Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder
schauenden Leser widrig seyn muß. Auf einem
andern Schauplatze könnte eben derselbe Leser diese
unchristlichen, gottlosen Geschöpfe der Lügen ganz be-
haglich sehen, und vielleicht eben der Dichter, wenn
er ein Wieland ist, mit Feuer bearbeiten; aber auf
diesen gehören sie nicht "der poetischen Wahr-
"scheinlichkeit
halben." Denn wenn die Maschie-
nen der heidnischen Religion bis zur Täuschung ge-
glaubt werden sollen; wie denn aus eben der Ma-
schiene christliche Wesen? Sie wirken dem anschau-
enden Auge gegen einander, sie heben an Wahr-
scheinlichkeit einander auf.
2. Auch wenn der Dichter allein spricht: so
spreche er in Einem Gedichte von beiden nicht ganz
auf Eine Art; als wenn er an beide gleich glaub-
te,
und sie beide mit einerlei Wahrheit behan-
delte,
Eine Anrufung an den heil. Geist und an
die Kalliope zugleich ist ungereimt; nicht wieder
als Gottlosigkeit, als Sünde wider den heil. Geist,
sondern der poetischen Täuschung halben. Entwe-
der sind beide dem Dichter alsdenn Wesen von glei-
cher poetischen Exsistenz; dies widerspricht sich --
oder beide nur Redezierrath, nur poetische Figuren:
dies beleidigt den Leser noch mehr, denn er kommt
dadurch zu sich zurück, um den Wortkünstler ohne
inneres Wesen und Leben gewahr zu werden -- oder
Eins von beiden hat nur poetische Wahrheit; und
warum steht alsdenn das Andere da? Es hindert
die
Kritiſche Waͤlder
ſchauenden Leſer widrig ſeyn muß. Auf einem
andern Schauplatze koͤnnte eben derſelbe Leſer dieſe
unchriſtlichen, gottloſen Geſchoͤpfe der Luͤgen ganz be-
haglich ſehen, und vielleicht eben der Dichter, wenn
er ein Wieland iſt, mit Feuer bearbeiten; aber auf
dieſen gehoͤren ſie nicht „der poetiſchen Wahr-
„ſcheinlichkeit
halben.„ Denn wenn die Maſchie-
nen der heidniſchen Religion bis zur Taͤuſchung ge-
glaubt werden ſollen; wie denn aus eben der Ma-
ſchiene chriſtliche Weſen? Sie wirken dem anſchau-
enden Auge gegen einander, ſie heben an Wahr-
ſcheinlichkeit einander auf.
2. Auch wenn der Dichter allein ſpricht: ſo
ſpreche er in Einem Gedichte von beiden nicht ganz
auf Eine Art; als wenn er an beide gleich glaub-
te,
und ſie beide mit einerlei Wahrheit behan-
delte,
Eine Anrufung an den heil. Geiſt und an
die Kalliope zugleich iſt ungereimt; nicht wieder
als Gottloſigkeit, als Suͤnde wider den heil. Geiſt,
ſondern der poetiſchen Taͤuſchung halben. Entwe-
der ſind beide dem Dichter alsdenn Weſen von glei-
cher poetiſchen Exſiſtenz; dies widerſpricht ſich —
oder beide nur Redezierrath, nur poetiſche Figuren:
dies beleidigt den Leſer noch mehr, denn er kommt
dadurch zu ſich zuruͤck, um den Wortkuͤnſtler ohne
inneres Weſen und Leben gewahr zu werden — oder
Eins von beiden hat nur poetiſche Wahrheit; und
warum ſteht alsdenn das Andere da? Es hindert
die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <list>
            <item><pb facs="#f0082" n="76"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder</hi></fw><lb/>
&#x017F;chauenden Le&#x017F;er widrig &#x017F;eyn muß. Auf einem<lb/>
andern Schauplatze ko&#x0364;nnte eben der&#x017F;elbe Le&#x017F;er die&#x017F;e<lb/>
unchri&#x017F;tlichen, gottlo&#x017F;en Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe der Lu&#x0364;gen ganz be-<lb/>
haglich &#x017F;ehen, und vielleicht eben der Dichter, wenn<lb/>
er ein Wieland i&#x017F;t, mit Feuer bearbeiten; aber auf<lb/>
