dem Künstler: denn ohne sie war kein Liebhaber, kein Künstler. Der elende Tropf, der vorm Mo- dell sitzt und alles platt und flach siehet, der Arme, der vor der lebenden Person steht und nur ein Far- benbrett an ihr gewahr wird, sind Klecker, nicht Künstler. Sollen die Figuren von der Leinwand vortreten, wachsen, sich beseelen, sprechen, han- deln; gewiß so musten sie dem Künstler auch so erscheinen und von ihm gefühlt seyn. Phidias, der den Donnergott bildete, als er im Homer las und vom Haupte Jupiters, von seiner fallenden Locke ihm Kraft herabsank, dem Gotte näher zu treten und ihn zu umfangen in Majestät und Liebe: Apollonius Nestorides, der den Herkules mach- te und den Riesenbezwinger in Brust, in Hüften, in Armen, im ganzen Körper fühlte: Agasias, als er den Fechter schuf und in allen Sehnen ihn tastete und in allen Kräften ihn hingab; wenn diese nicht begeistert sprechen dorften, wer darfs denn? Sie sprachen durch ihr Werk und schwiegen: der Liebhaber fühlt, schafft ihnen nach und stammlet im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er- greifet. -- Ueberhaupt, je näher wir einem Ge- genstande kommen, desto lebendiger wird unsre Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her fühlen, desto beschwerlicher wird uns der trennen- de Raum, desto mehr wollen wir zu ihm. Wehe dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe seine Ge-
liebte
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dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber, kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo- dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme, der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far- benbrett an ihr gewahr wird, ſind Klecker, nicht Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han- deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias, der den Donnergott bildete, als er im Homer las und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe: Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach- te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften, in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias, als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn? Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er- greifet. — Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge- genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre Sprache, und je lebendiger wir ihn von fern her fuͤhlen, deſto beſchwerlicher wird uns der trennen- de Raum, deſto mehr wollen wir zu ihm. Wehe dem Liebhaber, der in behaglicher Ruhe ſeine Ge-
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dem Kuͤnſtler: denn ohne ſie war kein Liebhaber,
kein Kuͤnſtler. Der elende Tropf, der vorm Mo-
dell ſitzt und alles platt und flach ſiehet, der Arme,
der vor der lebenden Perſon ſteht und nur ein Far-
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Kuͤnſtler. Sollen die Figuren von der Leinwand
vortreten, wachſen, ſich beſeelen, ſprechen, han-
deln; gewiß ſo muſten ſie dem Kuͤnſtler auch ſo
erſcheinen und von ihm gefuͤhlt ſeyn. Phidias,
der den Donnergott bildete, als er im Homer las
und vom Haupte Jupiters, von ſeiner fallenden
Locke ihm Kraft herabſank, dem Gotte naͤher zu
treten und ihn zu umfangen in Majeſtaͤt und Liebe:
Apollonius Neſtorides, der den Herkules mach-
te und den Rieſenbezwinger in Bruſt, in Huͤften,
in Armen, im ganzen Koͤrper fuͤhlte: Agaſias,
als er den Fechter ſchuf und in allen Sehnen ihn
taſtete und in allen Kraͤften ihn hingab; wenn dieſe
nicht begeiſtert ſprechen dorften, wer darfs denn?
Sie ſprachen durch ihr Werk und ſchwiegen: der
Liebhaber fuͤhlt, ſchafft ihnen nach und ſtammlet
im Umfang, im Meere von Leben, was ihn er-
greifet. — Ueberhaupt, je naͤher wir einem Ge-
genſtande kommen, deſto lebendiger wird unſre
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/24>, abgerufen am 05.07.2024.
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