Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. geglaubt, gefühlt, beherzigt werden. Das ist beieinem jüdischchristlichen Gedichte nicht schlechthin die Frage: ob historisch genau, der Jude seine Af- fekten so gemahlt oder nicht; auf den Fuß wäre vielleicht kein Tod Adams, und kein Tod Abels möglich; sondern ob sie, nach gewissen allgemein angenommenen Voraussetzungen, so haben spre- chen können. -- Jch folge also dem Religionsbe- griffe meiner Zeit, ohne weitere Umwege: wie- fern verträgt er sich mit mythologischen Jdeen? 1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrscht, wo Personen der Dichtung auftreten, können frei- lich nicht Wesen der heidnischen und christlichen Religion neben einander handelnd vorgestellet wer- den; nicht mit einander gleich wesentliche Sub- stanzen zur Handlung des Gedichts seyn. Wenn die Muse und der heil. Geist, ein Gabriel und ein Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him- mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art poetische Exsistenz, poetische Handlung auf dem Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; so stoßen sie sich in unserer Seele. Jhre poetischen Substanzen heben einander auf: mein Auge fährt über ihre beiderseitige Gegenwart zurück: die Täu- schung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck ihrer poetischen Erscheinung. Ein Trauerspiel sol- cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel von Jta-
Kritiſche Waͤlder. geglaubt, gefuͤhlt, beherzigt werden. Das iſt beieinem juͤdiſchchriſtlichen Gedichte nicht ſchlechthin die Frage: ob hiſtoriſch genau, der Jude ſeine Af- fekten ſo gemahlt oder nicht; auf den Fuß waͤre vielleicht kein Tod Adams, und kein Tod Abels moͤglich; ſondern ob ſie, nach gewiſſen allgemein angenommenen Vorausſetzungen, ſo haben ſpre- chen koͤnnen. — Jch folge alſo dem Religionsbe- griffe meiner Zeit, ohne weitere Umwege: wie- fern vertraͤgt er ſich mit mythologiſchen Jdeen? 1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrſcht, wo Perſonen der Dichtung auftreten, koͤnnen frei- lich nicht Weſen der heidniſchen und chriſtlichen Religion neben einander handelnd vorgeſtellet wer- den; nicht mit einander gleich weſentliche Sub- ſtanzen zur Handlung des Gedichts ſeyn. Wenn die Muſe und der heil. Geiſt, ein Gabriel und ein Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him- mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art poetiſche Exſiſtenz, poetiſche Handlung auf dem Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; ſo ſtoßen ſie ſich in unſerer Seele. Jhre poetiſchen Subſtanzen heben einander auf: mein Auge faͤhrt uͤber ihre beiderſeitige Gegenwart zuruͤck: die Taͤu- ſchung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck ihrer poetiſchen Erſcheinung. Ein Trauerſpiel ſol- cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel von Jta-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0080" n="74"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi></fw><lb/> geglaubt, gefuͤhlt, beherzigt werden. Das iſt bei<lb/> einem juͤdiſchchriſtlichen Gedichte nicht ſchlechthin<lb/> die Frage: ob hiſtoriſch genau, der Jude ſeine Af-<lb/> fekten ſo gemahlt oder nicht; auf den Fuß waͤre<lb/> vielleicht kein <hi rendition="#fr">Tod Adams,</hi> und kein <hi rendition="#fr">Tod Abels</hi><lb/> moͤglich; ſondern ob ſie, <hi rendition="#fr">nach gewiſſen allgemein<lb/> angenommenen Vorausſetzungen,</hi> ſo haben ſpre-<lb/> chen koͤnnen. — Jch folge alſo dem Religionsbe-<lb/> griffe <hi rendition="#fr">meiner Zeit,</hi> ohne weitere Umwege: <hi rendition="#fr">wie-<lb/> fern vertraͤgt er ſich mit mythologiſchen<lb/> Jdeen?</hi></p><lb/> <list> <item>1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrſcht,<lb/> wo Perſonen der Dichtung auftreten, koͤnnen frei-<lb/> lich nicht Weſen der heidniſchen und chriſtlichen<lb/> Religion neben einander handelnd vorgeſtellet wer-<lb/> den; nicht mit einander gleich weſentliche Sub-<lb/> ſtanzen zur Handlung des Gedichts ſeyn. Wenn<lb/> die Muſe und der heil. Geiſt, ein Gabriel und ein<lb/> Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him-<lb/> mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art<lb/> poetiſche Exſiſtenz, poetiſche Handlung auf dem<lb/> Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; ſo<lb/> ſtoßen ſie ſich in unſerer Seele. Jhre poetiſchen<lb/> Subſtanzen heben einander auf: mein Auge faͤhrt<lb/> uͤber ihre beiderſeitige Gegenwart zuruͤck: die Taͤu-<lb/> ſchung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck<lb/> ihrer poetiſchen Erſcheinung. Ein Trauerſpiel ſol-<lb/> cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel von<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jta-</fw><lb/></item> </list> </div> </div> </body> </text> </TEI> [74/0080]
Kritiſche Waͤlder.
geglaubt, gefuͤhlt, beherzigt werden. Das iſt bei
einem juͤdiſchchriſtlichen Gedichte nicht ſchlechthin
die Frage: ob hiſtoriſch genau, der Jude ſeine Af-
fekten ſo gemahlt oder nicht; auf den Fuß waͤre
vielleicht kein Tod Adams, und kein Tod Abels
moͤglich; ſondern ob ſie, nach gewiſſen allgemein
angenommenen Vorausſetzungen, ſo haben ſpre-
chen koͤnnen. — Jch folge alſo dem Religionsbe-
griffe meiner Zeit, ohne weitere Umwege: wie-
fern vertraͤgt er ſich mit mythologiſchen
Jdeen?
1. Jn jedem Poem, wo Dichtung herrſcht,
wo Perſonen der Dichtung auftreten, koͤnnen frei-
lich nicht Weſen der heidniſchen und chriſtlichen
Religion neben einander handelnd vorgeſtellet wer-
den; nicht mit einander gleich weſentliche Sub-
ſtanzen zur Handlung des Gedichts ſeyn. Wenn
die Muſe und der heil. Geiſt, ein Gabriel und ein
Apollo, eine Maria aus den Gegenden des Him-
mels, und eine Diane zugleich, auf einerlei Art
poetiſche Exſiſtenz, poetiſche Handlung auf dem
Schauplatze eines heiligen Gedichtes bekommen; ſo
ſtoßen ſie ſich in unſerer Seele. Jhre poetiſchen
Subſtanzen heben einander auf: mein Auge faͤhrt
uͤber ihre beiderſeitige Gegenwart zuruͤck: die Taͤu-
ſchung geht verlohren, und mit ihr der ganze Zweck
ihrer poetiſchen Erſcheinung. Ein Trauerſpiel ſol-
cher Art mag vielleicht noch in einem Winkel von
Jta-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |