Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

vordenken, wird man niemals mehr: kurz!
man wird noch viel wissen, aber nicht mit
dem Lichte der Anschauung und Selbstgefühl,
daß dies Wissen auch bildete: ein Wort, das
in unsrer Erziehung so oft genannt, aber
wenig durchdacht, und noch weniger aus-
geübt
wird.

Jch muß diese Samenkörner einer äußerst
wichtigen und reichen Materie nur im Vor-
beigehen hinwerfen, und mich zurückfinden.
Wenn die lateinische Sprache Hauptzweck
wird: so wird der Blick des Jünglings von
allen diesen Aussichten abgewandt, und mit
dem grammatischen Zepter, wie mit einem
glühenden Eisen, auf einmal geblendet. Seine
Wange wird zu Runzeln eines grammati-
schen Sophisten gewöhnt: Falten, die er äus-
serst ungern annimmt, und die nachher nie
völlig und ohne Merkmal verschwinden kön-
nen. Die erste Farbe, die unsrer Denkart
aufgetragen wird, verliert sich nie; wehe uns!
wenn sie uns unangenehm, oder gar verunzie-
rend ist. Seufzen muß der Menschenfreund,
wenn er sieht, wie in den Schulen, die mit
dem Namen: Lateinische Schulen prangen,

die
C 4

vordenken, wird man niemals mehr: kurz!
man wird noch viel wiſſen, aber nicht mit
dem Lichte der Anſchauung und Selbſtgefuͤhl,
daß dies Wiſſen auch bildete: ein Wort, das
in unſrer Erziehung ſo oft genannt, aber
wenig durchdacht, und noch weniger aus-
geuͤbt
wird.

Jch muß dieſe Samenkoͤrner einer aͤußerſt
wichtigen und reichen Materie nur im Vor-
beigehen hinwerfen, und mich zuruͤckfinden.
Wenn die lateiniſche Sprache Hauptzweck
wird: ſo wird der Blick des Juͤnglings von
allen dieſen Ausſichten abgewandt, und mit
dem grammatiſchen Zepter, wie mit einem
gluͤhenden Eiſen, auf einmal geblendet. Seine
Wange wird zu Runzeln eines grammati-
ſchen Sophiſten gewoͤhnt: Falten, die er aͤuſ-
ſerſt ungern annimmt, und die nachher nie
voͤllig und ohne Merkmal verſchwinden koͤn-
nen. Die erſte Farbe, die unſrer Denkart
aufgetragen wird, verliert ſich nie; wehe uns!
wenn ſie uns unangenehm, oder gar verunzie-
rend iſt. Seufzen muß der Menſchenfreund,
wenn er ſieht, wie in den Schulen, die mit
dem Namen: Lateiniſche Schulen prangen,

die
C 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0047" n="39"/><hi rendition="#fr">vordenken,</hi> wird man niemals mehr: kurz!<lb/>
man wird noch viel wi&#x017F;&#x017F;en, aber nicht mit<lb/>
dem Lichte der An&#x017F;chauung und Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl,<lb/>
daß dies Wi&#x017F;&#x017F;en auch <hi rendition="#fr">bildete:</hi> ein Wort, das<lb/>
in un&#x017F;rer Erziehung &#x017F;o oft <hi rendition="#fr">genannt,</hi> aber<lb/>
wenig <hi rendition="#fr">durchdacht,</hi> und noch weniger <hi rendition="#fr">aus-<lb/>
geu&#x0364;bt</hi> wird.</p><lb/>
                <p>Jch muß die&#x017F;e Samenko&#x0364;rner einer a&#x0364;ußer&#x017F;t<lb/>
wichtigen und reichen Materie nur im Vor-<lb/>
beigehen hinwerfen, und mich zuru&#x0364;ckfinden.<lb/>
Wenn die lateini&#x017F;che Sprache <hi rendition="#fr">Hauptzweck</hi><lb/>
wird: &#x017F;o wird der Blick des Ju&#x0364;nglings von<lb/>
allen die&#x017F;en Aus&#x017F;ichten abgewandt, und mit<lb/>
dem grammati&#x017F;chen Zepter, wie mit einem<lb/>
glu&#x0364;henden Ei&#x017F;en, auf einmal geblendet. Seine<lb/>
Wange wird zu Runzeln eines grammati-<lb/>
&#x017F;chen Sophi&#x017F;ten gewo&#x0364;hnt: Falten, die er a&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er&#x017F;t ungern annimmt, und die nachher nie<lb/>
vo&#x0364;llig und ohne Merkmal ver&#x017F;chwinden ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Die er&#x017F;te Farbe, die un&#x017F;rer Denkart<lb/>
aufgetragen wird, verliert &#x017F;ich nie; wehe uns!<lb/>
wenn &#x017F;ie uns unangenehm, oder gar verunzie-<lb/>
rend i&#x017F;t. Seufzen muß der Men&#x017F;chenfreund,<lb/>
wenn er &#x017F;ieht, wie in den Schulen, die mit<lb/>
dem Namen: <hi rendition="#fr">Lateini&#x017F;che Schulen</hi> prangen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 4</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0047] vordenken, wird man niemals mehr: kurz! man wird noch viel wiſſen, aber nicht mit dem Lichte der Anſchauung und Selbſtgefuͤhl, daß dies Wiſſen auch bildete: ein Wort, das in unſrer Erziehung ſo oft genannt, aber wenig durchdacht, und noch weniger aus- geuͤbt wird. Jch muß dieſe Samenkoͤrner einer aͤußerſt wichtigen und reichen Materie nur im Vor- beigehen hinwerfen, und mich zuruͤckfinden. Wenn die lateiniſche Sprache Hauptzweck wird: ſo wird der Blick des Juͤnglings von allen dieſen Ausſichten abgewandt, und mit dem grammatiſchen Zepter, wie mit einem gluͤhenden Eiſen, auf einmal geblendet. Seine Wange wird zu Runzeln eines grammati- ſchen Sophiſten gewoͤhnt: Falten, die er aͤuſ- ſerſt ungern annimmt, und die nachher nie voͤllig und ohne Merkmal verſchwinden koͤn- nen. Die erſte Farbe, die unſrer Denkart aufgetragen wird, verliert ſich nie; wehe uns! wenn ſie uns unangenehm, oder gar verunzie- rend iſt. Seufzen muß der Menſchenfreund, wenn er ſieht, wie in den Schulen, die mit dem Namen: Lateiniſche Schulen prangen, die C 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/47
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/47>, abgerufen am 19.04.2024.