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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"ganz ihre Natur verloren: sind, da sie lange
"Zeit mehr als andre ein tyrannisches Urbild
"nachgeahmt, unter allen Nationen Euro-
"pens, am ungleichsten sich selbst." Mit
ihren Wäldern ist ihre Freyheit ausgehauen;
den Winden und fremden Sitten ein Durch-
zug verschaffet: für Sonnenstralen und frem-
de Gewächse Raum gemacht: der Aberglaube
erniedrigte die Denkart in den Staub, die
subtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiste ver-
unstaltende Krümmung: die Sprache erlag.
Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert?
Das zähle ein Weiser nach, der den Päbsti-
schen Aberglauben mit der alten rauhen Tu-
gend, die Politischen Unruhen mit der alten
rauhen Stille, den Auskehricht der Mönchs-
gelehrsamkeit mit der alten Bardischen Ar-
muth, die sogenannte bäurische Römische
Sprache
mit der Altdeutschen zusammenwä-
gen könnte: Wäre Deutschland blos von der
Hand der Zeit, an dem Faden seiner eignen
Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere
Denkart arm, eingeschränkt; aber unserm
Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so
misgestaltet und zerschlagen.

Wer

„ganz ihre Natur verloren: ſind, da ſie lange
„Zeit mehr als andre ein tyranniſches Urbild
„nachgeahmt, unter allen Nationen Euro-
„pens, am ungleichſten ſich ſelbſt.„ Mit
ihren Waͤldern iſt ihre Freyheit ausgehauen;
den Winden und fremden Sitten ein Durch-
zug verſchaffet: fuͤr Sonnenſtralen und frem-
de Gewaͤchſe Raum gemacht: der Aberglaube
erniedrigte die Denkart in den Staub, die
ſubtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiſte ver-
unſtaltende Kruͤmmung: die Sprache erlag.
Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert?
Das zaͤhle ein Weiſer nach, der den Paͤbſti-
ſchen Aberglauben mit der alten rauhen Tu-
gend, die Politiſchen Unruhen mit der alten
rauhen Stille, den Auskehricht der Moͤnchs-
gelehrſamkeit mit der alten Bardiſchen Ar-
muth, die ſogenannte baͤuriſche Roͤmiſche
Sprache
mit der Altdeutſchen zuſammenwaͤ-
gen koͤnnte: Waͤre Deutſchland blos von der
Hand der Zeit, an dem Faden ſeiner eignen
Kultur fortgeleitet: unſtreitig waͤre unſere
Denkart arm, eingeſchraͤnkt; aber unſerm
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Wer
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[14/0022] „ganz ihre Natur verloren: ſind, da ſie lange „Zeit mehr als andre ein tyranniſches Urbild „nachgeahmt, unter allen Nationen Euro- „pens, am ungleichſten ſich ſelbſt.„ Mit ihren Waͤldern iſt ihre Freyheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durch- zug verſchaffet: fuͤr Sonnenſtralen und frem- de Gewaͤchſe Raum gemacht: der Aberglaube erniedrigte die Denkart in den Staub, die ſubtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiſte ver- unſtaltende Kruͤmmung: die Sprache erlag. Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert? Das zaͤhle ein Weiſer nach, der den Paͤbſti- ſchen Aberglauben mit der alten rauhen Tu- gend, die Politiſchen Unruhen mit der alten rauhen Stille, den Auskehricht der Moͤnchs- gelehrſamkeit mit der alten Bardiſchen Ar- muth, die ſogenannte baͤuriſche Roͤmiſche Sprache mit der Altdeutſchen zuſammenwaͤ- gen koͤnnte: Waͤre Deutſchland blos von der Hand der Zeit, an dem Faden ſeiner eignen Kultur fortgeleitet: unſtreitig waͤre unſere Denkart arm, eingeſchraͤnkt; aber unſerm Boden treu, ein Urbild ihrer ſelbſt, nicht ſo misgeſtaltet und zerſchlagen. Wer

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/22>, abgerufen am 29.03.2024.