Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

lose größer dünkt, als das Belebte, wo jede
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-
der und Unterschiede darstellt: (denn eine abge-
hauenkalte Hand dünkt unserm Gefühl und selbst
unserm Auge größer, als da sie Glied am Kör-
per war und Leben sie durchwallte). Und neh-
men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in
der der Sinn tastet, die langsam erfühlte Ein-
heit
und Unbezeichnung, die ein solches Bild
verleihet, den Begrif von Macht und Fülle,
langsamem und starkem Willen, der in dem Ge-
bäu wohnet: so kann nicht blos, so muß gleich-
sam jeder hohe und starke Gott, jede Göttin der
Erhabenheit und Ehrfurcht, unsrer Einbildung
Kolossalisch und wenigstens übermenschlich wer-
den über unsre Zwergengröße. Die bildende
Kunst tritt hier in die Mitte zwischen Dichter
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,
als die ihm der Flug seiner Phantasie und die
Schöpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.
Sein Auge wie der unendliche Shakespear
sagt:
Jn a fine frenzy rolling
Doth glance from heav'n to earth, from earth
to heav'n,
And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poets pen
Turns them to shape and gives to aiery nothing
A local habitation and a name
--

ja,

loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-
der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge-
hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt
unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr-
per war und Leben ſie durchwallte). Und neh-
men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in
der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein-
heit
und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild
verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle,
langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge-
baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich-
ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der
Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung
Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer-
den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende
Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,
als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die
Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.
Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear
ſagt:
Jn a fine frenzy rolling
Doth glance from heav’n to earth, from earth
to heav’n,
And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poets pen
Turns them to ſhape and gives to aiery nothing
A local habitation and a name

ja,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0127" n="124"/><hi rendition="#fr">lo&#x017F;e</hi> gro&#x0364;ßer du&#x0364;nkt, als das <hi rendition="#fr">Belebte</hi>, wo jede<lb/>
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-<lb/>
der und Unter&#x017F;chiede dar&#x017F;tellt: (denn eine abge-<lb/>
hauenkalte Hand du&#x0364;nkt un&#x017F;erm Gefu&#x0364;hl und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
un&#x017F;erm Auge gro&#x0364;ßer, als da &#x017F;ie Glied am Ko&#x0364;r-<lb/>
per war und Leben &#x017F;ie durchwallte). Und neh-<lb/>
men wir hiezu noch <hi rendition="#fr">Dunkelheit</hi> und <hi rendition="#fr">Nacht</hi>, in<lb/>
der der Sinn ta&#x017F;tet, die lang&#x017F;am erfu&#x0364;hlte <hi rendition="#fr">Ein-<lb/>
heit</hi> und <hi rendition="#fr">Unbezeichnung</hi>, die ein &#x017F;olches Bild<lb/>
verleihet, den Begrif von <hi rendition="#fr">Macht</hi> und <hi rendition="#fr">Fu&#x0364;lle</hi>,<lb/>
lang&#x017F;amem und &#x017F;tarkem <hi rendition="#fr">Willen</hi>, der in dem Ge-<lb/>
ba&#x0364;u wohnet: &#x017F;o <hi rendition="#fr">kann</hi> nicht blos, &#x017F;o <hi rendition="#fr">muß</hi> gleich-<lb/>
&#x017F;am jeder hohe und &#x017F;tarke Gott, jede Go&#x0364;ttin der<lb/>
Erhabenheit und Ehrfurcht, un&#x017F;rer Einbildung<lb/>
Kolo&#x017F;&#x017F;ali&#x017F;ch und wenig&#x017F;tens <hi rendition="#fr">u&#x0364;bermen&#x017F;chlich</hi> wer-<lb/>
den u&#x0364;ber un&#x017F;re Zwergengro&#x0364;ße. Die bildende<lb/>
Kun&#x017F;t tritt hier in die Mitte zwi&#x017F;chen Dichter<lb/>
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,<lb/>
als die ihm der Flug &#x017F;einer Phanta&#x017F;ie und die<lb/>
Scho&#x0364;pfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.<lb/>
Sein Auge wie der unendliche <hi rendition="#fr">Shake&#x017F;pear</hi><lb/>
&#x017F;agt:<lb/><cit><quote><hi rendition="#et"><hi rendition="#aq">Jn a fine frenzy rolling</hi></hi><lb/><hi rendition="#aq">Doth glance from heav&#x2019;n to earth, from earth</hi><lb/><hi rendition="#et"><hi rendition="#aq">to heav&#x2019;n,</hi></hi><lb/><hi rendition="#aq">And as imagination bodies forth<lb/>
The forms of things unknown, the poets pen<lb/>
Turns them to &#x017F;hape and gives to aiery nothing<lb/>
A local habitation and a name</hi> &#x2014;</quote><bibl/></cit><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ja,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0127] loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede Durchregung des Hauches der Seele uns Glie- der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge- hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr- per war und Leben ſie durchwallte). Und neh- men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein- heit und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle, langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge- baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich- ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer- den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen, als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen. Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear ſagt: Jn a fine frenzy rolling Doth glance from heav’n to earth, from earth to heav’n, And as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poets pen Turns them to ſhape and gives to aiery nothing A local habitation and a name — ja,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/127
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/127>, abgerufen am 23.11.2024.