Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

main und Geschichte des Menschlichen Ver-
standes wieder adeln.

Uns befremdet diese Gestalt nicht, oder
wir werden sie gar nicht mehr gewahr, da
wir ihrer gewohnt sind: aber was würde ein
alter Weiser aus Orient oder Athen in einem
großen Theile der Wissenschaften erblicken? --
Jst das wundersame Bild ein Traum, das
ich in meiner Einbildung vor mir sehe, und
das auf seiner Stirn den Namen trägt:
Neuere Litteratur der Völker? Es ist
ein großer Colossus: sein Haupt von Orien-
talischem Golde, das meinen Blick tödtet,
weil es die Stralen der Sonne zurückwirft:
seine hochgewölbte Brust glänzt von Griechi-
schem Silber: sein Bauch und Schenkel ve-
stes Römisches Erz: seine Füße aber sind von
Nordischem Eisen mit Gallischem Thon ver-
mengt -- ein ungeheures Wunderwerk der
Welt: die Anbetung eines Volks, das Ge-
schöpf langer Jahrhunderte und Geschlechter:
ein prächtiger unabsehbarer Anblick: sein
Haupt raget über die Wolken: mein Auge
erhebet sich kaum bis an seine Brust, und

fällt

main und Geſchichte des Menſchlichen Ver-
ſtandes wieder adeln.

Uns befremdet dieſe Geſtalt nicht, oder
wir werden ſie gar nicht mehr gewahr, da
wir ihrer gewohnt ſind: aber was wuͤrde ein
alter Weiſer aus Orient oder Athen in einem
großen Theile der Wiſſenſchaften erblicken? —
Jſt das wunderſame Bild ein Traum, das
ich in meiner Einbildung vor mir ſehe, und
das auf ſeiner Stirn den Namen traͤgt:
Neuere Litteratur der Voͤlker? Es iſt
ein großer Coloſſus: ſein Haupt von Orien-
taliſchem Golde, das meinen Blick toͤdtet,
weil es die Stralen der Sonne zuruͤckwirft:
ſeine hochgewoͤlbte Bruſt glaͤnzt von Griechi-
ſchem Silber: ſein Bauch und Schenkel ve-
ſtes Roͤmiſches Erz: ſeine Fuͤße aber ſind von
Nordiſchem Eiſen mit Galliſchem Thon ver-
mengt — ein ungeheures Wunderwerk der
Welt: die Anbetung eines Volks, das Ge-
ſchoͤpf langer Jahrhunderte und Geſchlechter:
ein praͤchtiger unabſehbarer Anblick: ſein
Haupt raget uͤber die Wolken: mein Auge
erhebet ſich kaum bis an ſeine Bruſt, und

faͤllt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0016" n="8"/><hi rendition="#aq">main</hi> und Ge&#x017F;chichte des Men&#x017F;chlichen Ver-<lb/>
&#x017F;tandes wieder adeln.</p><lb/>
                <p>Uns befremdet die&#x017F;e Ge&#x017F;talt nicht, oder<lb/>
wir werden &#x017F;ie gar nicht mehr gewahr, da<lb/>
wir ihrer gewohnt &#x017F;ind: aber was wu&#x0364;rde ein<lb/>
alter Wei&#x017F;er aus Orient oder Athen in einem<lb/>
großen Theile der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften erblicken? &#x2014;<lb/>
J&#x017F;t das wunder&#x017F;ame Bild ein Traum, das<lb/>
ich in meiner Einbildung vor mir &#x017F;ehe, und<lb/>
das auf &#x017F;einer Stirn den Namen tra&#x0364;gt:<lb/><hi rendition="#fr">Neuere Litteratur der Vo&#x0364;lker?</hi> Es i&#x017F;t<lb/>
ein großer Colo&#x017F;&#x017F;us: &#x017F;ein Haupt von Orien-<lb/>
tali&#x017F;chem Golde, das meinen Blick to&#x0364;dtet,<lb/>
weil es die Stralen der Sonne zuru&#x0364;ckwirft:<lb/>
&#x017F;eine hochgewo&#x0364;lbte Bru&#x017F;t gla&#x0364;nzt von Griechi-<lb/>
&#x017F;chem Silber: &#x017F;ein Bauch und Schenkel ve-<lb/>
&#x017F;tes Ro&#x0364;mi&#x017F;ches Erz: &#x017F;eine Fu&#x0364;ße aber &#x017F;ind von<lb/>
Nordi&#x017F;chem Ei&#x017F;en mit Galli&#x017F;chem Thon ver-<lb/>
mengt &#x2014; ein ungeheures Wunderwerk der<lb/>
Welt: die Anbetung eines Volks, das Ge-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pf langer Jahrhunderte und Ge&#x017F;chlechter:<lb/>
ein pra&#x0364;chtiger unab&#x017F;ehbarer Anblick: &#x017F;ein<lb/>
Haupt raget u&#x0364;ber die Wolken: mein Auge<lb/>
erhebet &#x017F;ich kaum bis an &#x017F;eine Bru&#x017F;t, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fa&#x0364;llt</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0016] main und Geſchichte des Menſchlichen Ver- ſtandes wieder adeln. Uns befremdet dieſe Geſtalt nicht, oder wir werden ſie gar nicht mehr gewahr, da wir ihrer gewohnt ſind: aber was wuͤrde ein alter Weiſer aus Orient oder Athen in einem großen Theile der Wiſſenſchaften erblicken? — Jſt das wunderſame Bild ein Traum, das ich in meiner Einbildung vor mir ſehe, und das auf ſeiner Stirn den Namen traͤgt: Neuere Litteratur der Voͤlker? Es iſt ein großer Coloſſus: ſein Haupt von Orien- taliſchem Golde, das meinen Blick toͤdtet, weil es die Stralen der Sonne zuruͤckwirft: ſeine hochgewoͤlbte Bruſt glaͤnzt von Griechi- ſchem Silber: ſein Bauch und Schenkel ve- ſtes Roͤmiſches Erz: ſeine Fuͤße aber ſind von Nordiſchem Eiſen mit Galliſchem Thon ver- mengt — ein ungeheures Wunderwerk der Welt: die Anbetung eines Volks, das Ge- ſchoͤpf langer Jahrhunderte und Geſchlechter: ein praͤchtiger unabſehbarer Anblick: ſein Haupt raget uͤber die Wolken: mein Auge erhebet ſich kaum bis an ſeine Bruſt, und faͤllt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/16
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/16>, abgerufen am 16.04.2024.