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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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die einzige ist, nicht versäumen müsse. Jch
gebe es auch gerne zu, daß jede Methode,
die das Gedächtniß in diesem Frühlinge un-
fruchtbar und müßig liegen läßt, es auf eine
ganze Lebenszeit sehr verderbe, weil es wie
ein unbesäter wilder Acker durch unzeitiges
Schonen untauglich und ausgemergelt wird
(man erlaube mir dies Wort.) Aber das
gebe man mir doch auch zu, was ich nur gar
zu oft aus Erfahrung gelernt, und nicht gnug
überdenken kann: daß unsre Seele bei ihrem
unendlichen Durst nach Wahrheiten, doch
nie eine unendliche Menge derselben fassen
kann: daß sie uns sehr bald wie ein beschrieb-
nes Blatt vorkomme, wo man am Rande
und zwischen die Reihen freilich noch vieles
nützliche zuschreiben kann; aber der ganze
Anblick des Blattes ist beschrieben; unglück-
lich! wenn man sagen muß, es ist beschmie-
ret,
oder verschwendet: alsdenn läßt frei-
lich der Rest es zu, zu bessern und auszustrei-
chen; aber im Ganzen ist der Schade
unersezlich.

Es ist eine Wahrheit, die mehr als eines
Schulprogramms werth wäre: daß manche

Wis-
C 3

die einzige iſt, nicht verſaͤumen muͤſſe. Jch
gebe es auch gerne zu, daß jede Methode,
die das Gedaͤchtniß in dieſem Fruͤhlinge un-
fruchtbar und muͤßig liegen laͤßt, es auf eine
ganze Lebenszeit ſehr verderbe, weil es wie
ein unbeſaͤter wilder Acker durch unzeitiges
Schonen untauglich und ausgemergelt wird
(man erlaube mir dies Wort.) Aber das
gebe man mir doch auch zu, was ich nur gar
zu oft aus Erfahrung gelernt, und nicht gnug
uͤberdenken kann: daß unſre Seele bei ihrem
unendlichen Durſt nach Wahrheiten, doch
nie eine unendliche Menge derſelben faſſen
kann: daß ſie uns ſehr bald wie ein beſchrieb-
nes Blatt vorkomme, wo man am Rande
und zwiſchen die Reihen freilich noch vieles
nuͤtzliche zuſchreiben kann; aber der ganze
Anblick des Blattes iſt beſchrieben; ungluͤck-
lich! wenn man ſagen muß, es iſt beſchmie-
ret,
oder verſchwendet: alsdenn laͤßt frei-
lich der Reſt es zu, zu beſſern und auszuſtrei-
chen; aber im Ganzen iſt der Schade
unerſezlich.

Es iſt eine Wahrheit, die mehr als eines
Schulprogramms werth waͤre: daß manche

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[37/0045] die einzige iſt, nicht verſaͤumen muͤſſe. Jch gebe es auch gerne zu, daß jede Methode, die das Gedaͤchtniß in dieſem Fruͤhlinge un- fruchtbar und muͤßig liegen laͤßt, es auf eine ganze Lebenszeit ſehr verderbe, weil es wie ein unbeſaͤter wilder Acker durch unzeitiges Schonen untauglich und ausgemergelt wird (man erlaube mir dies Wort.) Aber das gebe man mir doch auch zu, was ich nur gar zu oft aus Erfahrung gelernt, und nicht gnug uͤberdenken kann: daß unſre Seele bei ihrem unendlichen Durſt nach Wahrheiten, doch nie eine unendliche Menge derſelben faſſen kann: daß ſie uns ſehr bald wie ein beſchrieb- nes Blatt vorkomme, wo man am Rande und zwiſchen die Reihen freilich noch vieles nuͤtzliche zuſchreiben kann; aber der ganze Anblick des Blattes iſt beſchrieben; ungluͤck- lich! wenn man ſagen muß, es iſt beſchmie- ret, oder verſchwendet: alsdenn laͤßt frei- lich der Reſt es zu, zu beſſern und auszuſtrei- chen; aber im Ganzen iſt der Schade unerſezlich. Es iſt eine Wahrheit, die mehr als eines Schulprogramms werth waͤre: daß manche Wiſ- C 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/45>, abgerufen am 28.03.2024.