Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

keit nöthig hatte, diese Linie gewählet. So
wächst der Baum im Stamme, und ruhet ver-
jüngt auf sich selbst: das Vorbild der Vestigkeit
und der schönen Säule. So liegt, wo Base nö-
thig war, Stein, Erde und selbst das Meer, in
Gleiche. So ist auch beim Menschlichen Kör-
per, wo Basis nöthig war, Fußsole: wo erhab-
ne Vestigkeit seyn sollte, gerader Stand an Fuß,
Schenkel, Hals, Arm und Händen. Nichts
sieht übler, als ein gebeugter Baum, oder eine
krumme Säule: auch die Hand des Blinden will
sie aufrichten: denn sie ist gefallen und kann zer-
schmettern. So ist auch ein krummer Hals,
krummer Rücken und krumme Beine gerade das,
was in der Menschlichen Gestalt den Eindruck des
vesten Standes und der einfachen Erhabenheit
am meisten mindert. Der Haupttheil unsers
Gesichts, der vortritt und die ganze Form dessel-
ben bildet, ist eine gerade Linie, die Nase, und
die Schiefheit derselben macht einen lächerlichen
Eindruck. Man kann zu einem Gesicht mit
schiefer Nase fast nicht reden. --

Die Linie der Vollkommenheit ist der Kreis,
wo Alles aus Einem Mittelpunkt stralet und in
ihn zurückfällt, wo kein Punkt dem andern gleich
ist und doch Alles zu Einem Kreise wallet. Wo
es anging, hat die Natur die Linie der Richtig-
keit
mit dem Kreise der Vollkommenheit um-

wunden.

keit noͤthig hatte, dieſe Linie gewaͤhlet. So
waͤchſt der Baum im Stamme, und ruhet ver-
juͤngt auf ſich ſelbſt: das Vorbild der Veſtigkeit
und der ſchoͤnen Saͤule. So liegt, wo Baſe noͤ-
thig war, Stein, Erde und ſelbſt das Meer, in
Gleiche. So iſt auch beim Menſchlichen Koͤr-
per, wo Baſis noͤthig war, Fußſole: wo erhab-
ne Veſtigkeit ſeyn ſollte, gerader Stand an Fuß,
Schenkel, Hals, Arm und Haͤnden. Nichts
ſieht uͤbler, als ein gebeugter Baum, oder eine
krumme Saͤule: auch die Hand des Blinden will
ſie aufrichten: denn ſie iſt gefallen und kann zer-
ſchmettern. So iſt auch ein krummer Hals,
krummer Ruͤcken und krumme Beine gerade das,
was in der Menſchlichen Geſtalt den Eindruck des
veſten Standes und der einfachen Erhabenheit
am meiſten mindert. Der Haupttheil unſers
Geſichts, der vortritt und die ganze Form deſſel-
ben bildet, iſt eine gerade Linie, die Naſe, und
die Schiefheit derſelben macht einen laͤcherlichen
Eindruck. Man kann zu einem Geſicht mit
ſchiefer Naſe faſt nicht reden. —

Die Linie der Vollkommenheit iſt der Kreis,
wo Alles aus Einem Mittelpunkt ſtralet und in
ihn zuruͤckfaͤllt, wo kein Punkt dem andern gleich
iſt und doch Alles zu Einem Kreiſe wallet. Wo
es anging, hat die Natur die Linie der Richtig-
keit
mit dem Kreiſe der Vollkommenheit um-

