Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
aus Münzen unsichrer. Es ist keine Hypothese,
es ist eine von den Kennern der mittlern Zeit
längst angenommene Sache, daß die Reformation
der Wissenschaften wahrhaftig nicht mit einmal los-
gebrochen: sondern lange im Stillen genähert, ge-
wachsen, gereift sey. Und eben dieser Fortgang
des stillen Wachsthums ist der auf Münzen be-
merkbar? Galt hier nicht einmal für alle Herkom-
men, Nationalgeschmack, der bleierne Druck des
Zeitgeistes? unter diesem konnte nicht immer viel
reifender guter Geschmack liegen, der sich nur
nicht äußern dorfte, und am wenigsten ja auf Mün-
zen zuerst äußern konnte? galt wohl auf diesen et-
was mehr, als Herkommen, das Joch des Jahr-
hunderts? Wie viel verliere ich aber in einer Ge-
schichte des Geschmacks, wo ich diese reifenden,
ausbrechenden Saamenkörner verliere? Wie oft
kann ich irren? Wie oft auf das Ganze unzuver-
läßig schliessen?

Endlich die neuere Münzgeschichte, und eben
sie ist die unzuverläßigste auf einer Geschichte des
Geschmacks und der Künste bei ganzen Völkern
und Zeiten. Jn diesen ist die ganze schönere Nu-
misinatik ein Zweig Griechischer und Römischer
Zeiten, in die Geschichte des damaligen Zeitge-
schmacks eingepfropfet; nichts weniger aber, als
ein im Boden des Jahrhunderts selbstgewachsener
Stamm. Bilderschrift, Sprache und Kunst ist

Nach-

Kritiſche Waͤlder.
aus Muͤnzen unſichrer. Es iſt keine Hypotheſe,
es iſt eine von den Kennern der mittlern Zeit
laͤngſt angenommene Sache, daß die Reformation
der Wiſſenſchaften wahrhaftig nicht mit einmal los-
gebrochen: ſondern lange im Stillen genaͤhert, ge-
wachſen, gereift ſey. Und eben dieſer Fortgang
des ſtillen Wachsthums iſt der auf Muͤnzen be-
merkbar? Galt hier nicht einmal fuͤr alle Herkom-
men, Nationalgeſchmack, der bleierne Druck des
Zeitgeiſtes? unter dieſem konnte nicht immer viel
reifender guter Geſchmack liegen, der ſich nur
nicht aͤußern dorfte, und am wenigſten ja auf Muͤn-
zen zuerſt aͤußern konnte? galt wohl auf dieſen et-
was mehr, als Herkommen, das Joch des Jahr-
hunderts? Wie viel verliere ich aber in einer Ge-
ſchichte des Geſchmacks, wo ich dieſe reifenden,
ausbrechenden Saamenkoͤrner verliere? Wie oft
kann ich irren? Wie oft auf das Ganze unzuver-
laͤßig ſchlieſſen?

Endlich die neuere Muͤnzgeſchichte, und eben
ſie iſt die unzuverlaͤßigſte auf einer Geſchichte des
Geſchmacks und der Kuͤnſte bei ganzen Voͤlkern
und Zeiten. Jn dieſen iſt die ganze ſchoͤnere Nu-
miſinatik ein Zweig Griechiſcher und Roͤmiſcher
Zeiten, in die Geſchichte des damaligen Zeitge-
ſchmacks eingepfropfet; nichts weniger aber, als
ein im Boden des Jahrhunderts ſelbſtgewachſener
Stamm. Bilderſchrift, Sprache und Kunſt iſt

