land, auf einige Augenblicke, als Fremde ei- ner andern Zeit und Denkart sehen wollen, wir diese Römische Gestalt nicht verkennen können.
Nehmet den historischen Faden der Welt- begebenheiten, so wie er sich in unserm en- gen Gesichtskraise fortgeleitet, durchflochten, verwickelt, und endlich halb entwickelt, halb zerrissen hat: -- und nun sehet! an welchem Ende hat Deutschland ihn gefasset; an wel- cher Stelle hält es noch bis jetzt? -- Leser! laß die Geschichte reden: Der feine Grie- chische Geschmack in Sprache, Wissen- schaften, und Künsten, muß erst unter dem Römischen Himmel halb verbleichen, und seinen Duft verhauchen: Wahrheit und Schönheit halb verwelkt trau- ret, wie eine sinkende Blume -- und nun kommen Nordische Horden, diese Blume ganz zu zertreten. Die verdorbne Rö- mische Litteratur mischt sich mit den ro- hen Begriffen ihrer Ueberwinder: Rö- mer und Barbarn vermischen ihre Denk- art: ein heiliger Orientalisch-Hellenisti- scher Geschmack kömmt dazu, um ihr eine
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land, auf einige Augenblicke, als Fremde ei- ner andern Zeit und Denkart ſehen wollen, wir dieſe Roͤmiſche Geſtalt nicht verkennen koͤnnen.
Nehmet den hiſtoriſchen Faden der Welt- begebenheiten, ſo wie er ſich in unſerm en- gen Geſichtskraiſe fortgeleitet, durchflochten, verwickelt, und endlich halb entwickelt, halb zerriſſen hat: — und nun ſehet! an welchem Ende hat Deutſchland ihn gefaſſet; an wel- cher Stelle haͤlt es noch bis jetzt? — Leſer! laß die Geſchichte reden: Der feine Grie- chiſche Geſchmack in Sprache, Wiſſen- ſchaften, und Kuͤnſten, muß erſt unter dem Roͤmiſchen Himmel halb verbleichen, und ſeinen Duft verhauchen: Wahrheit und Schoͤnheit halb verwelkt trau- ret, wie eine ſinkende Blume — und nun kommen Nordiſche Horden, dieſe Blume ganz zu zertreten. Die verdorbne Roͤ- miſche Litteratur miſcht ſich mit den ro- hen Begriffen ihrer Ueberwinder: Roͤ- mer und Barbarn vermiſchen ihre Denk- art: ein heiliger Orientaliſch-Helleniſti- ſcher Geſchmack koͤmmt dazu, um ihr eine
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[6/0014]
land, auf einige Augenblicke, als Fremde ei-
ner andern Zeit und Denkart ſehen wollen,
wir dieſe Roͤmiſche Geſtalt nicht verkennen
koͤnnen.
Nehmet den hiſtoriſchen Faden der Welt-
begebenheiten, ſo wie er ſich in unſerm en-
gen Geſichtskraiſe fortgeleitet, durchflochten,
verwickelt, und endlich halb entwickelt, halb
zerriſſen hat: — und nun ſehet! an welchem
Ende hat Deutſchland ihn gefaſſet; an wel-
cher Stelle haͤlt es noch bis jetzt? — Leſer!
laß die Geſchichte reden: Der feine Grie-
chiſche Geſchmack in Sprache, Wiſſen-
ſchaften, und Kuͤnſten, muß erſt unter dem
Roͤmiſchen Himmel halb verbleichen, und
ſeinen Duft verhauchen: Wahrheit
und Schoͤnheit halb verwelkt trau-
ret, wie eine ſinkende Blume — und nun
kommen Nordiſche Horden, dieſe Blume
ganz zu zertreten. Die verdorbne Roͤ-
miſche Litteratur miſcht ſich mit den ro-
hen Begriffen ihrer Ueberwinder: Roͤ-
mer und Barbarn vermiſchen ihre Denk-
art: ein heiliger Orientaliſch-Helleniſti-
ſcher Geſchmack koͤmmt dazu, um ihr eine
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/14>, abgerufen am 21.11.2024.
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