wunden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0107" n="104"/>
keit no&#x0364;thig hatte, die&#x017F;e Linie gewa&#x0364;hlet. So<lb/>
wa&#x0364;ch&#x017F;t der Baum im Stamme, und ruhet ver-<lb/>
ju&#x0364;ngt auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t: das Vorbild der Ve&#x017F;tigkeit<lb/>
und der &#x017F;cho&#x0364;nen Sa&#x0364;ule. So liegt, wo Ba&#x017F;e no&#x0364;-<lb/>
thig war, Stein, Erde und &#x017F;elb&#x017F;t das Meer, in<lb/>
Gleiche. So i&#x017F;t auch beim Men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;r-<lb/>
per, wo Ba&#x017F;is no&#x0364;thig war, Fuß&#x017F;ole: wo erhab-<lb/>
ne Ve&#x017F;tigkeit &#x017F;eyn &#x017F;ollte, <hi rendition="#fr">gerader Stand</hi> an Fuß,<lb/>
Schenkel, Hals, Arm und Ha&#x0364;nden. Nichts<lb/>
&#x017F;ieht u&#x0364;bler, als ein gebeugter Baum, oder eine<lb/>
krumme Sa&#x0364;ule: auch die Hand des Blinden will<lb/>
&#x017F;ie aufrichten: denn &#x017F;ie i&#x017F;t gefallen und kann zer-<lb/>
&#x017F;chmettern. So i&#x017F;t auch ein krummer Hals,<lb/>
krummer Ru&#x0364;cken und krumme Beine gerade das,<lb/>
was in der Men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt den Eindruck des<lb/><hi rendition="#fr">ve&#x017F;ten Standes</hi> und der <hi rendition="#fr">einfachen Erhabenheit</hi><lb/>
am mei&#x017F;ten mindert. Der Haupttheil un&#x017F;ers<lb/>
Ge&#x017F;ichts, der vortritt und die ganze Form de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben bildet, i&#x017F;t eine <hi rendition="#fr">gerade</hi> Linie, die Na&#x017F;e, und<lb/>
die Schiefheit der&#x017F;elben macht einen la&#x0364;cherlichen<lb/>
Eindruck. Man kann zu einem Ge&#x017F;icht mit<lb/>
&#x017F;chiefer Na&#x017F;e fa&#x017F;t nicht reden. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die Linie der <hi rendition="#fr">Vollkommenheit</hi> i&#x017F;t der <hi rendition="#fr">Kreis,</hi><lb/>
wo Alles aus Einem Mittelpunkt &#x017F;tralet und in<lb/>
ihn zuru&#x0364;ckfa&#x0364;llt, wo kein Punkt dem andern gleich<lb/>
i&#x017F;t und doch Alles zu Einem Krei&#x017F;e wallet. Wo<lb/>
es anging, hat die Natur die <hi rendition="#fr">Linie</hi> der <hi rendition="#fr">Richtig-<lb/>
keit</hi> mit dem <hi rendition="#fr">Krei&#x017F;e</hi> der <hi rendition="#fr">Vollkommenheit</hi> um-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wunden.</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0107] keit noͤthig hatte, dieſe Linie gewaͤhlet. So waͤchſt der Baum im Stamme, und ruhet ver- juͤngt auf ſich ſelbſt: das Vorbild der Veſtigkeit und der ſchoͤnen Saͤule. So liegt, wo Baſe noͤ- thig war, Stein, Erde und ſelbſt das Meer, in Gleiche. So iſt auch beim Menſchlichen Koͤr- per, wo Baſis noͤthig war, Fußſole: wo erhab- ne Veſtigkeit ſeyn ſollte, gerader Stand an Fuß, Schenkel, Hals, Arm und Haͤnden. Nichts ſieht uͤbler, als ein gebeugter Baum, oder eine krumme Saͤule: auch die Hand des Blinden will ſie aufrichten: denn ſie iſt gefallen und kann zer- ſchmettern. So iſt auch ein krummer Hals, krummer Ruͤcken und krumme Beine gerade das, was in der Menſchlichen Geſtalt den Eindruck des veſten Standes und der einfachen Erhabenheit am meiſten mindert. Der Haupttheil unſers Geſichts, der vortritt und die ganze Form deſſel- ben bildet, iſt eine gerade Linie, die Naſe, und die Schiefheit derſelben macht einen laͤcherlichen Eindruck. Man kann zu einem Geſicht mit ſchiefer Naſe faſt nicht reden. — Die Linie der Vollkommenheit iſt der Kreis, wo Alles aus Einem Mittelpunkt ſtralet und in ihn zuruͤckfaͤllt, wo kein Punkt dem andern gleich iſt und doch Alles zu Einem Kreiſe wallet. Wo es anging, hat die Natur die Linie der Richtig- keit mit dem Kreiſe der Vollkommenheit um- wunden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/107
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/107>, abgerufen am 09.11.2024.