Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Wer die Geschichte kennet, wird die Ur-
sachen wissen, warum Deutschland mehr als
andre Nationen in dieser Päbstischen Barbarei
gelitten, und unter den meisten Völkern seine
hohe und edle Originaldenkart sich hat müssen
rauben lassen: weil seine Lage, seine Politi-
sche Verfassung u. s. w. es fesselte, und selbst
bei der Wiederauflebung der Wissenschaften
fesselte. O wäre es in diesen Zeitpunkten
eine Britannische Jnsel gewesen!

Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zu-
fälle ist freilich nicht zu ändern: wie aber?
wenn Europa eine Sklavinn von dem Grie-
chischen Konstantinopel gewesen wäre, statt
vom lateinischen Rom? -- Jmmer lieber
und besser in Absicht auf Religion, Gelehr-
samkeit und Sprache. Diese Hypothese kön-
nen die überdenken, die da glauben, es sey
nothwendig eine Wolke der Unwissenheit da-
zu nöthig, daß hinter ihr eine Juno ent-
stehe. Wie? wenn es eine Denkungsart
und einen Geschmack im Allgemeinen
gibt, der sich, trotz aller Umwandelungen
der menschlichen Natur und der Völker der
Welt, aufrecht erhält, und wieder erhebet:

so

Wer die Geſchichte kennet, wird die Ur-
ſachen wiſſen, warum Deutſchland mehr als
andre Nationen in dieſer Paͤbſtiſchen Barbarei
gelitten, und unter den meiſten Voͤlkern ſeine
hohe und edle Originaldenkart ſich hat muͤſſen
rauben laſſen: weil ſeine Lage, ſeine Politi-
ſche Verfaſſung u. ſ. w. es feſſelte, und ſelbſt
bei der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften
feſſelte. O waͤre es in dieſen Zeitpunkten
eine Britanniſche Jnſel geweſen!

Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zu-
faͤlle iſt freilich nicht zu aͤndern: wie aber?
wenn Europa eine Sklavinn von dem Grie-
chiſchen Konſtantinopel geweſen waͤre, ſtatt
vom lateiniſchen Rom? — Jmmer lieber
und beſſer in Abſicht auf Religion, Gelehr-
ſamkeit und Sprache. Dieſe Hypotheſe koͤn-
nen die uͤberdenken, die da glauben, es ſey
nothwendig eine Wolke der Unwiſſenheit da-
zu noͤthig, daß hinter ihr eine Juno ent-
ſtehe. Wie? wenn es eine Denkungsart
und einen Geſchmack im Allgemeinen
gibt, der ſich, trotz aller Umwandelungen
der menſchlichen Natur und der Voͤlker der
Welt, aufrecht erhaͤlt, und wieder erhebet:

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0023" n="15"/>
                <p>Wer die Ge&#x017F;chichte kennet, wird die Ur-<lb/>
&#x017F;achen wi&#x017F;&#x017F;en, warum Deut&#x017F;chland mehr als<lb/>
andre Nationen in die&#x017F;er Pa&#x0364;b&#x017F;ti&#x017F;chen Barbarei<lb/>
gelitten, und unter den mei&#x017F;ten Vo&#x0364;lkern &#x017F;eine<lb/>
hohe und edle Originaldenkart &#x017F;ich hat mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
rauben la&#x017F;&#x017F;en: weil &#x017F;eine Lage, &#x017F;eine Politi-<lb/>
&#x017F;che Verfa&#x017F;&#x017F;ung u. &#x017F;. w. es fe&#x017F;&#x017F;elte, und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bei der Wiederauflebung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;elte. O wa&#x0364;re es in die&#x017F;en Zeitpunkten<lb/>
eine Britanni&#x017F;che Jn&#x017F;el gewe&#x017F;en!</p><lb/>
                <p>Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zu-<lb/>
fa&#x0364;lle i&#x017F;t freilich nicht zu a&#x0364;ndern: wie aber?<lb/>
wenn Europa eine Sklavinn von dem Grie-<lb/>
chi&#x017F;chen Kon&#x017F;tantinopel gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, &#x017F;tatt<lb/>
vom lateini&#x017F;chen Rom? &#x2014; Jmmer lieber<lb/>
und be&#x017F;&#x017F;er in Ab&#x017F;icht auf Religion, Gelehr-<lb/>
&#x017F;amkeit und Sprache. Die&#x017F;e Hypothe&#x017F;e ko&#x0364;n-<lb/>
nen die u&#x0364;berdenken, die da glauben, es &#x017F;ey<lb/>
nothwendig eine Wolke der Unwi&#x017F;&#x017F;enheit da-<lb/>
zu no&#x0364;thig, daß hinter ihr eine Juno ent-<lb/>
&#x017F;tehe. Wie? wenn es eine <hi rendition="#fr">Denkungsart</hi><lb/>
und einen <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;chmack</hi> im <hi rendition="#fr">Allgemeinen</hi><lb/>
gibt, der &#x017F;ich, trotz aller Umwandelungen<lb/>
der men&#x017F;chlichen Natur und der Vo&#x0364;lker der<lb/>
Welt, aufrecht erha&#x0364;lt, und wieder erhebet:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0023] Wer die Geſchichte kennet, wird die Ur- ſachen wiſſen, warum Deutſchland mehr als andre Nationen in dieſer Paͤbſtiſchen Barbarei gelitten, und unter den meiſten Voͤlkern ſeine hohe und edle Originaldenkart ſich hat muͤſſen rauben laſſen: weil ſeine Lage, ſeine Politi- ſche Verfaſſung u. ſ. w. es feſſelte, und ſelbſt bei der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften feſſelte. O waͤre es in dieſen Zeitpunkten eine Britanniſche Jnſel geweſen! Der Lauf der Dinge, der Wurf der Zu- faͤlle iſt freilich nicht zu aͤndern: wie aber? wenn Europa eine Sklavinn von dem Grie- chiſchen Konſtantinopel geweſen waͤre, ſtatt vom lateiniſchen Rom? — Jmmer lieber und beſſer in Abſicht auf Religion, Gelehr- ſamkeit und Sprache. Dieſe Hypotheſe koͤn- nen die uͤberdenken, die da glauben, es ſey nothwendig eine Wolke der Unwiſſenheit da- zu noͤthig, daß hinter ihr eine Juno ent- ſtehe. Wie? wenn es eine Denkungsart und einen Geſchmack im Allgemeinen gibt, der ſich, trotz aller Umwandelungen der menſchlichen Natur und der Voͤlker der Welt, aufrecht erhaͤlt, und wieder erhebet: ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/23
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/23>, abgerufen am 20.04.2024.