die&#x017F;en geho&#x0364;ren &#x017F;ie nicht &#x201E;<hi rendition="#fr">der poeti&#x017F;chen Wahr-<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheinlichkeit</hi> halben.&#x201E; Denn wenn die Ma&#x017F;chie-<lb/>
nen der heidni&#x017F;chen Religion bis zur Ta&#x0364;u&#x017F;chung ge-<lb/>
glaubt werden &#x017F;ollen; wie denn aus eben der Ma-<lb/>
&#x017F;chiene chri&#x017F;tliche We&#x017F;en? Sie wirken dem an&#x017F;chau-<lb/>
enden Auge gegen einander, &#x017F;ie heben an Wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichkeit einander auf.</item><lb/>
            <item>2. Auch wenn der Dichter <hi rendition="#fr">allein</hi> &#x017F;pricht: &#x017F;o<lb/>
&#x017F;preche er in Einem Gedichte von beiden nicht ganz<lb/>
auf Eine Art; als wenn er <hi rendition="#fr">an beide</hi> gleich <hi rendition="#fr">glaub-<lb/>
te,</hi> und &#x017F;ie beide mit <hi rendition="#fr">einerlei Wahrheit behan-<lb/>
delte,</hi> Eine Anrufung an den heil. Gei&#x017F;t und an<lb/>
die Kalliope zugleich i&#x017F;t ungereimt; nicht wieder<lb/>
als Gottlo&#x017F;igkeit, als Su&#x0364;nde wider den heil. Gei&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ondern der poeti&#x017F;chen Ta&#x0364;u&#x017F;chung halben. Entwe-<lb/>
der &#x017F;ind beide dem Dichter alsdenn We&#x017F;en von glei-<lb/>
cher poeti&#x017F;chen Ex&#x017F;i&#x017F;tenz; dies wider&#x017F;pricht &#x017F;ich &#x2014;<lb/>
oder beide nur Redezierrath, nur poeti&#x017F;che Figuren:<lb/>
dies beleidigt den Le&#x017F;er noch mehr, denn er kommt<lb/>
dadurch zu &#x017F;ich zuru&#x0364;ck, um den Wortku&#x0364;n&#x017F;tler ohne<lb/>
inneres We&#x017F;en und Leben gewahr zu werden &#x2014; oder<lb/>
Eins von beiden hat nur poeti&#x017F;che Wahrheit; und<lb/>
warum &#x017F;teht alsdenn das Andere da? Es hindert<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></item>
          </list>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0082] Kritiſche Waͤlder ſchauenden Leſer widrig ſeyn muß. Auf einem andern Schauplatze koͤnnte eben derſelbe Leſer dieſe unchriſtlichen, gottloſen Geſchoͤpfe der Luͤgen ganz be- haglich ſehen, und vielleicht eben der Dichter, wenn er ein Wieland iſt, mit Feuer bearbeiten; aber auf dieſen gehoͤren ſie nicht „der poetiſchen Wahr- „ſcheinlichkeit halben.„ Denn wenn die Maſchie- nen der heidniſchen Religion bis zur Taͤuſchung ge- glaubt werden ſollen; wie denn aus eben der Ma- ſchiene chriſtliche Weſen? Sie wirken dem anſchau- enden Auge gegen einander, ſie heben an Wahr- ſcheinlichkeit einander auf. 2. Auch wenn der Dichter allein ſpricht: ſo ſpreche er in Einem Gedichte von beiden nicht ganz auf Eine Art; als wenn er an beide gleich glaub- te, und ſie beide mit einerlei Wahrheit behan- delte, Eine Anrufung an den heil. Geiſt und an die Kalliope zugleich iſt ungereimt; nicht wieder als Gottloſigkeit, als Suͤnde wider den heil. Geiſt, ſondern der poetiſchen Taͤuſchung halben. Entwe- der ſind beide dem Dichter alsdenn Weſen von glei- cher poetiſchen Exſiſtenz; dies widerſpricht ſich — oder beide nur Redezierrath, nur poetiſche Figuren: dies beleidigt den Leſer noch mehr, denn er kommt dadurch zu ſich zuruͤck, um den Wortkuͤnſtler ohne inneres Weſen und Leben gewahr zu werden — oder Eins von beiden hat nur poetiſche Wahrheit; und warum ſteht alsdenn das Andere da? Es hindert die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/82
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/82>, abgerufen am 03.05.2024.