Wissenschaft, manche Geschicklichkeit kein an- dres Opfer, als die Erstlinge unsrer Jahre, unsrer Munterkeit, und unsrer Begierde, an- nehmen könne; daß zu gewissen Bildern und Begriffen ein gewisser erster Adlersblick nöthig sey, die man, wenn dieser fehlt, nach- her nie im gehörigen Lichte sieht, nie mit der gehörigen Macht empfindet, nie mit dem wahren Feuer denket, und im ganzen Um- fange umfasset. Es kam auf den ersten all- mächtigen Eindruck an; ist dieser verfehlet, so ist alles verloren: verloren der erste unerklär- liche Scharfsinn, der nie durch Geduld und Fleiß ersezzt wird: verloren das große inner- liche Gefühl eines Bewußtseyns, daß man das Ganze habe; verloren das Hausherren- und Eigenthumsrecht, mit diesen Begriffen schalten und walten zu können; kurz verlo- ren, das was man Genie nennt. -- Nachher kann man freilich viel lernen, aber nicht mehr mit der kühnen und muntern Anwendung auf sein Jch, daß man es, mit allem Nach- drucke, könnte fassen, nennen: man kann al- lerdings viel andern nachdenken lernen, al- lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen gar
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Wiſſenſchaft, manche Geſchicklichkeit kein an- dres Opfer, als die Erſtlinge unſrer Jahre, unſrer Munterkeit, und unſrer Begierde, an- nehmen koͤnne; daß zu gewiſſen Bildern und Begriffen ein gewiſſer erſter Adlersblick noͤthig ſey, die man, wenn dieſer fehlt, nach- her nie im gehoͤrigen Lichte ſieht, nie mit der gehoͤrigen Macht empfindet, nie mit dem wahren Feuer denket, und im ganzen Um- fange umfaſſet. Es kam auf den erſten all- maͤchtigen Eindruck an; iſt dieſer verfehlet, ſo iſt alles verloren: verloren der erſte unerklaͤr- liche Scharfſinn, der nie durch Geduld und Fleiß erſezzt wird: verloren das große inner- liche Gefuͤhl eines Bewußtſeyns, daß man das Ganze habe; verloren das Hausherren- und Eigenthumsrecht, mit dieſen Begriffen ſchalten und walten zu koͤnnen; kurz verlo- ren, das was man Genie nennt. — Nachher kann man freilich viel lernen, aber nicht mehr mit der kuͤhnen und muntern Anwendung auf ſein Jch, daß man es, mit allem Nach- drucke, koͤnnte faſſen, nennen: man kann al- lerdings viel andern nachdenken lernen, al- lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen gar
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Wiſſenſchaft, manche Geſchicklichkeit kein an-
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unſrer Munterkeit, und unſrer Begierde, an-
nehmen koͤnne; daß zu gewiſſen Bildern und
Begriffen ein gewiſſer erſter Adlersblick
noͤthig ſey, die man, wenn dieſer fehlt, nach-
her nie im gehoͤrigen Lichte ſieht, nie mit der
gehoͤrigen Macht empfindet, nie mit dem
wahren Feuer denket, und im ganzen Um-
fange umfaſſet. Es kam auf den erſten all-
maͤchtigen Eindruck an; iſt dieſer verfehlet, ſo
iſt alles verloren: verloren der erſte unerklaͤr-
liche Scharfſinn, der nie durch Geduld und
Fleiß erſezzt wird: verloren das große inner-
liche Gefuͤhl eines Bewußtſeyns, daß man
das Ganze habe; verloren das Hausherren-
und Eigenthumsrecht, mit dieſen Begriffen
ſchalten und walten zu koͤnnen; kurz verlo-
ren, das was man Genie nennt. — Nachher
kann man freilich viel lernen, aber nicht
mehr mit der kuͤhnen und muntern Anwendung
auf ſein Jch, daß man es, mit allem Nach-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/46>, abgerufen am 21.11.2024.
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