blumen&#x017F;trauß<lb/>
auf dem Ti&#x017F;ch. Ich ließ ihn &#x017F;o liegen und &#x017F;tellt'<lb/>
ihn nicht einmal ins Wa&#x017F;&#x017F;er, obwohl mich die Blu¬<lb/>
men dauerten, denn es verdroß mich; und andern<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0050] ſelten blieb er die ganze Zeit der Ferien im Dorf, ſondern wanderte ins Gebirge, an das ihn die wach¬ ſende Leidenſchaft für die Natur feſſelte. Die Jahre gingen ihren einförmigen Gang. Die Alten welkten langſam, und die Jungen erblühten raſch. — Als Clemens einmal wieder um Oſtern zu Marlenen kam und ſie vom Spinnrad aufſtand, ſtaunte er, wie ſtattlich ſie ſich in der Zeit ſeit dem Herbſt entfaltet hatte. „Du biſt ein Fräulein gewor¬ den,“ ſagte er. „Aber ich bin auch kein Kind mehr. Fühl nur, wie mir der Bart gewachſen iſt über dem winterlangen Studiren.“ Sie erröthete flüchtig, als er ihre Hand ergriff und an ſein Kinn führte, daß ſie den zarten Flaum fühlen ſollte. Er hatte ihr auch ſchon Anderes zu erzählen, als in der erſten Zeit. Der Lehrer, bei dem er wohnte, hatte Töchter und dieſe Töchter Freundinnen. Die mußte er ihr alle aufs genaueſte beſchreiben. „Ich mache mir nichts aus den Mädchen. Sie ſind albern und eitel, und ſchwatzen ſo viel. Eine iſt da, Cäcilie, die mag ich noch am beſten leiden, weil ſie wenig ſpricht und keine Geſichter ſchneidet, um ſchön zu ſein. Aber was gehn ſie mich Alle an? Neulich, wie ich Abends in mein Zimmer komme, find' ich einen Blumenſtrauß auf dem Tiſch. Ich ließ ihn ſo liegen und ſtellt' ihn nicht einmal ins Waſſer, obwohl mich die Blu¬ men dauerten, denn es verdroß mich; und andern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/50
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/50>, abgerufen am 29.03.2024.