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Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878.

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zunächst mehrere Erklärungen denkbar waren, und daß die Ent-
scheidung über die richtige späteren Detailuntersuchungen vor-
behalten werden mußte. Hierin wird man vielleicht einen
Mangel der Theorie sehen, aber ganz mit Unrecht. Denn dieser
scheinbare Mangel ist durchaus im Wesen der Sache begründet
und vielmehr ein Vorzug der neuen Theorie, insofern als jede
Theorie, die weniger Variable einführt, als zur Erklärung aller
Erscheinungen nöthig sind, zwar den scheinbaren Vorzug größerer
Einfachheit, aber den wirklichen Nachtheil der Unzulänglich-
keit hat.

Was wir in einer Gesichtsempfindung unmittelbar auffassen,
ist das Verhältniß der entsprechenden D- und A-Processe
zu einander, denn durch dieses ist die Qualität der Empfin-
dung bedingt. Die Veränderung der Empfindung gibt uns also
auch zunächst nur Aufschluß über die Veränderung jenes Ver-
hältnisses, nicht aber über die absoluten Veränderungen der ein-
zelnen Glieder jenes Verhältnisses. So kommt es, daß man bei
der Erklärung so oft zunächst die Wahl hat zwischen einer
Steigerung der Assimilirung und einer Hemmung oder Minderung
der Dissimilirung und umgekehrt. Aber die Theorie gibt selbst
Mittel und Wege in die Hand, durch eingehendere Untersuchungen
auch die Veränderungen der einzelnen Glieder jenes Verhält-
nisses festzustellen. Infolge dessen vermag man dann mit Hilfe
dieser Theorie auch Einzelheiten zu erklären, die den bisherigen
Theorien ganz unzugänglich waren.

Derartige Untersuchungen aber sind, sobald man durch sie
über die Hauptphänomene hinaus zu den feineren Einzelheiten
vorzudringen sucht, sehr zeitraubend, weil die Stimmung des
Sehorganes eine so sehr labile und die Beleuchtung eine so va-
riable ist, daher es schwer wird, oft hintereinander immer wieder
dieselben Versuchsbedingungen herbeizuführen.

Obgleich ich selbst sehr gut weiß, wie viel hier noch zu
thun ist, habe ich es doch für zweckmäßig gehalten, stellenweise
schon hier die Erklärung des Details zu versuchen, nur um zu
zeigen, daß und wie sie möglich ist. Wenn ich hiebei einige-
male besondere Annahmen machen mußte, so waren dies doch,
worauf ich Gewicht lege, keine von außen hergeholten Hilfshypo-

zunächst mehrere Erklärungen denkbar waren, und daß die Ent-
scheidung über die richtige späteren Detailuntersuchungen vor-
behalten werden mußte. Hierin wird man vielleicht einen
Mangel der Theorie sehen, aber ganz mit Unrecht. Denn dieser
scheinbare Mangel ist durchaus im Wesen der Sache begründet
und vielmehr ein Vorzug der neuen Theorie, insofern als jede
Theorie, die weniger Variable einführt, als zur Erklärung aller
Erscheinungen nöthig sind, zwar den scheinbaren Vorzug größerer
Einfachheit, aber den wirklichen Nachtheil der Unzulänglich-
keit hat.

Was wir in einer Gesichtsempfindung unmittelbar auffassen,
ist das Verhältniß der entsprechenden D- und A-Processe
zu einander, denn durch dieses ist die Qualität der Empfin-
dung bedingt. Die Veränderung der Empfindung gibt uns also
auch zunächst nur Aufschluß über die Veränderung jenes Ver-
hältnisses, nicht aber über die absoluten Veränderungen der ein-
zelnen Glieder jenes Verhältnisses. So kommt es, daß man bei
der Erklärung so oft zunächst die Wahl hat zwischen einer
Steigerung der Assimilirung und einer Hemmung oder Minderung
der Dissimilirung und umgekehrt. Aber die Theorie gibt selbst
Mittel und Wege in die Hand, durch eingehendere Untersuchungen
auch die Veränderungen der einzelnen Glieder jenes Verhält-
nisses festzustellen. Infolge dessen vermag man dann mit Hilfe
dieser Theorie auch Einzelheiten zu erklären, die den bisherigen
Theorien ganz unzugänglich waren.

