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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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sprachen: sie schlugen also an jede Saite ih-
rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein-
tönig war: sie weckten den Haß, die Liebe
auf, die in ihren Herzen schlummerte, weil
sie ihnen vortheilhaft, nicht weil sie mora-
lisch gut
war. Sie flößten ihnen Affekten
ein, nicht weil ihre Seele in diesem Feuer
schöner und besser würde: sondern weil diese,
oft blinde, oft schädliche, und immer kurze
Hitze ihren Zweck beförderte. Der Redner
hätte in den wenigsten Fällen, die Entschlüsse,
die er wirkte, gleichsam zur beständigen Ge-
sinnung, zur herrschenden Denkart machen
können, theils weil die Entschlüsse Zeitent-
schlüsse waren, und die Affekten, die er auf-
regte, oft unmoralisch seyn mußten. --
Welch eine ganz andre Bewandniß mit den
geistlichen Ciceronen unsrer Zeit: Reden sie
um eine Viertelstunde zu bezaubern, so pre-
digen sie sicherlich nicht die Religion, sondern
sich selbst. Regen sie die ganze Phantasie der
Zuhörer auf: so bleibt ihr Verstand um so
viel kälter: erfüllen sie die ganze Atmosphäre
des Tempels mit Specereyen: so wird der
Zuhörer um so freier athmen, wenn er in die

frische
S 3

ſprachen: ſie ſchlugen alſo an jede Saite ih-
rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein-
toͤnig war: ſie weckten den Haß, die Liebe
auf, die in ihren Herzen ſchlummerte, weil
ſie ihnen vortheilhaft, nicht weil ſie mora-
liſch gut
war. Sie floͤßten ihnen Affekten
ein, nicht weil ihre Seele in dieſem Feuer
ſchoͤner und beſſer wuͤrde: ſondern weil dieſe,
oft blinde, oft ſchaͤdliche, und immer kurze
Hitze ihren Zweck befoͤrderte. Der Redner
haͤtte in den wenigſten Faͤllen, die Entſchluͤſſe,
die er wirkte, gleichſam zur beſtaͤndigen Ge-
ſinnung, zur herrſchenden Denkart machen
koͤnnen, theils weil die Entſchluͤſſe Zeitent-
ſchluͤſſe waren, und die Affekten, die er auf-
regte, oft unmoraliſch ſeyn mußten. —
Welch eine ganz andre Bewandniß mit den
geiſtlichen Ciceronen unſrer Zeit: Reden ſie
um eine Viertelſtunde zu bezaubern, ſo pre-
digen ſie ſicherlich nicht die Religion, ſondern
ſich ſelbſt. Regen ſie die ganze Phantaſie der
Zuhoͤrer auf: ſo bleibt ihr Verſtand um ſo
viel kaͤlter: erfuͤllen ſie die ganze Atmoſphaͤre
des Tempels mit Specereyen: ſo wird der
Zuhoͤrer um ſo freier athmen, wenn er in die

friſche
S 3
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[277/0285] ſprachen: ſie ſchlugen alſo an jede Saite ih- rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein- toͤnig war: ſie weckten den Haß, die Liebe auf, die in ihren Herzen ſchlummerte, weil ſie ihnen vortheilhaft, nicht weil ſie mora- liſch gut war. Sie floͤßten ihnen Affekten ein, nicht weil ihre Seele in dieſem Feuer ſchoͤner und beſſer wuͤrde: ſondern weil dieſe, oft blinde, oft ſchaͤdliche, und immer kurze Hitze ihren Zweck befoͤrderte. Der Redner haͤtte in den wenigſten Faͤllen, die Entſchluͤſſe, die er wirkte, gleichſam zur beſtaͤndigen Ge- ſinnung, zur herrſchenden Denkart machen koͤnnen, theils weil die Entſchluͤſſe Zeitent- ſchluͤſſe waren, und die Affekten, die er auf- regte, oft unmoraliſch ſeyn mußten. — Welch eine ganz andre Bewandniß mit den geiſtlichen Ciceronen unſrer Zeit: Reden ſie um eine Viertelſtunde zu bezaubern, ſo pre- digen ſie ſicherlich nicht die Religion, ſondern ſich ſelbſt. Regen ſie die ganze Phantaſie der Zuhoͤrer auf: ſo bleibt ihr Verſtand um ſo viel kaͤlter: erfuͤllen ſie die ganze Atmoſphaͤre des Tempels mit Specereyen: ſo wird der Zuhoͤrer um ſo freier athmen, wenn er in die friſche S 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/285>, abgerufen am 21.05.2024.