Tafel. Aus dem Schlafe fahrend, ehe wir unser Urtheil sammeln, ist uns in der Dämmerung der Nacht, Wald und Baum, Nah und Fernes auf Einem Grunde: nahe Riesen, oder entfernte Zwer- ge, und sich auf uns bewegende Gespenster, bis wir aufwachen und unser Urtheil sammeln. So- dann sehen wir erst, wie wir durch Gewohnheit, aus andern Sinnen, und insonderheit durchs tastende Gefühl sehen lernten. Ein Körper, den wir nie durchs Gefühl als Körper erkannt hätten, oder auf dessen Leibhaftigkeit wir nicht durch bloße Aehnlichkeit schließen, bliebe uns ewig eine Hand- habe Saturns, eine Binde Jupiters, d. i. Phä- nomenon, Erscheinung. Der Ophthalmit mit tausend Augen, ohne Gefühl, ohne tastende Hand, bliebe Zeitlebens in Platons Höle, und hätte von keiner einzigen Körpereigenschaft, als solcher, eigentlichen Begriff.
Denn alle Eigenschaften der Körper, was sind sie, als Beziehungen derselben auf unsern Kör- per, auf unser Gefühl? Was Undurchdringlich- keit, Härte, Weichheit, Glätte, Form, Gestalt, Rundheit sei? davon kann mir so wenig mein Auge durchs Licht, als meine Seele durch selbst- ständig Denken einen leibhaften, lebendigen Be- griff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fisch hat ihn nicht; der Mensch hat ihn, weil er nebst seiner Vernunft auch die umfassende, tastende
Hand
Tafel. Aus dem Schlafe fahrend, ehe wir unſer Urtheil ſammeln, iſt uns in der Daͤmmerung der Nacht, Wald und Baum, Nah und Fernes auf Einem Grunde: nahe Rieſen, oder entfernte Zwer- ge, und ſich auf uns bewegende Geſpenſter, bis wir aufwachen und unſer Urtheil ſammeln. So- dann ſehen wir erſt, wie wir durch Gewohnheit, aus andern Sinnen, und inſonderheit durchs taſtende Gefuͤhl ſehen lernten. Ein Koͤrper, den wir nie durchs Gefuͤhl als Koͤrper erkannt haͤtten, oder auf deſſen Leibhaftigkeit wir nicht durch bloße Aehnlichkeit ſchließen, bliebe uns ewig eine Hand- habe Saturns, eine Binde Jupiters, d. i. Phaͤ- nomenon, Erſcheinung. Der Ophthalmit mit tauſend Augen, ohne Gefuͤhl, ohne taſtende Hand, bliebe Zeitlebens in Platons Hoͤle, und haͤtte von keiner einzigen Koͤrpereigenſchaft, als ſolcher, eigentlichen Begriff.
Denn alle Eigenſchaften der Koͤrper, was ſind ſie, als Beziehungen derſelben auf unſern Koͤr- per, auf unſer Gefuͤhl? Was Undurchdringlich- keit, Haͤrte, Weichheit, Glaͤtte, Form, Geſtalt, Rundheit ſei? davon kann mir ſo wenig mein Auge durchs Licht, als meine Seele durch ſelbſt- ſtaͤndig Denken einen leibhaften, lebendigen Be- griff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fiſch hat ihn nicht; der Menſch hat ihn, weil er nebſt ſeiner Vernunft auch die umfaſſende, taſtende
Hand
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Tafel. Aus dem Schlafe fahrend, ehe wir unſer
Urtheil ſammeln, iſt uns in der Daͤmmerung der
Nacht, Wald und Baum, Nah und Fernes auf
Einem Grunde: nahe Rieſen, oder entfernte Zwer-
ge, und ſich auf uns bewegende Geſpenſter, bis
wir aufwachen und unſer Urtheil ſammeln. So-
dann ſehen wir erſt, wie wir durch Gewohnheit,
aus andern Sinnen, und inſonderheit durchs
taſtende Gefuͤhl ſehen lernten. Ein Koͤrper, den
wir nie durchs Gefuͤhl als Koͤrper erkannt haͤtten,
oder auf deſſen Leibhaftigkeit wir nicht durch bloße
Aehnlichkeit ſchließen, bliebe uns ewig eine Hand-
habe Saturns, eine Binde Jupiters, d. i. Phaͤ-
nomenon, Erſcheinung. Der Ophthalmit mit
tauſend Augen, ohne Gefuͤhl, ohne taſtende Hand,
bliebe Zeitlebens in Platons Hoͤle, und haͤtte von
keiner einzigen Koͤrpereigenſchaft, als ſolcher,
eigentlichen Begriff.
Denn alle Eigenſchaften der Koͤrper, was
ſind ſie, als Beziehungen derſelben auf unſern Koͤr-
per, auf unſer Gefuͤhl? Was Undurchdringlich-
keit, Haͤrte, Weichheit, Glaͤtte, Form, Geſtalt,
Rundheit ſei? davon kann mir ſo wenig mein
Auge durchs Licht, als meine Seele durch ſelbſt-
ſtaͤndig Denken einen leibhaften, lebendigen Be-
griff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fiſch
hat ihn nicht; der Menſch hat ihn, weil er nebſt
ſeiner Vernunft auch die umfaſſende, taſtende
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/14>, abgerufen am 27.07.2024.
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