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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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ja, was sonderbar ist, um die simpelste Kindes-
erzählung, nach Morgenländischer Art, wo al-
les ohne Beiwörter und Schönfärbung, in un-
endlicher Einfalt und schlichter Unbezeichnung
dasteht, hat sie den meisten Spielraum. Der
Mahler hat auch seine Unendlichkeit, aber nur
Unendlichkeit eines Continuum, einer flachen
Lichttafel
. Er kann Himmel und Erde, Mei-
lenweit hingeworfne Gegenden und Gebiete der
Einbildung mahlen, aber keine Kolossalfiguren:
denn Formen sind ihm aus einem fremden Sin-
ne. Er muß sie darstellen, wie es der Rahm
seines Bildes, die Gesetze der Lichtbrechung und
Farbengabe, kurz sein Sinn und Medium fo-
dern. Der Bildner steht im Dunkel der Nacht
und ertastet sich Göttergestalten. Die Erzäh-
lungen der Dichter sind vor und in ihm: er fühlt
Homers Minerva, die den gewaltigen Stein
ergreift, an dem einst so viel Riesen der Vorzeit
trugen: fühlt ihr gewaltiges Haupt, dessen Helm
so viel Krieger birgt, als hundert Stäte ins
Feld zu stellen vermögen: fühlt den Schritt
Neptuns, die Brust Alcides, den Wink der
Augenbranen Jupiters; kann, was in diesem
Gefühl aus seiner Hand kommt, klein oder klein-
lich seyn? Jeder Raum ist ihm nun gleichgül-
tig, wo er nur diese Formenschwangre Gefühle
hinlegen oder ausdrücken kann. Sei Jupiter

Einer

ja, was ſonderbar iſt, um die ſimpelſte Kindes-
erzaͤhlung, nach Morgenlaͤndiſcher Art, wo al-
les ohne Beiwoͤrter und Schoͤnfaͤrbung, in un-
endlicher Einfalt und ſchlichter Unbezeichnung
daſteht, hat ſie den meiſten Spielraum. Der
Mahler hat auch ſeine Unendlichkeit, aber nur
Unendlichkeit eines Continuum, einer flachen
Lichttafel
. Er kann Himmel und Erde, Mei-
lenweit hingeworfne Gegenden und Gebiete der
Einbildung mahlen, aber keine Koloſſalfiguren:
denn Formen ſind ihm aus einem fremden Sin-
ne. Er muß ſie darſtellen, wie es der Rahm
ſeines Bildes, die Geſetze der Lichtbrechung und
Farbengabe, kurz ſein Sinn und Medium fo-
dern. Der Bildner ſteht im Dunkel der Nacht
und ertaſtet ſich Goͤttergeſtalten. Die Erzaͤh-
lungen der Dichter ſind vor und in ihm: er fuͤhlt
Homers Minerva, die den gewaltigen Stein
ergreift, an dem einſt ſo viel Rieſen der Vorzeit
trugen: fuͤhlt ihr gewaltiges Haupt, deſſen Helm
ſo viel Krieger birgt, als hundert Staͤte ins
Feld zu ſtellen vermoͤgen: fuͤhlt den Schritt
Neptuns, die Bruſt Alcides, den Wink der
Augenbranen Jupiters; kann, was in dieſem
Gefuͤhl aus ſeiner Hand kommt, klein oder klein-
lich ſeyn? Jeder Raum iſt ihm nun gleichguͤl-
tig, wo er nur dieſe Formenſchwangre Gefuͤhle
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[125/0128] ja, was ſonderbar iſt, um die ſimpelſte Kindes- erzaͤhlung, nach Morgenlaͤndiſcher Art, wo al- les ohne Beiwoͤrter und Schoͤnfaͤrbung, in un- endlicher Einfalt und ſchlichter Unbezeichnung daſteht, hat ſie den meiſten Spielraum. Der Mahler hat auch ſeine Unendlichkeit, aber nur Unendlichkeit eines Continuum, einer flachen Lichttafel. Er kann Himmel und Erde, Mei- lenweit hingeworfne Gegenden und Gebiete der Einbildung mahlen, aber keine Koloſſalfiguren: denn Formen ſind ihm aus einem fremden Sin- ne. Er muß ſie darſtellen, wie es der Rahm ſeines Bildes, die Geſetze der Lichtbrechung und Farbengabe, kurz ſein Sinn und Medium fo- dern. Der Bildner ſteht im Dunkel der Nacht und ertaſtet ſich Goͤttergeſtalten. Die Erzaͤh- lungen der Dichter ſind vor und in ihm: er fuͤhlt Homers Minerva, die den gewaltigen Stein ergreift, an dem einſt ſo viel Rieſen der Vorzeit trugen: fuͤhlt ihr gewaltiges Haupt, deſſen Helm ſo viel Krieger birgt, als hundert Staͤte ins Feld zu ſtellen vermoͤgen: fuͤhlt den Schritt Neptuns, die Bruſt Alcides, den Wink der Augenbranen Jupiters; kann, was in dieſem Gefuͤhl aus ſeiner Hand kommt, klein oder klein- lich ſeyn? Jeder Raum iſt ihm nun gleichguͤl- tig, wo er nur dieſe Formenſchwangre Gefuͤhle hinlegen oder ausdruͤcken kann. Sei Jupiter Einer

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/128>, abgerufen am 23.11.2024.