Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite


"Warum ist nicht, ruft der sanfte Philo-
"soph, jede solcher Reformationen lieber! ohne
"Revolution
geschehen? Man hätte den
"menschlichen Geist
nur sollen seinen stillen
"Gang
gehen lassen, statt daß jetzt die Leiden-
"schaften im Sturme des Handelns neue Vor-
"urtheile gebahren, und man Böses mit Bö-
"sem verwechselte" -- -- Antwort! weil so
ein stiller Fortgang des menschlichen Geistes
zur Verbesserung der Welt kaum etwas anders
als Phantom unsrer Köpfe, nie Gang Gottes
in der Natur
ist. Dies Saamenkorn fällt in
die Erde! da liegts und erstarrt; aber nun
kommt Sonne es zu wecken: da brichts auf:
die Gefässe schwellen mit Gewalt auseinander:
es durchbricht den Boden -- so Blüthe, so
Frucht -- Kaum die garstige Erdpiltze wächst,
wie dus träumest. Der Grund jeder Refor-
mation war allemal eben solch ein kleines Saa-
menkorn, fiel still
in die Erde, kaum der Re-
de werth: die Menschen hattens schon lange,
besahens
und achtetens nicht -- aber nun
sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine
Welt von Gewohnheiten geändert, neuge-
schaffen
werden -- ist das ohne Revolution;
ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was
Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt

sagte


„Warum iſt nicht, ruft der ſanfte Philo-
„ſoph, jede ſolcher Reformationen lieber! ohne
„Revolution
geſchehen? Man haͤtte den
„menſchlichen Geiſt
nur ſollen ſeinen ſtillen
„Gang
gehen laſſen, ſtatt daß jetzt die Leiden-
„ſchaften im Sturme des Handelns neue Vor-
„urtheile gebahren, und man Boͤſes mit Boͤ-
„ſem verwechſelte„ — — Antwort! weil ſo
ein ſtiller Fortgang des menſchlichen Geiſtes
zur Verbeſſerung der Welt kaum etwas anders
als Phantom unſrer Koͤpfe, nie Gang Gottes
in der Natur
iſt. Dies Saamenkorn faͤllt in
die Erde! da liegts und erſtarrt; aber nun
kommt Sonne es zu wecken: da brichts auf:
die Gefaͤſſe ſchwellen mit Gewalt auseinander:
es durchbricht den Boden — ſo Bluͤthe, ſo
Frucht — Kaum die garſtige Erdpiltze waͤchſt,
wie dus traͤumeſt. Der Grund jeder Refor-
mation war allemal eben ſolch ein kleines Saa-
menkorn, fiel ſtill
in die Erde, kaum der Re-
de werth: die Menſchen hattens ſchon lange,
beſahens
und achtetens nicht — aber nun
ſollen dadurch Neigungen, Sitten, eine
Welt von Gewohnheiten geaͤndert, neuge-
ſchaffen
werden — iſt das ohne Revolution;
ohne Leidenſchaft und Bewegung moͤglich? Was
Luther ſagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt

