Ein Volk in seiner Wildheit ist in Spra- che, Bildern und Lastern stark: Trunkenheit und Gewaltthätigkeit sind die Lieblingslaster einer Nation, die noch Mannheit (arete) für Tugend, und trunkne Raserei für Vergnü- gen hält. Alle die feine Schwachheiten wa- ren damals noch nicht, die heut zu Tage un- sere Güte und Fehler, unser Glück und Un- glück bilden, die uns fromm und feige, listig und zahm, gelehrt und müßig, mitleidig und üppig machen. Diese Trunkenheit ge- bar wilde Vergnügen, den ungezähmten Tanz, eine rohe Musik, und nach der damaligen un- gebildeten Sprache auch einen rohen Ge- sang.
Nicht an Altären, sondern in wilden Freu- dentänzen entsprang also die Dichtkunst, und so wie man die Gewaltthätigkeit mit den schärf- sten Gesetzen bändigte, so suchte man die trunknen Neigungen der Menschen, die jenen entwischten, durch Religion zu erhaschen. Jh- re Götter trugen damals Keulen und Blitze: die sanften Gratien waren noch nicht gebo- ren; man verehrte die Kräfte der Natur: rauh war ihr Gottesdienst, wie ihre Natur,
durch
Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra- che, Bildern und Laſtern ſtark: Trunkenheit und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter einer Nation, die noch Mannheit (αρετη) fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ- gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa- ren damals noch nicht, die heut zu Tage un- ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un- gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge- bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz, eine rohe Muſik, und nach der damaligen un- gebildeten Sprache auch einen rohen Ge- ſang.
Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu- dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf- ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh- re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze: die ſanften Gratien waren noch nicht gebo- ren; man verehrte die Kraͤfte der Natur: rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur,
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Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra-
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und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter
einer Nation, die noch Mannheit (αρετη)
fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ-
gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa-
ren damals noch nicht, die heut zu Tage un-
ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un-
gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig
und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und
uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge-
bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz,
eine rohe Muſik, und nach der damaligen un-
gebildeten Sprache auch einen rohen Ge-
ſang.
Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu-
dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und
ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf-
ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die
trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen
entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh-
re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze:
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rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur,
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/135>, abgerufen am 16.02.2025.
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