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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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Die spiritualistische Physiologie behauptet also, daß das
Eigenlicht der Netzhaut zwar an der Stelle des Nachbildes in
Folge der Ermüdung schwächer, daß es aber in der unmittel-
baren Umgebung durchaus nicht heller sei, als auf der übrigen
Netzhaut, daß wir vielmehr nur urtheilen, es sei in der Nähe
des Nachbildes heller, weil letzteres dunkler ist, als der Grund
im Allgemeinen. Warum wir aber so urtheilen, wird nicht weiter
erklärt, denn die Contrasterscheinungen sind eben eine Eigen-
thümlichkeit des menschlichen Geistes.

Wenn ich nun auch überzeugt war, daß der beschriebene
Lichthof ebenso wie zahllose andere Contrasterscheinungen in
einer geänderten Thätigkeit der betroffenen Netzhautstelle be-
gründet sei, so schien es mir doch immer sehr schwer, die An-
hänger der spiritualistischen Theorie zu meiner Ansicht zu be-
kehren, weil ich mir sagen mußte, daß wer sich durch Erklä-
rungen, wie die oben angeführte, überhaupt befriedigt findet,
auch um spiritualistische Hilfssätze nie verlegen sein wird, wenn
der Hauptsatz Einwendungen erfährt; denn schließlich läßt sich
jedes Sinnesphänomen in allen seinen Einzelheiten aus der Eigen-
thümlichkeit des menschlichen Geistes ableiten mit demselben
Rechte oder Unrechte, mit welchem man jede beliebige Natur-
erscheinung aus der Allmacht des Schöpfers erklären kann. Ich
bemühte mich daher, für meine eigene Ansicht entscheidende
experimentelle Beweise beizubringen, d. h. für die blosse An-
schauung und ohne irgend welchen Appell an das physiologische
Gewissen des Experimentirenden den Beweis zu erbringen, daß
der lichte Hof um ein dunkleres Nachbild in einer gesteigerten
Entwickelung des sogenannten Eigenlichtes der betroffenen Netz-
hautstellen, also wirklich physiologisch begründet sei.

Unter Netzhaut oder Netzhautstelle möchte ich hier, wie in dieser
Abhandlung überhaupt, nicht blos die im Augapfel selbst gelegenen Theile
des nervösen Sehapparates, sondern auch die mit der eigentlichen Netzhaut
in näherer Verbindung stehenden Nervenfasern und Hirntheile verstanden
wissen, soweit nämlich dieselben beim Zustandekommen einer Lichtempfin-
dung mit betheiligt sind. Wir wissen bis jetzt noch nichts Sicheres über
den Ort des psychophysischen Processes, an welchen die Lichtempfindung
unmittelbar geknüpft ist. Wenn ich daher von Reaction oder veränderter
Thätigkeit einer Netzhautstelle spreche, müßte ich, um nichts zu präjudi-
ciren, eigentlich jedesmal hinzufügen: "Beziehentlich derjenigen
Opticusfasern und Hirntheile, welche beim Zustandekommen

Die spiritualistische Physiologie behauptet also, daß das
Eigenlicht der Netzhaut zwar an der Stelle des Nachbildes in
Folge der Ermüdung schwächer, daß es aber in der unmittel-
baren Umgebung durchaus nicht heller sei, als auf der übrigen
Netzhaut, daß wir vielmehr nur urtheilen, es sei in der Nähe
des Nachbildes heller, weil letzteres dunkler ist, als der Grund
im Allgemeinen. Warum wir aber so urtheilen, wird nicht weiter
erklärt, denn die Contrasterscheinungen sind eben eine Eigen-
thümlichkeit des menschlichen Geistes.

Wenn ich nun auch überzeugt war, daß der beschriebene
Lichthof ebenso wie zahllose andere Contrasterscheinungen in
einer geänderten Thätigkeit der betroffenen Netzhautstelle be-
gründet sei, so schien es mir doch immer sehr schwer, die An-
hänger der spiritualistischen Theorie zu meiner Ansicht zu be-
kehren, weil ich mir sagen mußte, daß wer sich durch Erklä-
rungen, wie die oben angeführte, überhaupt befriedigt findet,
auch um spiritualistische Hilfssätze nie verlegen sein wird, wenn
der Hauptsatz Einwendungen erfährt; denn schließlich läßt sich
jedes Sinnesphänomen in allen seinen Einzelheiten aus der Eigen-
thümlichkeit des menschlichen Geistes ableiten mit demselben
Rechte oder Unrechte, mit welchem man jede beliebige Natur-
erscheinung aus der Allmacht des Schöpfers erklären kann. Ich
bemühte mich daher, für meine eigene Ansicht entscheidende
experimentelle Beweise beizubringen, d. h. für die blosse An-
schauung und ohne irgend welchen Appell an das physiologische
Gewissen des Experimentirenden den Beweis zu erbringen, daß
der lichte Hof um ein dunkleres Nachbild in einer gesteigerten
Entwickelung des sogenannten Eigenlichtes der betroffenen Netz-
hautstellen, also wirklich physiologisch begründet sei.