ſagte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0100" n="96"/>
          <fw place="top" type="header">
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </fw>
          <p>&#x201E;Warum i&#x017F;t nicht, ruft der &#x017F;anfte Philo-<lb/>
&#x201E;&#x017F;oph, jede &#x017F;olcher Reformationen lieber! <hi rendition="#b">ohne<lb/>
&#x201E;Revolution</hi> ge&#x017F;chehen? Man ha&#x0364;tte <hi rendition="#b">den<lb/>
&#x201E;men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;t</hi> nur &#x017F;ollen <hi rendition="#b">&#x017F;einen &#x017F;tillen<lb/>
&#x201E;Gang</hi> gehen la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;tatt daß jetzt die Leiden-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chaften im Sturme des <hi rendition="#b">Handelns</hi> neue Vor-<lb/>
&#x201E;urtheile gebahren, und man Bo&#x0364;&#x017F;es mit Bo&#x0364;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;em verwech&#x017F;elte&#x201E; &#x2014; &#x2014; Antwort! weil &#x017F;o<lb/>
ein <hi rendition="#b">&#x017F;tiller Fortgang</hi> des <hi rendition="#b">men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes</hi><lb/>
zur Verbe&#x017F;&#x017F;erung der Welt kaum etwas anders<lb/>
als <hi rendition="#b">Phantom</hi> un&#x017F;rer Ko&#x0364;pfe, nie <hi rendition="#b">Gang Gottes<lb/>
in der Natur</hi> i&#x017F;t. Dies Saamenkorn fa&#x0364;llt in<lb/>
die Erde! da liegts und er&#x017F;tarrt; aber nun<lb/>
kommt <hi rendition="#b">Sonne</hi> es zu wecken: da brichts auf:<lb/>
die Gefa&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;chwellen mit Gewalt auseinander:<lb/>
es durchbricht den Boden &#x2014; &#x017F;o Blu&#x0364;the, &#x017F;o<lb/>
Frucht &#x2014; Kaum die gar&#x017F;tige Erdpiltze wa&#x0364;ch&#x017F;t,<lb/>
wie dus tra&#x0364;ume&#x017F;t. Der Grund jeder Refor-<lb/>
mation war allemal eben &#x017F;olch ein <hi rendition="#b">kleines Saa-<lb/>
menkorn, fiel &#x017F;till</hi> in die Erde, kaum der Re-<lb/>
de werth: die Men&#x017F;chen hattens <hi rendition="#b">&#x017F;chon lange,<lb/>
be&#x017F;ahens</hi> und <hi rendition="#b">achtetens nicht</hi> &#x2014; aber nun<lb/>
&#x017F;ollen dadurch <hi rendition="#b">Neigungen, Sitten,</hi> eine<lb/>
Welt von <hi rendition="#b">Gewohnheiten</hi> gea&#x0364;ndert, <hi rendition="#b">neuge-<lb/>
&#x017F;chaffen</hi> werden &#x2014; i&#x017F;t das ohne <hi rendition="#b">Revolution;</hi><lb/>
ohne <hi rendition="#b">Leiden&#x017F;chaft</hi> und <hi rendition="#b">Bewegung</hi> mo&#x0364;glich? Was<lb/><hi rendition="#b">Luther</hi> &#x017F;agte, hatte man lange gewußt; aber jetzt<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;agte</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0100] „Warum iſt nicht, ruft der ſanfte Philo- „ſoph, jede ſolcher Reformationen lieber! ohne „Revolution geſchehen? Man haͤtte den „menſchlichen Geiſt nur ſollen ſeinen ſtillen „Gang gehen laſſen, ſtatt daß jetzt die Leiden- „ſchaften im Sturme des Handelns neue Vor- „urtheile gebahren, und man Boͤſes mit Boͤ- „ſem verwechſelte„ — — Antwort! weil ſo ein ſtiller Fortgang des menſchlichen Geiſtes zur Verbeſſerung der Welt kaum etwas anders als Phantom unſrer Koͤpfe, nie Gang Gottes in der Natur iſt. Dies Saamenkorn faͤllt in die Erde! da liegts und erſtarrt; aber nun kommt Sonne es zu wecken: da brichts auf: die Gefaͤſſe ſchwellen mit Gewalt auseinander: es durchbricht den Boden — ſo Bluͤthe, ſo Frucht — Kaum die garſtige Erdpiltze waͤchſt, wie dus traͤumeſt. Der Grund jeder Refor- mation war allemal eben ſolch ein kleines Saa- menkorn, fiel ſtill in die Erde, kaum der Re- de werth: die Menſchen hattens ſchon lange, beſahens und achtetens nicht — aber nun ſollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geaͤndert, neuge- ſchaffen werden — iſt das ohne Revolution; ohne Leidenſchaft und Bewegung moͤglich? Was Luther ſagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt ſagte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/100
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/100>, abgerufen am 07.05.2024.