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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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erscheint, und wie noch seltner Mensch einen
Menschen umfasset, und ihn so lieb gewinnt, daß
er ihn mit sich trage und ihn der Ewigkeit gebe.
Jn einem berühmten Garten sind die National-
produkte, Alongeperücken, ich glaube mit Pan-
zern, in Töpferton gebildet -- ohne Zweifel, das
wahreste Gebilde des Landes.

Doch wozu weiter die unnützen Klagen, die
doch auch kein Griechenland schaffen werden? lie-
ber zur lieben Schönheitslinie zurück, die ja
ganz unter unsern fühlbaren Formen zu verschwin-
den schien. -- Mit nichten verschwand sie, hier
eben finden wir sie wahr und körperlich wieder.
Mathematik ist die wahrste Wissenschaft, nur
durch Physik wird sie lebendig, so wie Zahl nur
in Dingen, die gezählet werden, da ist. Und
wenn es allerdings einen Mathematischen Grund
geben muß, warum die Schönheitslinie schön ist,
wie doppelt angenehm wird es seyn, den abstrak-
ten Grund in jeder konkretesten Form bestätigt
zu sehen.



Die gerade Linie nähmlich ist die Linie der
Vestigkeit,
das sagt uns Sinn und Auge. Ein
Theil ruhet auf dem andern, hängt am andern,
unterstützt und wird unterstützt: so wohl senk- als
waagerecht hat die Natur daher, wo sie Vestig-

keit
G 4

erſcheint, und wie noch ſeltner Menſch einen
Menſchen umfaſſet, und ihn ſo lieb gewinnt, daß
er ihn mit ſich trage und ihn der Ewigkeit gebe.
Jn einem beruͤhmten Garten ſind die National-
produkte, Alongeperuͤcken, ich glaube mit Pan-
zern, in Toͤpferton gebildet — ohne Zweifel, das
wahreſte Gebilde des Landes.

Doch wozu weiter die unnuͤtzen Klagen, die
doch auch kein Griechenland ſchaffen werden? lie-
ber zur lieben Schoͤnheitslinie zuruͤck, die ja
ganz unter unſern fuͤhlbaren Formen zu verſchwin-
den ſchien. — Mit nichten verſchwand ſie, hier
eben finden wir ſie wahr und koͤrperlich wieder.
Mathematik iſt die wahrſte Wiſſenſchaft, nur
durch Phyſik wird ſie lebendig, ſo wie Zahl nur
in Dingen, die gezaͤhlet werden, da iſt. Und
wenn es allerdings einen Mathematiſchen Grund
geben muß, warum die Schoͤnheitslinie ſchoͤn iſt,
wie doppelt angenehm wird es ſeyn, den abſtrak-
ten Grund in jeder konkreteſten Form beſtaͤtigt
zu ſehen.



Die gerade Linie naͤhmlich iſt die Linie der
Veſtigkeit,
das ſagt uns Sinn und Auge. Ein
Theil ruhet auf dem andern, haͤngt am andern,
unterſtuͤtzt und wird unterſtuͤtzt: ſo wohl ſenk- als
waagerecht hat die Natur daher, wo ſie Veſtig-

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G 4
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[103/0106] erſcheint, und wie noch ſeltner Menſch einen Menſchen umfaſſet, und ihn ſo lieb gewinnt, daß er ihn mit ſich trage und ihn der Ewigkeit gebe. Jn einem beruͤhmten Garten ſind die National- produkte, Alongeperuͤcken, ich glaube mit Pan- zern, in Toͤpferton gebildet — ohne Zweifel, das wahreſte Gebilde des Landes. Doch wozu weiter die unnuͤtzen Klagen, die doch auch kein Griechenland ſchaffen werden? lie- ber zur lieben Schoͤnheitslinie zuruͤck, die ja ganz unter unſern fuͤhlbaren Formen zu verſchwin- den ſchien. — Mit nichten verſchwand ſie, hier eben finden wir ſie wahr und koͤrperlich wieder. Mathematik iſt die wahrſte Wiſſenſchaft, nur durch Phyſik wird ſie lebendig, ſo wie Zahl nur in Dingen, die gezaͤhlet werden, da iſt. Und wenn es allerdings einen Mathematiſchen Grund geben muß, warum die Schoͤnheitslinie ſchoͤn iſt, wie doppelt angenehm wird es ſeyn, den abſtrak- ten Grund in jeder konkreteſten Form beſtaͤtigt zu ſehen. Die gerade Linie naͤhmlich iſt die Linie der Veſtigkeit, das ſagt uns Sinn und Auge. Ein Theil ruhet auf dem andern, haͤngt am andern, unterſtuͤtzt und wird unterſtuͤtzt: ſo wohl ſenk- als waagerecht hat die Natur daher, wo ſie Veſtig- keit G 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/106>, abgerufen am 19.04.2024.