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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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Si visus per membra feras: hoc pectora pressus
Vastator Nemaees
--

und also Lysippus Fußlange Figur in Statius
Seele oder Munde Kolossus ward, ja, um Her-
kules zu seyn, es werden muste; welche Blume
von Jrorens Haupt will es denn dem Künstler
verbieten, statt Eines Einige Füße zu nehmen,
wenn er damit dem umfassenden tastenden Auge
höheres Gefühl gibt? Ueberhaupt dünkt uns al-
les größer, was unsre Hand tastet, als was
das Auge schnell, wie der Blitz, auf einmal und
nach täglicher Weise siehet. Die Hand tastet
nie ganz, kann keine Form auf einmal fassen,
als die Form der Ruhe und zusammengesenkter
Vollkommenheit, die Kugel. Auf der ruhet
auch sie und die Kugel in ihr; sonst aber, bei
artikulirten Formen und am meisten im Gefühl
eines Menschlichen Körpers, selbst wenn er das
kleinste Crucifix wäre, ist sie nie ganz, nie zu
Ende, sie tastet gewissermaasse immer unend-
lich
. Das Kolossalische ist also ihrem Gefühl
so nah und natürlich, als es dem Farbenbrett
aus Einem Lichtpunkt fremd ist. Dies muß,
und gewissermaasse auf Einmal, übersehen wer-
den können, oder es steht überwältigend vor uns,
eine Gigantische, abscheulichgezerrte, uns er-
drückende Larvenmauer. -- Rechnen wir nun
noch hinzu, daß unsrer tastenden Hand das Leb-

lose
Si viſus per membra feras: hoc pectora preſſus
Vaſtator Nemaees

und alſo Lyſippus Fußlange Figur in Statius
Seele oder Munde Koloſſus ward, ja, um Her-
kules zu ſeyn, es werden muſte; welche Blume
von Jrorens Haupt will es denn dem Kuͤnſtler
verbieten, ſtatt Eines Einige Fuͤße zu nehmen,
wenn er damit dem umfaſſenden taſtenden Auge
hoͤheres Gefuͤhl gibt? Ueberhaupt duͤnkt uns al-
les groͤßer, was unſre Hand taſtet, als was
das Auge ſchnell, wie der Blitz, auf einmal und
nach taͤglicher Weiſe ſiehet. Die Hand taſtet
nie ganz, kann keine Form auf einmal faſſen,
als die Form der Ruhe und zuſammengeſenkter
Vollkommenheit, die Kugel. Auf der ruhet
auch ſie und die Kugel in ihr; ſonſt aber, bei
artikulirten Formen und am meiſten im Gefuͤhl
eines Menſchlichen Koͤrpers, ſelbſt wenn er das
kleinſte Crucifix waͤre, iſt ſie nie ganz, nie zu
Ende, ſie taſtet gewiſſermaaſſe immer unend-
lich
. Das Koloſſaliſche iſt alſo ihrem Gefuͤhl
ſo nah und natuͤrlich, als es dem Farbenbrett
aus Einem Lichtpunkt fremd iſt. Dies muß,
und gewiſſermaaſſe auf Einmal, uͤberſehen wer-
den koͤnnen, oder es ſteht uͤberwaͤltigend vor uns,
eine Gigantiſche, abſcheulichgezerrte, uns er-
druͤckende Larvenmauer. — Rechnen wir nun
noch hinzu, daß unſrer taſtenden Hand das Leb-

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[123/0126] Si viſus per membra feras: hoc pectora preſſus Vaſtator Nemaees — und alſo Lyſippus Fußlange Figur in Statius Seele oder Munde Koloſſus ward, ja, um Her- kules zu ſeyn, es werden muſte; welche Blume von Jrorens Haupt will es denn dem Kuͤnſtler verbieten, ſtatt Eines Einige Fuͤße zu nehmen, wenn er damit dem umfaſſenden taſtenden Auge hoͤheres Gefuͤhl gibt? Ueberhaupt duͤnkt uns al- les groͤßer, was unſre Hand taſtet, als was das Auge ſchnell, wie der Blitz, auf einmal und nach taͤglicher Weiſe ſiehet. Die Hand taſtet nie ganz, kann keine Form auf einmal faſſen, als die Form der Ruhe und zuſammengeſenkter Vollkommenheit, die Kugel. Auf der ruhet auch ſie und die Kugel in ihr; ſonſt aber, bei artikulirten Formen und am meiſten im Gefuͤhl eines Menſchlichen Koͤrpers, ſelbſt wenn er das kleinſte Crucifix waͤre, iſt ſie nie ganz, nie zu Ende, ſie taſtet gewiſſermaaſſe immer unend- lich. Das Koloſſaliſche iſt alſo ihrem Gefuͤhl ſo nah und natuͤrlich, als es dem Farbenbrett aus Einem Lichtpunkt fremd iſt. Dies muß, und gewiſſermaaſſe auf Einmal, uͤberſehen wer- den koͤnnen, oder es ſteht uͤberwaͤltigend vor uns, eine Gigantiſche, abſcheulichgezerrte, uns er- druͤckende Larvenmauer. — Rechnen wir nun noch hinzu, daß unſrer taſtenden Hand das Leb- loſe

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/126>, abgerufen am 29.03.2024.