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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Wissenschaft, manche Geschicklichkeit kein an-
dres Opfer, als die Erstlinge unsrer Jahre,
unsrer Munterkeit, und unsrer Begierde, an-
nehmen könne; daß zu gewissen Bildern und
Begriffen ein gewisser erster Adlersblick
nöthig sey, die man, wenn dieser fehlt, nach-
her nie im gehörigen Lichte sieht, nie mit der
gehörigen Macht empfindet, nie mit dem
wahren Feuer denket, und im ganzen Um-
fange umfasset. Es kam auf den ersten all-
mächtigen Eindruck an; ist dieser verfehlet, so
ist alles verloren: verloren der erste unerklär-
liche Scharfsinn, der nie durch Geduld und
Fleiß ersezzt wird: verloren das große inner-
liche Gefühl eines Bewußtseyns, daß man
das Ganze habe; verloren das Hausherren-
und Eigenthumsrecht, mit diesen Begriffen
schalten und walten zu können; kurz verlo-
ren, das was man Genie nennt. -- Nachher
kann man freilich viel lernen, aber nicht
mehr mit der kühnen und muntern Anwendung
auf sein Jch, daß man es, mit allem Nach-
drucke, könnte fassen, nennen: man kann al-
lerdings viel andern nachdenken lernen, al-
lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen gar

vor-

Wiſſenſchaft, manche Geſchicklichkeit kein an-
dres Opfer, als die Erſtlinge unſrer Jahre,
unſrer Munterkeit, und unſrer Begierde, an-
nehmen koͤnne; daß zu gewiſſen Bildern und
Begriffen ein gewiſſer erſter Adlersblick
noͤthig ſey, die man, wenn dieſer fehlt, nach-
her nie im gehoͤrigen Lichte ſieht, nie mit der
gehoͤrigen Macht empfindet, nie mit dem
wahren Feuer denket, und im ganzen Um-
fange umfaſſet. Es kam auf den erſten all-
maͤchtigen Eindruck an; iſt dieſer verfehlet, ſo
iſt alles verloren: verloren der erſte unerklaͤr-
liche Scharfſinn, der nie durch Geduld und
Fleiß erſezzt wird: verloren das große inner-
liche Gefuͤhl eines Bewußtſeyns, daß man
das Ganze habe; verloren das Hausherren-
und Eigenthumsrecht, mit dieſen Begriffen
ſchalten und walten zu koͤnnen; kurz verlo-
ren, das was man Genie nennt. — Nachher
kann man freilich viel lernen, aber nicht
mehr mit der kuͤhnen und muntern Anwendung
auf ſein Jch, daß man es, mit allem Nach-
drucke, koͤnnte faſſen, nennen: man kann al-
lerdings viel andern nachdenken lernen, al-
lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen gar

vor-
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[38/0046] Wiſſenſchaft, manche Geſchicklichkeit kein an- dres Opfer, als die Erſtlinge unſrer Jahre, unſrer Munterkeit, und unſrer Begierde, an- nehmen koͤnne; daß zu gewiſſen Bildern und Begriffen ein gewiſſer erſter Adlersblick noͤthig ſey, die man, wenn dieſer fehlt, nach- her nie im gehoͤrigen Lichte ſieht, nie mit der gehoͤrigen Macht empfindet, nie mit dem wahren Feuer denket, und im ganzen Um- fange umfaſſet. Es kam auf den erſten all- maͤchtigen Eindruck an; iſt dieſer verfehlet, ſo iſt alles verloren: verloren der erſte unerklaͤr- liche Scharfſinn, der nie durch Geduld und Fleiß erſezzt wird: verloren das große inner- liche Gefuͤhl eines Bewußtſeyns, daß man das Ganze habe; verloren das Hausherren- und Eigenthumsrecht, mit dieſen Begriffen ſchalten und walten zu koͤnnen; kurz verlo- ren, das was man Genie nennt. — Nachher kann man freilich viel lernen, aber nicht mehr mit der kuͤhnen und muntern Anwendung auf ſein Jch, daß man es, mit allem Nach- drucke, koͤnnte faſſen, nennen: man kann al- lerdings viel andern nachdenken lernen, al- lein mit ihnen mitdenken, oder ihnen gar vor-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/46>, abgerufen am 24.04.2024.