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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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nen sie erzogen worden, sie über Sachen un-
terrichtet, die rings um sie sind, die Empfin-
dungen entwickelt, die in ihren Herzen schla-
fen, ihnen ihre ganze Bestimmung und Zwe-
cke stufenweise entwickelt: von der ganzen Ge-
lehrsamkeit, Weltweisheit und schönen Litte-
ratur, von der Geschichte und den schönen
Wissenschaften ihnen nur so viel vorhält, als
nöthig ist, sie zur Schönheit des Geistes zu
bilden, ihnen es in der Ordnung vorhält,
die sie immer muntrer macht, und mit den
Worten,
die ihren Lippen entwandt, den
Weg wissen, in ihre Seele und an ihr Herz
zu schleichen: Haben wir im Deutschen ein
solches Buch zur Bildung? Jch zweifle gar,
daß eine Mannsperson es schreiben kann, und
die französischen Philosophien in dieser Art sind
als Bildungen für einen glänzenden Witz in
der Gesellschaft, zum Zeitvertreibe für galante
Toiletten, vortreflich: haben sie aber für den
guten gesunden Verstand des Lebens, (ich
will den bloßen Haus- und Küchenver-
stand
nicht einmal nennen) geschrieben seyn
sollen. Da nun die Franzosen in der Cultur
des Frauenzimmers nach ihrem Jdeal des

gesell-

nen ſie erzogen worden, ſie uͤber Sachen un-
terrichtet, die rings um ſie ſind, die Empfin-
dungen entwickelt, die in ihren Herzen ſchla-
fen, ihnen ihre ganze Beſtimmung und Zwe-
cke ſtufenweiſe entwickelt: von der ganzen Ge-
lehrſamkeit, Weltweisheit und ſchoͤnen Litte-
ratur, von der Geſchichte und den ſchoͤnen
Wiſſenſchaften ihnen nur ſo viel vorhaͤlt, als
noͤthig iſt, ſie zur Schoͤnheit des Geiſtes zu
bilden, ihnen es in der Ordnung vorhaͤlt,
die ſie immer muntrer macht, und mit den
Worten,
die ihren Lippen entwandt, den
Weg wiſſen, in ihre Seele und an ihr Herz
zu ſchleichen: Haben wir im Deutſchen ein
ſolches Buch zur Bildung? Jch zweifle gar,
daß eine Mannsperſon es ſchreiben kann, und
die franzoͤſiſchen Philoſophien in dieſer Art ſind
als Bildungen fuͤr einen glaͤnzenden Witz in
der Geſellſchaft, zum Zeitvertreibe fuͤr galante
Toiletten, vortreflich: haben ſie aber fuͤr den
guten geſunden Verſtand des Lebens, (ich
will den bloßen Haus- und Kuͤchenver-
ſtand
nicht einmal nennen) geſchrieben ſeyn
ſollen. Da nun die Franzoſen in der Cultur
des Frauenzimmers nach ihrem Jdeal des

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[64/0072] nen ſie erzogen worden, ſie uͤber Sachen un- terrichtet, die rings um ſie ſind, die Empfin- dungen entwickelt, die in ihren Herzen ſchla- fen, ihnen ihre ganze Beſtimmung und Zwe- cke ſtufenweiſe entwickelt: von der ganzen Ge- lehrſamkeit, Weltweisheit und ſchoͤnen Litte- ratur, von der Geſchichte und den ſchoͤnen Wiſſenſchaften ihnen nur ſo viel vorhaͤlt, als noͤthig iſt, ſie zur Schoͤnheit des Geiſtes zu bilden, ihnen es in der Ordnung vorhaͤlt, die ſie immer muntrer macht, und mit den Worten, die ihren Lippen entwandt, den Weg wiſſen, in ihre Seele und an ihr Herz zu ſchleichen: Haben wir im Deutſchen ein ſolches Buch zur Bildung? Jch zweifle gar, daß eine Mannsperſon es ſchreiben kann, und die franzoͤſiſchen Philoſophien in dieſer Art ſind als Bildungen fuͤr einen glaͤnzenden Witz in der Geſellſchaft, zum Zeitvertreibe fuͤr galante Toiletten, vortreflich: haben ſie aber fuͤr den guten geſunden Verſtand des Lebens, (ich will den bloßen Haus- und Kuͤchenver- ſtand nicht einmal nennen) geſchrieben ſeyn ſollen. Da nun die Franzoſen in der Cultur des Frauenzimmers nach ihrem Jdeal des geſell-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/72>, abgerufen am 04.05.2024.