Derartige Untersuchungen aber sind, sobald man durch sie
über die Hauptphänomene hinaus zu den feineren Einzelheiten
vorzudringen sucht, sehr zeitraubend, weil die Stimmung des
Sehorganes eine so sehr labile und die Beleuchtung eine so va-
riable ist, daher es schwer wird, oft hintereinander immer wieder
dieselben Versuchsbedingungen herbeizuführen.

Obgleich ich selbst sehr gut weiß, wie viel hier noch zu
thun ist, habe ich es doch für zweckmäßig gehalten, stellenweise
schon hier die Erklärung des Details zu versuchen, nur um zu
zeigen, daß und wie sie möglich ist. Wenn ich hiebei einige-
male besondere Annahmen machen mußte, so waren dies doch,
worauf ich Gewicht lege, keine von außen hergeholten Hilfshypo-

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[140/0148] zunächst mehrere Erklärungen denkbar waren, und daß die Ent- scheidung über die richtige späteren Detailuntersuchungen vor- behalten werden mußte. Hierin wird man vielleicht einen Mangel der Theorie sehen, aber ganz mit Unrecht. Denn dieser scheinbare Mangel ist durchaus im Wesen der Sache begründet und vielmehr ein Vorzug der neuen Theorie, insofern als jede Theorie, die weniger Variable einführt, als zur Erklärung aller Erscheinungen nöthig sind, zwar den scheinbaren Vorzug größerer Einfachheit, aber den wirklichen Nachtheil der Unzulänglich- keit hat. Was wir in einer Gesichtsempfindung unmittelbar auffassen, ist das Verhältniß der entsprechenden D- und A-Processe zu einander, denn durch dieses ist die Qualität der Empfin- dung bedingt. Die Veränderung der Empfindung gibt uns also auch zunächst nur Aufschluß über die Veränderung jenes Ver- hältnisses, nicht aber über die absoluten Veränderungen der ein- zelnen Glieder jenes Verhältnisses. So kommt es, daß man bei der Erklärung so oft zunächst die Wahl hat zwischen einer Steigerung der Assimilirung und einer Hemmung oder Minderung der Dissimilirung und umgekehrt. Aber die Theorie gibt selbst Mittel und Wege in die Hand, durch eingehendere Untersuchungen auch die Veränderungen der einzelnen Glieder jenes Verhält- nisses festzustellen. Infolge dessen vermag man dann mit Hilfe dieser Theorie auch Einzelheiten zu erklären, die den bisherigen Theorien ganz unzugänglich waren. Derartige Untersuchungen aber sind, sobald man durch sie über die Hauptphänomene hinaus zu den feineren Einzelheiten vorzudringen sucht, sehr zeitraubend, weil die Stimmung des Sehorganes eine so sehr labile und die Beleuchtung eine so va- riable ist, daher es schwer wird, oft hintereinander immer wieder dieselben Versuchsbedingungen herbeizuführen. Obgleich ich selbst sehr gut weiß, wie viel hier noch zu thun ist, habe ich es doch für zweckmäßig gehalten, stellenweise schon hier die Erklärung des Details zu versuchen, nur um zu zeigen, daß und wie sie möglich ist. Wenn ich hiebei einige- male besondere Annahmen machen mußte, so waren dies doch, worauf ich Gewicht lege, keine von außen hergeholten Hilfshypo-

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Zitationshilfe: Hering, Ewald: Zur Lehre vom Lichtsinne. Zweiter, unveränderter Abdruck. Wien, 1878, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hering_lichtsinn_1878/148>, abgerufen am 22.11.2024.