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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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türlichen, krallen oder aufgelösten Zustande steht
sie immer da, und nichts kann ihr helfen?
Hinweg, Grimasse von Stein, und verwandle
dich zu dem, was du einst warest, ein Wort,
eine Sylbe!

Nun aber schwang sich auch meistens der
Künstler nicht so hoch: er wollte seinen Block
nicht anstrengen, den höchsten Ton aller
Gerechten
d. i. die Gerechtigkeit, den Jnbe-
grif aller Andächtigen
, die Andacht, ewig und
unüberschwungen zu tönen; er blieb also in der
seligen Mittelmäßigkeit, und so saget er gar
nichts
. Jst die Pietas höchstens nur etwa eine
pia, die Caritas etwa eine cara, beide unbestimmt
und ohne Jndividualformen; Schade, lieber
Künstler, um Marmor, und Meißel und Zeit
und Mühe. Hättest du lieber eine bestimmte
pia und cara genommen, so stünde die doch leb-
haft da, und dein heiliger Vater wäre mindstens
von einigen guten Weibern in Stein beweint
und betrauert worden, statt deren jetzt nur ein
geschaffenes Nichts, Allegorische Tugenden,
um ihn trauren!

Bei Grab- und Denkmahlen indeß lasse
ich die Allegorie noch gelren: denn oft vertreten
jene doch nur die Stelle der Bas-reliefs auf dem
Monumente, und etwa der Gemmen und
Münzen, sie sind kein freies Kunstbild. Auch

die
J 4

tuͤrlichen, krallen oder aufgeloͤſten Zuſtande ſteht
ſie immer da, und nichts kann ihr helfen?
Hinweg, Grimaſſe von Stein, und verwandle
dich zu dem, was du einſt wareſt, ein Wort,
eine Sylbe!

Nun aber ſchwang ſich auch meiſtens der
Kuͤnſtler nicht ſo hoch: er wollte ſeinen Block
nicht anſtrengen, den hoͤchſten Ton aller
Gerechten
d. i. die Gerechtigkeit, den Jnbe-
grif aller Andaͤchtigen
, die Andacht, ewig und
unuͤberſchwungen zu toͤnen; er blieb alſo in der
ſeligen Mittelmaͤßigkeit, und ſo ſaget er gar
nichts
. Jſt die Pietas hoͤchſtens nur etwa eine
pia, die Caritas etwa eine cara, beide unbeſtimmt
und ohne Jndividualformen; Schade, lieber
Kuͤnſtler, um Marmor, und Meißel und Zeit
und Muͤhe. Haͤtteſt du lieber eine beſtimmte
pia und cara genommen, ſo ſtuͤnde die doch leb-
haft da, und dein heiliger Vater waͤre mindſtens
von einigen guten Weibern in Stein beweint
und betrauert worden, ſtatt deren jetzt nur ein
geſchaffenes Nichts, Allegoriſche Tugenden,
um ihn trauren!

Bei Grab- und Denkmahlen indeß laſſe
ich die Allegorie noch gelren: denn oft vertreten
jene doch nur die Stelle der Bas-reliefs auf dem
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[135/0138] tuͤrlichen, krallen oder aufgeloͤſten Zuſtande ſteht ſie immer da, und nichts kann ihr helfen? Hinweg, Grimaſſe von Stein, und verwandle dich zu dem, was du einſt wareſt, ein Wort, eine Sylbe! Nun aber ſchwang ſich auch meiſtens der Kuͤnſtler nicht ſo hoch: er wollte ſeinen Block nicht anſtrengen, den hoͤchſten Ton aller Gerechten d. i. die Gerechtigkeit, den Jnbe- grif aller Andaͤchtigen, die Andacht, ewig und unuͤberſchwungen zu toͤnen; er blieb alſo in der ſeligen Mittelmaͤßigkeit, und ſo ſaget er gar nichts. Jſt die Pietas hoͤchſtens nur etwa eine pia, die Caritas etwa eine cara, beide unbeſtimmt und ohne Jndividualformen; Schade, lieber Kuͤnſtler, um Marmor, und Meißel und Zeit und Muͤhe. Haͤtteſt du lieber eine beſtimmte pia und cara genommen, ſo ſtuͤnde die doch leb- haft da, und dein heiliger Vater waͤre mindſtens von einigen guten Weibern in Stein beweint und betrauert worden, ſtatt deren jetzt nur ein geſchaffenes Nichts, Allegoriſche Tugenden, um ihn trauren! Bei Grab- und Denkmahlen indeß laſſe ich die Allegorie noch gelren: denn oft vertreten jene doch nur die Stelle der Bas-reliefs auf dem Monumente, und etwa der Gemmen und Muͤnzen, ſie ſind kein freies Kunſtbild. Auch die J 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/138>, abgerufen am 24.11.2024.