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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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fleucht, und im Worte wenigstens so selten
einem jeden anerkennbar wird, daß er verstehe
und mitfühle -- ist das, wie? wenn man
das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Län-
der übersehen, in einen Blick, ein Gefühl,
ein Wort
fassen soll! Mattes halbes Schat-
tenbild
vom Worte! Das ganze lebendige Ge-
mählde von Lebensart, Gewohnheiten, Be-
dürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten
müßte dazu kommen, oder vorhergegangen
seyn; man müßte erst der Nation sympathisi-
ren,
um eine einzige ihrer Neigungen und
Handlungen, alle zusammen zu fühlen, Ein
Wort finden, in seiner Fülle sich alles den-
ken
-- oder man lieset -- ein Wort.

Wir glauben alle, noch jetzt väterliche und
häusliche und menschliche Triebe zu haben,
wie sie der Morgenländer: Treue und Künst-
lerfleiß
haben zu können, wie sie der Aegypter
besaß: phönicische Regsamkeit, griechische
Freyheitliebe, römische Seelenstärke
--
wer glaubt nicht zu dem allen, Anlage zu füh-
len, wenn nur Zeit Gelegenheit -- -- und
siehe! mein Leser, eben da sind wir. Der
feigste Bösewicht hat ohne Zweifel zum groß-
müthigsten Helden noch immer entfernte Anlage

und



fleucht, und im Worte wenigſtens ſo ſelten
einem jeden anerkennbar wird, daß er verſtehe
und mitfuͤhle — iſt das, wie? wenn man
das Weltmeer ganzer Voͤlker, Zeiten und Laͤn-
der uͤberſehen, in einen Blick, ein Gefuͤhl,
ein Wort
faſſen ſoll! Mattes halbes Schat-
tenbild
vom Worte! Das ganze lebendige Ge-
maͤhlde von Lebensart, Gewohnheiten, Be-
duͤrfniſſen, Landes- und Himmelseigenheiten
muͤßte dazu kommen, oder vorhergegangen
ſeyn; man muͤßte erſt der Nation ſympathiſi-
ren,
um eine einzige ihrer Neigungen und
Handlungen, alle zuſammen zu fuͤhlen, Ein
Wort finden, in ſeiner Fuͤlle ſich alles den-
ken
— oder man lieſet — ein Wort.

Wir glauben alle, noch jetzt vaͤterliche und
haͤusliche und menſchliche Triebe zu haben,
wie ſie der Morgenlaͤnder: Treue und Kuͤnſt-
lerfleiß
haben zu koͤnnen, wie ſie der Aegypter
beſaß: phoͤniciſche Regſamkeit, griechiſche
Freyheitliebe, roͤmiſche Seelenſtaͤrke

wer glaubt nicht zu dem allen, Anlage zu fuͤh-
len, wenn nur Zeit Gelegenheit — — und
ſiehe! mein Leſer, eben da ſind wir. Der
feigſte Boͤſewicht hat ohne Zweifel zum groß-
muͤthigſten Helden noch immer entfernte Anlage

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[45/0049] fleucht, und im Worte wenigſtens ſo ſelten einem jeden anerkennbar wird, daß er verſtehe und mitfuͤhle — iſt das, wie? wenn man das Weltmeer ganzer Voͤlker, Zeiten und Laͤn- der uͤberſehen, in einen Blick, ein Gefuͤhl, ein Wort faſſen ſoll! Mattes halbes Schat- tenbild vom Worte! Das ganze lebendige Ge- maͤhlde von Lebensart, Gewohnheiten, Be- duͤrfniſſen, Landes- und Himmelseigenheiten muͤßte dazu kommen, oder vorhergegangen ſeyn; man muͤßte erſt der Nation ſympathiſi- ren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zuſammen zu fuͤhlen, Ein Wort finden, in ſeiner Fuͤlle ſich alles den- ken — oder man lieſet — ein Wort. Wir glauben alle, noch jetzt vaͤterliche und haͤusliche und menſchliche Triebe zu haben, wie ſie der Morgenlaͤnder: Treue und Kuͤnſt- lerfleiß haben zu koͤnnen, wie ſie der Aegypter beſaß: phoͤniciſche Regſamkeit, griechiſche Freyheitliebe, roͤmiſche Seelenſtaͤrke — wer glaubt nicht zu dem allen, Anlage zu fuͤh- len, wenn nur Zeit Gelegenheit — — und ſiehe! mein Leſer, eben da ſind wir. Der feigſte Boͤſewicht hat ohne Zweifel zum groß- muͤthigſten Helden noch immer entfernte Anlage und

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/49>, abgerufen am 23.11.2024.