durch Opfer und Trunkenheit -- und unter den ältesten Göttern war immer auch ein Oeno- trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man wolle.
Jezt wurde also die trunkne Dichtkunst an die Altäre zur Entsündigung geführt. Hier befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte sich also wieder der Religion: ihr Gesang war voll von der thierischsinnlichen Sprache des Weins, und der Wein erhob sich wieder zu einer gewissen Mystischsinnlichen Spra- che der Götter: ein heiliger Gesang in dop- peltem Verstande. Die Priester, zugleich Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio- nalsagen eine Mythologie zusammen, die sich zu ihren rauhen Gesängen bildete, mit denen sie als mit einem Zaume, mit einem Stück des Gottesdienstes, mit einem Zeitvertreibe und Vergnügen das Volk lenkten.
Linus, den wir im fernsten Schatten als den Vater der Dichtkunst erblicken, schrieb noch mit Pelasgischen Buchstaben, den Feldzug des Bac- chus. Anthes der Böotier sang Bacchische Hymnen: Orpheus, der Bezähmer der Grie-
chen
durch Opfer und Trunkenheit — und unter den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno- trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man wolle.
Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra- che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop- peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio- nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe und Vergnuͤgen das Volk lenkten.
Linus, den wir im fernſten Schatten als den Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac- chus. Anthes der Boͤotier ſang Bacchiſche Hymnen: Orpheus, der Bezaͤhmer der Grie-
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durch Opfer und Trunkenheit — und unter
den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno-
trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man
wolle.
Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an
die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier
befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein
und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte
ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war
voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des
Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu
einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra-
che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop-
peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich
Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio-
nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich
zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen
ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck
des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe
und Vergnuͤgen das Volk lenkten.
Linus, den wir im fernſten Schatten als den
Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit
Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac-
chus. Anthes der Boͤotier ſang Bacchiſche
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/136>, abgerufen am 16.02.2025.
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