Nach-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0102" n="96"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
aus Mu&#x0364;nzen un&#x017F;ichrer. Es i&#x017F;t keine Hypothe&#x017F;e,<lb/>
es i&#x017F;t eine von den Kennern der mittlern Zeit<lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;t angenommene Sache, daß die Reformation<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften wahrhaftig nicht mit einmal los-<lb/>
gebrochen: &#x017F;ondern lange im Stillen gena&#x0364;hert, ge-<lb/>
wach&#x017F;en, gereift &#x017F;ey. Und eben die&#x017F;er Fortgang<lb/>
des &#x017F;tillen Wachsthums i&#x017F;t der auf Mu&#x0364;nzen be-<lb/>
merkbar? Galt hier nicht einmal fu&#x0364;r alle Herkom-<lb/>
men, Nationalge&#x017F;chmack, der bleierne Druck des<lb/>
Zeitgei&#x017F;tes? unter die&#x017F;em konnte nicht immer viel<lb/>
reifender guter Ge&#x017F;chmack liegen, der &#x017F;ich nur<lb/>
nicht a&#x0364;ußern dorfte, und am wenig&#x017F;ten ja auf Mu&#x0364;n-<lb/>
zen zuer&#x017F;t a&#x0364;ußern konnte? galt wohl auf die&#x017F;en et-<lb/>
was mehr, als Herkommen, das Joch des Jahr-<lb/>
hunderts? Wie viel verliere ich aber in einer Ge-<lb/>
&#x017F;chichte des Ge&#x017F;chmacks, wo ich die&#x017F;e reifenden,<lb/>
ausbrechenden Saamenko&#x0364;rner verliere? Wie oft<lb/>
kann ich irren? Wie oft auf das Ganze unzuver-<lb/>
la&#x0364;ßig &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en?</p><lb/>
          <p>Endlich die neuere Mu&#x0364;nzge&#x017F;chichte, und eben<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t die unzuverla&#x0364;ßig&#x017F;te auf einer Ge&#x017F;chichte des<lb/>
Ge&#x017F;chmacks und der Ku&#x0364;n&#x017F;te bei ganzen Vo&#x0364;lkern<lb/>
und Zeiten. Jn die&#x017F;en i&#x017F;t die ganze &#x017F;cho&#x0364;nere Nu-<lb/>
mi&#x017F;inatik ein Zweig Griechi&#x017F;cher und Ro&#x0364;mi&#x017F;cher<lb/>
Zeiten, in die Ge&#x017F;chichte des damaligen Zeitge-<lb/>
&#x017F;chmacks eingepfropfet; nichts weniger aber, als<lb/>
ein im Boden des Jahrhunderts &#x017F;elb&#x017F;tgewach&#x017F;ener<lb/>
Stamm. Bilder&#x017F;chrift, Sprache und Kun&#x017F;t i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Nach-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0102] Kritiſche Waͤlder. aus Muͤnzen unſichrer. Es iſt keine Hypotheſe, es iſt eine von den Kennern der mittlern Zeit laͤngſt angenommene Sache, daß die Reformation der Wiſſenſchaften wahrhaftig nicht mit einmal los- gebrochen: ſondern lange im Stillen genaͤhert, ge- wachſen, gereift ſey. Und eben dieſer Fortgang des ſtillen Wachsthums iſt der auf Muͤnzen be- merkbar? Galt hier nicht einmal fuͤr alle Herkom- men, Nationalgeſchmack, der bleierne Druck des Zeitgeiſtes? unter dieſem konnte nicht immer viel reifender guter Geſchmack liegen, der ſich nur nicht aͤußern dorfte, und am wenigſten ja auf Muͤn- zen zuerſt aͤußern konnte? galt wohl auf dieſen et- was mehr, als Herkommen, das Joch des Jahr- hunderts? Wie viel verliere ich aber in einer Ge- ſchichte des Geſchmacks, wo ich dieſe reifenden, ausbrechenden Saamenkoͤrner verliere? Wie oft kann ich irren? Wie oft auf das Ganze unzuver- laͤßig ſchlieſſen? Endlich die neuere Muͤnzgeſchichte, und eben ſie iſt die unzuverlaͤßigſte auf einer Geſchichte des Geſchmacks und der Kuͤnſte bei ganzen Voͤlkern und Zeiten. Jn dieſen iſt die ganze ſchoͤnere Nu- miſinatik ein Zweig Griechiſcher und Roͤmiſcher Zeiten, in die Geſchichte des damaligen Zeitge- ſchmacks eingepfropfet; nichts weniger aber, als ein im Boden des Jahrhunderts ſelbſtgewachſener Stamm. Bilderſchrift, Sprache und Kunſt iſt Nach-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/102
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/102>, abgerufen am 21.11.2024.