mens schmerzlich empfand. Und als er endlich nach der Stadt in die Schule sollte, vermochte sie's, ge¬ faßter als die Andern ihm Lebewohl zu sagen. Sie ging dann freilich wochenlang wie im Traum umher, als sei die beste Hälfte ihres Wesens von ihr geschie¬ den. Bald aber war sie heiter wie sonst, sang ihre Lieblingslieder vor sich hin und scherzte mit dem Va¬ ter, bis sie ihm ein Lachen abgewann. Wenn die Pfarrerin herüberkam mit Briefen aus der Stadt und ihr Nachrichten und Grüße von Clemens vorlas, schlug ihr heimlich das Herz und sie lag länger als sonst des Abends im Bett, ohne daß der Schlaf kommen wollte. Am andern Morgen war sie hellen Sinnes, wie immer.
In den Ferien kam Clemens zu den Eltern zurück, und sein erster Gang war dann ins Küsterhaus. Marlene unterschied seinen Schritt schon aus der Ferne, blieb still wo sie war und horchte, ob er nach ihr fragen würde. Sie strich hastig mit den Händ¬ chen ihr Haar ein wenig glatt, das noch immer in Zöpfchen über den schlanken Nacken hing und stand auf von ihrer Arbeit. Trat er dann an die Thür, so war jede Spur von Aufregung aus ihrem Gesicht verschwunden. Heiter gab sie ihm die Hand und bat ihn, sich zu ihr zu setzen und ihr zu erzählen. Da vergaß er denn die Zeit und mußte von der Mutter geholt werden, die anfing mit ihm zu geizen. Denn
mens ſchmerzlich empfand. Und als er endlich nach der Stadt in die Schule ſollte, vermochte ſie's, ge¬ faßter als die Andern ihm Lebewohl zu ſagen. Sie ging dann freilich wochenlang wie im Traum umher, als ſei die beſte Hälfte ihres Weſens von ihr geſchie¬ den. Bald aber war ſie heiter wie ſonſt, ſang ihre Lieblingslieder vor ſich hin und ſcherzte mit dem Va¬ ter, bis ſie ihm ein Lachen abgewann. Wenn die Pfarrerin herüberkam mit Briefen aus der Stadt und ihr Nachrichten und Grüße von Clemens vorlas, ſchlug ihr heimlich das Herz und ſie lag länger als ſonſt des Abends im Bett, ohne daß der Schlaf kommen wollte. Am andern Morgen war ſie hellen Sinnes, wie immer.
In den Ferien kam Clemens zu den Eltern zurück, und ſein erſter Gang war dann ins Küſterhaus. Marlene unterſchied ſeinen Schritt ſchon aus der Ferne, blieb ſtill wo ſie war und horchte, ob er nach ihr fragen würde. Sie ſtrich haſtig mit den Händ¬ chen ihr Haar ein wenig glatt, das noch immer in Zöpfchen über den ſchlanken Nacken hing und ſtand auf von ihrer Arbeit. Trat er dann an die Thür, ſo war jede Spur von Aufregung aus ihrem Geſicht verſchwunden. Heiter gab ſie ihm die Hand und bat ihn, ſich zu ihr zu ſetzen und ihr zu erzählen. Da vergaß er denn die Zeit und mußte von der Mutter geholt werden, die anfing mit ihm zu geizen. Denn
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mens ſchmerzlich empfand. Und als er endlich nach
der Stadt in die Schule ſollte, vermochte ſie's, ge¬
faßter als die Andern ihm Lebewohl zu ſagen. Sie
ging dann freilich wochenlang wie im Traum umher,
als ſei die beſte Hälfte ihres Weſens von ihr geſchie¬
den. Bald aber war ſie heiter wie ſonſt, ſang ihre
Lieblingslieder vor ſich hin und ſcherzte mit dem Va¬
ter, bis ſie ihm ein Lachen abgewann. Wenn die
Pfarrerin herüberkam mit Briefen aus der Stadt
und ihr Nachrichten und Grüße von Clemens vorlas,
ſchlug ihr heimlich das Herz und ſie lag länger als
ſonſt des Abends im Bett, ohne daß der Schlaf
kommen wollte. Am andern Morgen war ſie hellen
Sinnes, wie immer.
In den Ferien kam Clemens zu den Eltern zurück,
und ſein erſter Gang war dann ins Küſterhaus.
Marlene unterſchied ſeinen Schritt ſchon aus der
Ferne, blieb ſtill wo ſie war und horchte, ob er nach
ihr fragen würde. Sie ſtrich haſtig mit den Händ¬
chen ihr Haar ein wenig glatt, das noch immer in
Zöpfchen über den ſchlanken Nacken hing und ſtand
auf von ihrer Arbeit. Trat er dann an die Thür,
ſo war jede Spur von Aufregung aus ihrem Geſicht
verſchwunden. Heiter gab ſie ihm die Hand und bat
ihn, ſich zu ihr zu ſetzen und ihr zu erzählen. Da
vergaß er denn die Zeit und mußte von der Mutter
geholt werden, die anfing mit ihm zu geizen. Denn
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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/49>, abgerufen am 04.07.2024.
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