Unter Netzhaut oder Netzhautstelle möchte ich hier, wie in dieser
Abhandlung überhaupt, nicht blos die im Augapfel selbst gelegenen Theile
des nervösen Sehapparates, sondern auch die mit der eigentlichen Netzhaut
in näherer Verbindung stehenden Nervenfasern und Hirntheile verstanden
wissen, soweit nämlich dieselben beim Zustandekommen einer Lichtempfin-
dung mit betheiligt sind. Wir wissen bis jetzt noch nichts Sicheres über
den Ort des psychophysischen Processes, an welchen die Lichtempfindung
unmittelbar geknüpft ist. Wenn ich daher von Reaction oder veränderter
Thätigkeit einer Netzhautstelle spreche, müßte ich, um nichts zu präjudi-
ciren, eigentlich jedesmal hinzufügen: „Beziehentlich derjenigen
Opticusfasern und Hirntheile, welche beim Zustandekommen

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[8/0016] Die spiritualistische Physiologie behauptet also, daß das Eigenlicht der Netzhaut zwar an der Stelle des Nachbildes in Folge der Ermüdung schwächer, daß es aber in der unmittel- baren Umgebung durchaus nicht heller sei, als auf der übrigen Netzhaut, daß wir vielmehr nur urtheilen, es sei in der Nähe des Nachbildes heller, weil letzteres dunkler ist, als der Grund im Allgemeinen. Warum wir aber so urtheilen, wird nicht weiter erklärt, denn die Contrasterscheinungen sind eben eine Eigen- thümlichkeit des menschlichen Geistes. Wenn ich nun auch überzeugt war, daß der beschriebene Lichthof ebenso wie zahllose andere Contrasterscheinungen in einer geänderten Thätigkeit der betroffenen Netzhautstelle be- gründet sei, so schien es mir doch immer sehr schwer, die An- hänger der spiritualistischen Theorie zu meiner Ansicht zu be- kehren, weil ich mir sagen mußte, daß wer sich durch Erklä- rungen, wie die oben angeführte, überhaupt befriedigt findet, auch um spiritualistische Hilfssätze nie verlegen sein wird, wenn der Hauptsatz Einwendungen erfährt; denn schließlich läßt sich jedes Sinnesphänomen in allen seinen Einzelheiten aus der Eigen- thümlichkeit des menschlichen Geistes ableiten mit demselben Rechte oder Unrechte, mit welchem man jede beliebige Natur- erscheinung aus der Allmacht des Schöpfers erklären kann. Ich bemühte mich daher, für meine eigene Ansicht entscheidende experimentelle Beweise beizubringen, d. h. für die blosse An- schauung und ohne irgend welchen Appell an das physiologische Gewissen des Experimentirenden den Beweis zu erbringen, daß der lichte Hof um ein dunkleres Nachbild in einer gesteigerten Entwickelung des sogenannten Eigenlichtes der betroffenen Netz- hautstellen, also wirklich physiologisch begründet sei. Unter Netzhaut oder Netzhautstelle möchte ich hier, wie in dieser Abhandlung überhaupt, nicht blos die im Augapfel selbst gelegenen Theile des nervösen Sehapparates, sondern auch die mit der eigentlichen Netzhaut in näherer Verbindung stehenden Nervenfasern und Hirntheile verstanden wissen, soweit nämlich dieselben beim Zustandekommen einer Lichtempfin- dung mit betheiligt sind. Wir wissen bis jetzt noch nichts Sicheres über den Ort des psychophysischen Processes, an welchen die Lichtempfindung unmittelbar geknüpft ist. Wenn ich daher von Reaction oder veränderter Thätigkeit einer Netzhautstelle spreche, müßte ich, um nichts zu präjudi- ciren, eigentlich jedesmal hinzufügen: „Beziehentlich derjenigen Opticusfasern und Hirntheile, welche beim Zustandekommen

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/16>, abgerufen am 24.04.2024.